Dokumentation einer jugendlichen deutsch-russischen Brieffreundschaft

Dokumentation einer jugendlichen deutsch-russischen Brieffreundschaft

Dokumentation einer jugendlichen deutsch-russischen Brieffreundschaft

Ein Artikel von: Redaktion

Die Veröffentlichung des Briefwechsels Ein deutsch-russischer Briefwechsel, der die NachDenkSeiten-Redaktion tief berührt hat hat positive Folgen. Wir erhielten daraufhin die Dokumentation einer Brieffreundschaft eines russischen und eines deutschen Mädchens bzw. junger Frauen. Auch dieser Briefwechsel ist interessant. Deshalb veröffentlichen wir ihn im Folgenden und danken zugleich der NachDenkSeiten-Leserin Wilma Ruth Albrecht dafür, dass sie uns Text und Fotos zugänglich gemacht hat. Albrecht Müller.

Dein Foto hat mir sehr, sehr gefallen”

Eine jugendliche Brieffreundschaft im “Kalten Krieg”

Wilma Ruth Albrecht

Auch in der Hochzeit des Kalten Krieges gab es Friedensfreunde und Friedensliebende. Sie sandten keine Drohgesten aus. Sondern wollten Kontakte zwischen Menschen ´sozialistisch´ und ´kapitalistisch´ verfasster Gesellschaften pflegen. Dies bezeugt auch ein Briefwechsel zweier Mädchen und jungen Frauen der Jahre 1962-1967. Im alltagskulturellen Sinn des Kultursoziologen Siegfried Kracauers handelt es sich, so Kracauer 1927, um eine der zahlreichen „unscheinbaren Oberflächenäußerungen, durch deren Analyse „der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt […], schlagender zu bestimmen ist als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“

Zur Vergegenwärtigung der damaligen Zeitverhältnisse sei daran erinnert: In den fünfziger Jahren bauten sowohl die USA als auch die UdSSR ein ungeheueres staatliches Atomwaffenarsenal auf.

Im August 1945 hatte das US-amerikanische Militär in der Endphase des Zweiten Weltkrieges erste Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. 300.000 Menschen wurden getötet. Wenig später hatte auch die UdSSR Atomwaffen. Das dokumentierte der erste sowjetische Atomwaffenversuch 1949. Es kam zur Entwicklung von Wasserstoff- oder H-Bomben 1952 in den USA und 1953 in der UdSSR mit vielfach stärkerer Zerstörungskraft als A-Bomben. Entwickelt wurden sodann Trägersysteme für diese Waffen zu Wasser und zur Luft, sodann Interkontinentalraketen. Eine wichtige Rolle spielte im Hochrüstungswettlauf auch die Eroberung des Weltraumes. 1957: erster sowjetischer Erdsatellit Sputnik I., 1961: erster bemannter Raumflug von Juri Gagarin mit der Wostok I.

Parallel zu den beiden Groß- oder Supermächten versuchten auch die alten Groß- und Kolonialmächte sowie die 1949 gegründete neue Volksrepublik China sich als Atommächte zu positionieren. Das Vereinigte Königreich 1952 mit seinem ersten Atomwaffenversuch, Frankreich 1960 mit der ersten französischen Atombombe, schließlich auch China 1961 mit seiner ersten Atombombe.

In der “Kubakrise” im Oktober 1962 erreichte die atomare Konfrontation ihren Höhepunkt: UdSSR und USA standen sich hochgerüstet und drohend in den Gewässern vor der Insel entgegen: der Dritte Weltkrieg drohte.

Gleichzeitig entwickelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg starke nationale Befreiungsbewegungen in Afrika und Asien: die bedeutendsten Konflikte, die auch als Ersatzkriege der Großmächte angesehen werden können, waren Kongo-Krise, arabisch-israelischer Konflikt und Vietnamkrieg.

In Deutschland zeigte sich der Kalte Krieg im Bau der Mauer im August 1961 und der diversen Versuche der von Konrad Adenauer (CDU) geführten Bundesregierung, auch die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten.

In diese Zeit fällt die Brieffreundschaft zwischen Lore aus dem kirgisischen Leninpol und Wilma aus der Industriestadt Ludwigshafen am Rhein.

Ihr brieflicher Austausch ist als persönlich-private und beständig-jahrelange Korrespondenz eine typische Brieffreundschaft zweier gleichaltriger Mädchen in ihrer Lebensphase von der mittleren Pubertät zur beginnenden Adoleszenz: Lore und Wilma sind zu Beginn ihres brieflichen Austausches jeweils 14 Jahre alt und beenden ihre sowohl nahe Ferne als auch ferne Nähe ausdrückende „intimacy-at-a-distance“-Kommunikation nach fünfeinhalt Jahren 1967 als nun zwanzigjährige junge Frauen, die an anderen als ihren Heimatorten studieren. Auch diese Brieffreundschaft wurde, wie damals üblich, pädagogisch-schulisch angeregt als sprach- und umgangskulturelle Erfahrungserweiterung; das bedeutete auch für Wilma als beengt in Arbeiterhaushalt und Bildungsinternat lebendes Mädchen die Öffnung eines ihrer „Fenster zur Welt“.

Die Brieffreundschaft zwischen Wilma aus der Industriestadt am Rhein und Lore aus dem kirgisischen Leninpol beginnt im März 1962 und endet im Oktober 1967, erstreckt sich damit über einen Zeitraum von fünfundhalb Jahren.

Es sind jene Jahre nach dem Sputnikschock 1957 und vor, während und nach der ersten bundesdeutschen „Bildungskatastrophe“ 1964. Wilma war ein sowohl bildungsinteressiertes als auch aufstiegsorientertes Mädchen im (Hand-) Arbeitermilieu der BASF-Stadt Ludwigshafen am Rhein. Sie hatte schon vor der Kampagne „Student aufs Land“ zur Ausschöpfung der sogenannten „Bildungsreserven“, an der sich auch Aktivisten der Humanistischen Union (HU), des Sozialdemokatischen Hochschulbundes (SHB) und des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) beteiligten, ihre „Bildungskarriere“ nach Abschluß der damals achtjährigen Volksschule im März 1962 auf dem speziellen „Bildungsweg“ im Internat eines Aufbaugymnasiums im westpfälzischen Kaiserslautern begonnen. Dort wurde ihr auch 1967 infolge Latein und Französisch die „Allgemeine Hochschulreife“ zugesprochen. Wilma hat vor fünf Jahren im Abschnitt „Die mißlungene Bildungsreform“ im subjektwissenschaftlichen Dokumentaressay ihres 2006 erschienenen Buchs „Bildungsgeschichte/n“ auch daran erinnert.

Wer den sich bald schon zur Brieffreundschaft entwickelnden Briefwechsel vermittelt hatte – ob der evangelische Vikar oder die ehemalige Klassenlehrerin der Volksschule – kann die Wilma heute nicht mehr zu sagen. Sie erinnert sich heute nur noch, dass sie ihn begann und wie er sich in den Briefen, die Lore ihr schrieb, darstellte:

„Mitte März 1962 erhielt Wilma den ersten Brief von Lore, in dem Lore sich vorstellte. Sie sei ebenfalls vierzehn Jahre alt, habe zwei jüngere Schwestern, der Vater arbeite als Deutschlehrer und die Mutter als Hauswirtin. Sie zählte die Schulfächer und ihre Lieblingsfächer Deutsche Literatur und Geschichte auf, schrieb, dass die deutschstämmigen Kinder ab der 2. Klasse die deutsche Sprache lernten, es in ihrer Schule Kinder vieler Nationen gebe und die Notenwertung der in Westeuropa widersprach, weil die schlechteste Zensur die “eins” sei.

Außerdem stellte sie Leninpol als “großes Dorf” mit Schulen, zwei Krankenhäusern, einem Kulturhaus und Läden vor und führte einige russische Worte auf, mit denen man einen Brief einleiten kann.

Im nächsten Brief vom 11.4.1962 ging es erneut um schulische und kulturelle Vorlieben. Sie schrieb, dass sie “für das Lernen nicht zahlen” müsse und “in allen Schulen der UdSSR lernen Jungen und Mädchen in den Klassen zusammen”.

Damit ging sie wohl auf eine Mitteilung Wilmas über das BRD-Schulsystem und ihre Volksschulklasse ein.

Dann zählte sie ihre geschätzten Musiker: Beethoven, Mozart, Bach, Strauß und Tschaikowski auf und schrieb, dass sie “Schauspieler” sammle.

Ferner fügte sie die Adresse einer Mitschülerin an, die ebenfalls eine Brieffreundschaft mit einer westdeutschen Schülerin aufnehmen möchte, und legte zwei Fotos von sich bei.

Wilma musste wohl einen neuen Briefkontakt vermittelt haben, denn im Brief vom 10.6.1962 teilt Lore mit, dass sie nicht wisse, ob Frieda “einen Brief von Deiner Freundin bekommen hat.“

Wilma erfuhr, dass es in Kirgisien drei Monate (vom 1.6.-1.9) Sommerferien gebe und kirchliche Feste nicht gefeiert werden, denn:

“Man kämpft in der Sowjetunion gegen die Religion.”

Ansonsten zeigte sich, dass das Schulleben in der UdSSR etwa dem in Deutschland entsprach, allerdings gebe es keine Wandertage, dagegen Konzertveranstaltungen für die Bevölkerung.

Lore charakterisierte auch ihre heimatliche Landschaft mit Bergen, dem Fluss Talas und dem Talaswald sowie das Klima, das im Sommer über 30° Celsius erreiche.

In der Zwischenzeit muss Wilma ein Foto von sich an Lore gesandt haben, denn im Antwortbrief vom 11.8.1962 heißt es: “Dein Foto hat mir sehr, sehr gefallen.”

Allerdings könne sie Wilmas Einladung zu sich nicht wahrnehmen.

Dann teilt sie mit, dass sie Akkordeon lerne und mit ihrer Schwester auch ein bisschen Klavier spiele und fragt, ob es in Westdeutschland Noten zur Begleitung für Akkordeon von Musikstücken von J. Strauß, Mozart, Beethoven oder Weber gebe.

Wilma hatte ihr geschrieben. dass sie “Unsere kleine Stadt” von T. Wilders gelesen habe, denn Lore geht darauf ein, sie kenne das Stück nicht, sie lese “Anna Karenina” von L. Tolstoi, das habe ihr “sehr gefallen”.

Fast zwei Monate später erhält Wilma wieder einen Brief, datiert vom 30.9.1962. In ihm teilt Lore mit, dass ihre Schauspieleridole Gérard Philip und Gina Lollobriggida seien und dass in ihrer Heimat “fast immer gute Filme” vorgeführt würden, der letzte Film “Mutter Indien” sei ein “wunderschöner Film”.

Opernhaus von Frunse, Hauptstadt der Kirgisischen SSR

Das Thema Film wurde auch im nächsten Brief, datiert am 25.11.1962, wieder aufgegriffen. Wilma musste Lore wohl geschrieben haben, dass sie den Film “Wenn die Kraniche ziehen” interessant und gut gefunden habe, denn Lore bedauert, dass sie ihn nicht kenne. Sie habe aber die Verfilmung von Mozarts “Don Juan” und Homers “Wanderungen des Odysseues” gesehen.

Außerdem lese sie Turgenjews “Rudin” und habe einen Aufsatz über das Drama “Gewitter” von Ostrowski verfasst.

Das Päckchen mit den gewünschten Musiknoten, das ihr Wilma angekündigt hatte, habe sie noch nicht erhalten.

Sie erhielt es später, denn in einer Briefkarte bedankte sie sich für “die Straußwalzer”.

Entweder wurde der Briefwechsel in den Jahren 1963/64 unterbrochen oder die Briefe sind verloren gegangen.

In Wilmas Sammlung findet sich erst wieder ein Brief, der mit 9.12.1964 datiert ist.

Wahrscheinlich hatte Wilma den Briefkontakt wieder aktiviert. Dabei hatte sie auch mitgeteilt, dass es bei der Übersendung von Päckchen und Paketen Schwierigkeiten gegeben habe, weshalb Lore meinte: “Mach dir nur darüber keine Sorgen. Du brauchst mir nichts zu schicken. Das haupte sind ja die Briefe.”

In ihrem Brief hatte ihr Wilma auch einige Herbstgedichte beigelegt, denn Lore geht auf Hesse und Rilke ein. Auch sie legte nun ihrem Brief Herbstgedichte, die sie selbst ins Deutsche übersetzt hatte, bei, wie “Herbst” von Rudolf Jacquemin, “Herbstgedanken” von Edmund Günter, “Das Laub” von Heinrich Kämpf und “Herbstblätter” von Alexander Henning.

Auch hatte Wilma darauf verwiesen, dass sie klassische Musik, besonders die Beethovens, liebe, denn Lore schreibt: “Ich habe diesen Komponisten, diesen stolzen Menschen, immer mehr lieb.”

In diesem Brief teilte Lore auch mit, dass in der Organisation der Schulzeit, Klasse 11, Veränderungen vorgenommen und wieder rückgängig gemacht worden seien.

Bezüglich des anstehenden Jahreswechsels erinnert sie, dass in der UdSSR nicht Weihnachten, sondern Neujahr gefeiert werde: “Dann schmücken wir die Tanne, bekommen Geschenke. In der Schule gibt es festliche Schülerabende. Ich freue mich schon darauf!”

Dann erfährt Wilma von Lore, dass diese nächstes Jahr etwa zur gleichen Zeit sich in Nowosibirsk in Sibirien aufhalten werde, denn sie beabsichtige, an der Pädagogischen Hochschule an der Fakultät “Deutsche Sprache und Deutsche Literatur” zu studieren. Zuletzt erfolgt eine Art Wetterbericht, demnach sei es in Kirgisien sehr kalt geworden: “heute morgen war es -28° Celsius.”

Im darauffolgenden Brief vom 31.1.1965 bedankt sich Lore für einen Ausschnitt über den Limburger Dom, den ihr Wilma geschickt hatte. Sie teilt auch mit, dass sie Viktor Hugos “Notre Dame le Paris” lese.

Ihrem Schreiben legt sie wieder Gedichte, “typische Gedichte für die sowjetische Poesie”, bei: “Romantischer Gebirgspaß” von Mumin Kanvatow, “Hand in Hand” von Samuil Marschak, “Wie Morgenschnee” von Konstantin Mursidi, “Dein Fenster flimmert dort..” und “Junge Birke” von Stephan Stschipatow und “Schritte bergan” von Nikolai Arsejew.

Da sie von ihrer DDR-Brieffreundin über die “Beatles” informiert worden sei, fragt sie an, ob die wirklich so populär seien und ob sie ein Foto von der Gruppe bekommen könne.

Zuletzt erfährt Wilma, dass ein Onkel von Lore in München, wo er während des Krieges hingekommen sei, wohne.

Zu ihrem 18. Geburtstag erhält Wilma eine Glückwunschkarte mit der Mitteilung, dass Lore mitten in den Abiturprüfungen stecke und den Wunsch habe, “den Loreleyfelsen und den romantischen Rhein” zu sehen.

Im Oktober hatte sich Lores Adresse geändert, denn sie war tatsächlich nach Nowosibirsk zum Studium gegangen. In ihrem Brief vom 19. Oktober 1965 teilt sie Wilma mit, dass sie nun schon drei Monate in der sibirischen Stadt wohne, viele Menschen kennen gelernt, einen Monat bei der Kartoffelernte im Kolchos gearbeitet habe und in folgenden Studienfächer unterrichtet werde: “Deutsch (Lexik, Phonetik u. Grammatik), Ausländische Literatur (jetzt Griechische und Römische, später Deutsche Lit.), Latein, Psychologie, Geschichte der Kommunistischen Partei der SU, Russisch, russische Literatur, Sprachlehre, Literaturkunde (dies vom 2. Semester), Medizin und Sport.” Das Studium dauere vier Jahre.

Des weiteren habe sie noch freiwillig Musikunterricht genommen, um nach drei Jahren als “Schulchormeister” abzuschließen.

Ihre Lerngruppe umfasse zehn Mädchen und einen Jungen und sie lebe mit vier Mädchen zusammen auf einem Zimmer im Studentenheim. Außerdem lobt sie ihre Eltern als “goldene Menschen”.

Umfassend wird die Stadt Nowosibirsk beschrieben:

“Schön ist sie am Abend, wenn sie mit Lichter beleuchtet ist. Das schönste ist wohl das Operntheater. Mit der ganzen Truppe waren wir auf die Tragödie ´Medea` gegangen. Es hat uns sehr gut gefallen. Es wurde vom Moskauer Theater aufgeführt, in der Hauptrolle die Schauspielerin Kosyzewa. Sie machte ihre Sache sehr gut. Sehr gefiel mir auch der Saal mit einem großen, herrlichen Kronleuchter. 16 Statuen der Musen und Götter stehen ringsum. Das Theater ist das größte in der SU. Schön ist auch das Operettentheater, das Kinotheater ´Popeda` (Sieg), der Stadtpark der Helden der Revolution; sehr schön ist es im Akademiestädtchen, wo fast nur Gelehrte leben und Studenten.”

Wahrscheinlich hatte Wilma Lore über die Bundestagswahlen 1965 informiert; denn Lore meinte, dass sie Politik doch interessiere und darüber mehr wissen wolle. Abschließend bedauert sie, keine Möglichkeit zu haben, um Musik zu hören, und für ein paar Tage nach Leninpol fahren werde.

Dem Brief liegen zwei Fotos bei: ein Passfoto, auf dem eine blonde, attraktive, junge Frau abgebildet ist, und eine Ansichtskarte von Nowosibirsk.

Im Dezember 1965 erhält Wilma dann noch eine Weihnachtskarte.

In ihrem Antwortbrief hatte Wilma Lore über das Leben der Jugend in ihrem Land geschrieben, denn Lore bezieht sich in ihrem Brief vom 19.2.1966 darauf.

Dann erzählt sie von ihrem Heimatbesuch in Leninpol.

Wilma muss ihr im Antwortbrief über Picassos Kunst geschrieben haben, denn Lore geht am 12.6.1966 darauf ein.

Außerdem fragte sie Wilma, womit sie ihr eine Freunde in Form eines Geschenkes aus der Sowjet-Union machen könne. Sie würde ihr gerne einen großen Blumenstrauß zukommen lassen, doch in Sibirien wachsen bekanntlich keine. Die, die man kaufen könne, kämen alle aus Mittelasien und der Krim.

Zudem erfährt Wilma, dass Lore zusammen mit ihrer Freundin Lilli den sowjetischen Film “Monat Mai” und den amerikanischen Film “Wahnsinnige Welt” im Kino gesehen habe.

In der Zwischenzeit hatte Wilma Lore einige Bücher zugesandt, denn in ihrem Brief vom 8.8.1966 bedankt sich Lore dafür. Dann erzählt sie von ihrem geliebten Kirgisien, das sie nach den Abschlussprüfungen im Sommer wieder besucht hatte.

Außerdem bittet sie Wilma um eine Meinungsäußerung und Wertung über das von ihr verfasste Lied “So wie ich bin”, das sie als Notenblatt beilegt. Das Lied beginnt so:

„Nimm mich so, nimm mich so, wie ich bin, alles gebe ich für dich, mein Lieber, hin. Lieb mich so, lieb mich so, wie ich bin, dann erst hat für mich das Leben einen Sinn.“

Dann werden Zukunftspläne erwogen:

“Wahrscheinlich komme ich in ein sibirisches Dorf. Nun, dann kann ich dort sehr viel machen – Kulturarbeit unter der Bevölkerung leisten, in der Schule die Laienkunst auf die Beine bringen, vielleicht einen Chor organisieren. Arbeit wird´s geben. Die Energie wird mir ja auch nicht fehlen.”

Auch fragt sie nach, ob Wilma nicht Bekannte habe, die auch eine Brieffreundschaft mit einer ihrer Mitstudentinnen aufnehmen wollen.

Der letzte Brief, den Wilma von Lore erhält, kommt aus Riga und ist mit 7. Oktober 1967 datiert. Lore schreibt, dass ihre Eltern nach Lettland umgezogen seien und sie selbst sich an der Universität Riga eingeschrieben habe. Dort lerne sie nun auch Englisch und Lettisch.

Anschaulich wird die Reise von Kirgisien nach Riga beschrieben:

“Der Zug fuhr durch Kirgisien, dann durch die Wüsten und Steppen Kasachstans. Da war es schrecklich heiß zu fahren, und nichts Grünes zu sehen. Dann wurde es schon grüner näher zum Ural. Und am zweiten Tag konnten wir uns schon an der schönen Uralgegend ergötzen, sahen die Wolga. Drei Tage und Nächte fuhr der Zug bis Moskau. Wir nutzten auch da die Zeit: gingen durch Moskau, kamen zum Roten Platz, sahen den Kreml. Am Abend fuhr uns der Zug aus Moskau fort und am nächsten Morgen kamen wir in Riga an.”

Riga gefalle ihr, besonders der Kontrast alter und neuer Bauten: “Und was mir noch auffällt: in Sibirien waren die Menschen offener, freiherziger, freundlicher. Hier sind sie sehr verschlossen.”

Der Abschied von Nowosibirsk sei ihr deshalb schwer gefallen. Das von Wilma verfasste Gedicht finde sie gut.

Sie selbst legte dem Brief noch zwei selbst verfasste und nun gedruckte Lieder aus dem Jahr 1966 und ein neues Foto von ihr bei.

Lore schrieb, ihr Lebensmotto laute:

´Das alte nicht vergessen und schätzen

Aber auch das Neue kennen und lieben.´“

Warum der Briefwechsel endete, erinnert Wilma heute, nach mehr als vierzig Jahren, nicht mehr. Wichtig/er ist ihr, dass er überhaupt stattfand – zeigt er doch, dass sich hier junge Leute verschiedener Kulturen und Gesellschaftssysteme kennen und verstehen lernen wollten. Und auch verstehen lernen konnten.

Der Briefwechsel gibt aber auch Auskunft über das Leben junger Leute in den sechziger Jahren: über ihre Ängste und Bedrängnisse, über ihre Träume und Hoffnungen, über ihre Vorlieben und Hobbies, über ihre kulturelle Neigungen und über ihre Zukunftshoffnungen.

Die Brieffreundschaft Lore–Wilma aus den Jahren 1962 bis 1967 vermittelt schließlich Einblicke in eine – heute unwiederruflich vergangene – alltägliche Briefkultur mit ihren menschlichen Umgangsformen. Diese Brieffreundschaft dokumentiert angesichts des geschichtlichen Hintergrunds auch eine alltagspraktisch wirksame humanitas mit ihrer – so der Soziologe Georg Simmel – besonderen „Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält“. Und diese Brieffreundschaft erinnert an zwei Brieffreundinnen, in deren „Innerstem“ es auch in verdammt Kalten Zeiten – so die Autorin Anna Seghers – „etwas gab, was unangreifbar war und unverletzlich“.

Dr. Wilma Ruth Albrecht (*1947 in Ludwigshafen/Rhein) ist Historikerin mit Arbeitsschwerpunkten Architektur-, Politik- und Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Letzterschienene Buchveröffentlichung ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts (4 Bände, Verlag freiheitsbaum: Edition Spinoza, 2016/19; dhubw.de/611-1-edition-spinoza); mehr zur Autorin

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