Der „Entscheidungsprozess“ der Bundesregierung im Rahmen der militärischen Unterstützung der Ukraine

Der „Entscheidungsprozess“ der Bundesregierung im Rahmen der militärischen Unterstützung der Ukraine

Der „Entscheidungsprozess“ der Bundesregierung im Rahmen der militärischen Unterstützung der Ukraine

Ein Artikel von Jürgen Hübschen

Hat die Bundesregierung noch vor wenigen Monaten kategorisch ausgeschlossen, eindeutige Offensivwaffen in die Ukraine zu liefern, ist diese Position in der aktuellen „Taurus-Debatte“ bereits am Bröckeln. Dieses schrittweise Aufgeben klarer Positionen und das fortwährende Überschreiten roter Linien hat System. Jürgen Hübschen hat für die NachDenkSeiten die bisherigen „Entscheidungsprozesse“ zu Waffenlieferungen in die Ukraine analysiert und wirft dabei auch einen kritischen Blick auf die „Taurus-Debatte“.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der „Entscheidungsprozess“ der Bundesregierung – wenn man ihn überhaupt als einen solchen bezeichnen will – im Zusammenhang mit der militärischen Unterstützung der Ukraine verläuft seit Kriegsbeginn immer nach demselben Schema, das nachstehend in Erinnerung gerufen werden soll.

Keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete

Vorab noch einmal ein Hinweis auf die bisherige grundsätzliche Haltung der deutschen Regierungen, nämlich keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern. Daran hat sich offiziell nichts geändert. Doch im Verlauf der militärischen Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland wurde diese Position durch die amtierende Bundesregierung aufgegeben. Dieser Prozess gestaltete sich wie folgt.

Die veränderte Haltung der Bundesregierung von einem strikten Nein bis zur militärischen Unterstützung der ukrainischen Gegenoffensive

Diese Entwicklung verläuft eigentlich immer nach demselben Muster, nämlich von einem „Nein“ über ein „Ja, aber“ zu einem „Ja“. Dafür nachstehend die wichtigsten Beispiele:

Nein

Am Anfang stand ein striktes Nein zur militärischen Unterstützung der Ukraine, unter Hinweis auf den Grundsatz, keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern. Auf der Basis von politischer Neutralität wollte man u.a. die Option wahren, in diesem Krieg eventuell als europäischer Vermittler zu agieren, um ihn möglichst schnell zu beenden.

Nein zur Lieferung letaler Waffen

Diese Position wurde sehr schnell aufgegeben zu Gunsten einer militärischen Unterstützung der Ukraine mit der Lieferung von Ausrüstung zur Selbstverteidigung. Dazu gehörten nicht nur die Stahlhelme, über die in den Medien mehr oder weniger süffisant und spottend berichtet wurde, sondern auch Sanitätsmaterial, spezielle Ausrüstung zum Schutz vor einem möglichen Angriff mit chemischen Waffen und andere Komponenten für die persönliche Schutzausrüstung der ukrainischen Soldaten.

Auch dieser zurückhaltende Ansatz wurde relativ schnell aufgegeben, weil es immer mehr innenpolitische Kontroversen gab und auch der Druck aus dem Ausland deutlich zunahm.

Nein zur Lieferung schwerer letaler Waffen

Der nächste Schritt auf dem Weg der militärischen Unterstützung war die Lieferung von letalen Waffen, aber nur für den persönlichen Einsatz der Soldaten. Dazu gehörten Gewehre, Maschinengewehre und z.B. auch Handgranaten. In einem zweiten Schritt wurde die persönliche Bewaffnung der Soldaten durch Panzerfäuste und Fliegerfäuste ergänzt. Letztere sind Schulterwaffen des einzelnen Soldaten, die nicht gegen Panzer, sondern gegen Hubschrauber oder tief fliegende Kampfflugzeuge zum Einsatz kommen.

Nein zu schweren Waffen, die nicht der Verteidigung dienen

Es dauerte nicht lange, da wurde auch diese Position aufgegeben, wobei schwere Waffen eigentlich nur theoretisch in Verteidigungs- und Offensivwaffen eingeordnet werden können. Dazu gehörten im konkreten Fall die gelieferten „Panzerhaubitzen 2000“ und vor allem die Schützenpanzer „Marder“. Anders verhielt es sich mit den schweren Waffen zur Luftabwehr, die man konkret als Verteidigungswaffen bezeichnen kann. Dazu gehörten der Flak-Panzer „Gepard“, das taktische Luftverteidigungssystem „IRIS-T SLM“ und auch das Flugabwehrraketensystem „Patriot“.

Zusätzlich zur Lieferung dieser schweren Waffen wurden jetzt auch ukrainische Soldaten in Deutschland an diesen Waffen ausgebildet, obwohl der wissenschaftliche Dienst des Bundestages festgestellt hatte, dass Deutschland dadurch in eine Grauzone geraten würde, was seinen möglichen Status als Kriegspartei angeht.

Nein zu Kampfpanzern im Alleingang

Auch auf ein zunächst kategorisches „Nein“ zur Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine kam es letztlich doch zu einem „Ja“, wenn auch unter einer wenig überzeugenden einschränkenden Bedingung.

Weil der politische Druck, vor allem aus der Ukraine, immer stärker wurde, auch den deutschen Kampfpanzer „Leopard 2“ zu liefern, flüchtete sich die Bundesregierung in die Position, dieser Forderung nur nachzugeben, falls auch die USA den Kampfpanzer „M1 Abrams“ der Ukraine zur Verfügung stellen würden. Die USA sicherten das grundsätzlich zu, verwiesen allerdings darauf, dass das wohl erst zum Jahresende 2023 möglich sein würde. Der Grund dafür sei, dass man ein neues Modell produzieren würde, dessen Panzerung nicht identisch mit dem „Original“ sein solle. Man fürchtete, dass die Russen einen „echten“ M1 Abrams“ erobern könnten und dann in der Lage wären, die materielle Zusammensetzung der Panzerung zu entschlüsseln. Die Bundesregierung begnügte sich mit dieser grundsätzlichen Zusage der USA und lieferte jetzt nicht nur Kampfpanzer vom „Typ Leopard 1“, sondern auch den deutlich moderneren „Leopard 2“ und war sogar bereit, eine sogenannte „Panzer-Koalition“ zu leiten. Auch für die Kampfpanzer wurden die zukünftigen ukrainischen Besatzungen in Deutschland ausgebildet.

Mit der Lieferung von Kampfpanzern war die Position der Bundesregierung, nur Defensivwaffen zu liefern, de facto Makulatur geworden, auch wenn manche sogenannte Experten behaupten, die beste Verteidigungswaffe gegen angreifende Panzer seien eigene Panzer.

Nein oder vielleicht doch jetzt ein „Ja“ zur Lieferung von eindeutigen Offensivwaffen?

Zum Zeitpunkt dieses Artikels intensiviert sich die Diskussion, ob die Bundesregierung die Lieferung des Flugkörpers „Taurus“ an die Ukraine genehmigt. Aus einem erneut kategorischen „Nein“ mit der eindeutigen Begründung, keine Waffen zu liefern, mit denen die Ukraine Ziele in Russland angreifen könne, ist bereits eine kontroverse Diskussion in Richtung eines „Ja“ entstanden. Auslöser war neben den üblichen selbsternannten parteipolitischen Experten in Deutschland erneut die Forderung der Ukraine mit dem mittlerweile bekannten Argument, dass diese Waffe Leben retten und den Krieg verkürzen würde.

„Taurus“ ist ein Flugkörper mit einer Reichweite bis zu 500 km, der von einem Kampfflugzeug eingesetzt wird und auf Grund seines Gefechtskopfs auch geeignet ist, schwere Betonarmierungen zu zerstören. Da die Ukraine ausschließlich über ehemalige sowjetische Flugzeugmuster verfügt, müsste einer dieser Typen für den Einsatz der „Taurus“ modifiziert werden. Da etwas Ähnliches bereits für den Einsatz des britischen Flugkörpers „Storm Shadow“ bei dem sowjetischen Flugzeugmuster S-24 erfolgreich praktiziert wurde, ist davon auszugehen, dass diese Anpassung auch für den „Taurus“ möglich sein wird.

Die letzte Hilfskonstruktion in der Argumentation der Bundesregierung, eine bestimmte Waffenart nicht im Alleingang an die Ukraine zu liefern, wurde von den Befürwortern der schweren Waffen für die Ukraine unter Hinweis auf die schon erfolgte Auslieferung der britischen „Storm Shadow“ und möglicherweise auch der französischen „SCALP EG“ umgehend ausgehebelt. Da der „Taurus“ aber eine deutlich größere Reichweite hat, will man diese angeblich vor der Lieferung an die Ukraine auf technischem Wege reduzieren.

In Kenntnis dieser Entwicklungen ist davon auszugehen, dass auch beim „Taurus“ das ursprüngliche „Nein“ der Bundesregierung letztlich zu einem „Ja“ werden wird.

Zusammenfassende Bewertung

Man kann durchaus kontrovers darüber diskutieren, ob man die Ukraine umfassend militärisch unterstützen sollte oder nicht, aber es ist sicherlich falsch, seine politische Position ständig zu verändern. Das ist besonders unverständlich, wenn diese Veränderung nicht aus politischer Überzeugung der Bundesregierung und vor allem des Bundeskanzlers passiert, sondern auf innenpolitischen Druck durch die Opposition, aber auch aus den Regierungsparteien selbst und vor allem durch massive Einflussnahme von außen.

Aus meiner Sicht war es bereits ein Fehler, die grundsätzliche Position, keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern, aufzugeben, weil man dadurch ohne Not ein wichtiges und wohlbegründetes Prinzip über Bord geworfen hat und die Chance auf eine diplomatische Vermittlerrolle aus der Hand gegeben hat.

Weil man sich – aus welchen Gründen auch immer – für diese grundsätzliche Haltungsänderung entschieden hat, wäre eine stringente und dadurch auch kalkulierbare Position unbedingt erforderlich gewesen. Das ist leider nicht passiert, und dadurch ist nicht nur deutlich geworden, dass die Regierung überhaupt keine Ukraine-Strategie hat, sondern, dass auch eine Definition des Ziels ihres politischen Handelns fehlt. Das aktuell praktizierte „Solange wie nötig, egal, was es kostet“ ist dazu keine Alternative.

Statt einer nach kontrovers geführter Debatte gefundenen Empfehlung des Bundestags zu folgen, orientiert sich die Regierung an den Meinungen einzelner Abgeordneter und/oder häufig populistischen Aussagen irgendeiner Partei, sowohl aus der Regierung als auch aus der Opposition. Irgendwelche, häufig auch noch wenig fundierte Aussagen von selbsternannten politischen Experten in den sogenannten social medias scheinen die Regierung offensichtlich mehr zu beeindrucken als die Vorschläge von kompetenten Beratern und/oder engagierten Parlamentariern. Der daraus entstehende Druck erhöht sich noch dadurch, dass viele Medien derartige Statements und Einzelmeinungen gern aufgreifen und in ihrer Wirkung potenzieren.

Der Bundeskanzler muss sich als derjenige, der die Richtlinien der Politik bestimmt, vorwerfen lassen, dass jemand, der ausschließlich reagiert statt selbst initiativ zu werden, letztlich zu wenig oder überhaupt nicht führt.

In der Ukraine, aber auch bei unseren Verbündeten und wohl auch in Moskau ist der Eindruck entstanden, dass, wenn in und auf Deutschland nur genügend Druck aufgebaut wird, diese Regierung sich letztlich willfährig zeigt, eigene Positionen aufzugeben und sich stattdessen den Vorstellungen anderer unterzuordnen.

Fazit: Das ist – gelinde gesagt – fatal und schadet dem Ansehen Deutschlands bei Freunden und Gegnern gleichermaßen.

Das ist das Eine, das Andere ist die Befürchtung, dass diese Entwicklung auch nach der Lieferung von „Taurus“ anhält und eine weitere Drehung der Eskalationsschraube nicht auszuschließen ist. Dabei müssten doch alle Akteure mittlerweile begriffen haben, dass die „westlichen“ Waffenlieferungen weder das Leid der ukrainischen Bevölkerung und/oder die Zerstörung des Landes verringert oder die Durchschlagskraft der ukrainischen Offensive verbessert haben, sondern immer eine Ausweitung der russischen Angriffe zur Folge hatten.

Wie wäre es deshalb – mal statt eines kategorischen „Nein“ der Bundesregierung zur Lieferung weiterer und immer schwererer Waffen, das über kurz oder lang letztlich immer wieder ein „Ja“ geworden ist – mit einem klaren „Ja“ zu einer diplomatischen Initiative, verbunden mit einem entsprechenden deutschen Vorschlag zu einem Waffenstillstand und einer darauf basierenden Friedensordnung?

Titelbild: AlexLMX/shutterstock.com

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