Stimmen aus Ungarn: Baldiger Ukraine-Beitritt schwächt EU

Stimmen aus Ungarn: Baldiger Ukraine-Beitritt schwächt EU

Stimmen aus Ungarn: Baldiger Ukraine-Beitritt schwächt EU

Ein Artikel von Éva Péli

Die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) wollen mit der Ukraine Verhandlungen über einen EU-Beitritt aufnehmen. Diese Entscheidung wird in vielerlei Hinsicht die Zukunft Europas beeinflussen. Doch aus Expertensicht ist die EU zu einer Erweiterung nicht bereit und die Ukraine nicht fähig, die Aufnahmekriterien zu erfüllen. Was könnte die EU stattdessen jetzt tun? Von Éva Péli.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Die Europäische Union würde gegen ihre eigenen Prinzipien und die Gesetze verstoßen, die sie bisher festgelegt hat, wenn sie auf die Kopenhagener Kriterien für die Eröffnung von Beitrittsverträgen verzichten würde.” Das schreibt der ehemalige ungarische Europa-Parlamentarier Hegyi Gyula (MSZP – Ungarische Sozialistische Partei) in einem Beitrag für das ungarische Nachrichtenportal index.hu.

Am 14. und 15. Dezember will der Europäische Rat entscheiden, ob mit der Ukraine Verhandlungen über einen EU-Beitritt aufgenommen werden sollen. Aber die EU ist aus Sicht von Hegyi nicht bereit für die Erweiterung. Wenn sie sich nicht schwächen will, darf sich die EU Berichten zufolge nicht ohne Reform vergrößern. Das sehen mehrere EU-Länder so, doch spricht das nur der als „Spielverderber” bekannte ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán laut aus.

Der Politologe und Publizist Hegyi macht darauf aufmerksam, dass nach den sogenannten Kopenhagener Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft das Vorhandensein einer stabilen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in dem Land eine Voraussetzung für den Beginn der Verhandlungen ist. Dazu gehören auch „die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und der Schutz von Minderheitenrechten”.

Diese müssen jedoch vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gewährleistet sein, betont Hegyi.

Und jeder, der die Realität objektiv und unvoreingenommen betrachtet, muss zugeben, dass die Ukraine heute keine stabile Demokratie ist, dass ihre Institutionen entweder nicht vorhanden oder schwach sind und dass sie die Rechte von Minderheiten nicht garantiert.“

Das Land hat Oppositionsparteien und eine der größten Kirchen verboten, das Militär zensiert. Die Regierung plant, fällige Wahlen zu annullieren, und schränkt den Gebrauch von Sprachen der Minderheiten stark ein. Die Ukraine befindet sich im Krieg und führt einen blutigen und zerstörerischen Kampf um die Verteidigung ihres Territoriums, so Hegyi.

So lange der Krieg andauert und die Größe des von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiets sowie die Zahl der Bevölkerung unbekannt bleiben, schreibt der Ex-EU-Parlamentarier, seien sinnvolle Beitrittsverhandlungen schwer vorstellbar.

Ein erzwungener Waffenstillstand birgt die Gefahr, dass der Krieg jederzeit wieder aufflammt und die EU noch stärker in den Krieg verwickelt wird als jetzt.”

Aus Sicht des Politikers war der gesamte Prozess der EU-Osterweiterung teilweise durch geopolitische Interessen des Westens motiviert. Die Existenz eines demokratischen Staates sei jedoch überall eine Voraussetzung gewesen. Kroatien konnte erst 2005, zehn Jahre nach dem Ende des Krieges gegen Serbien, mit einer stabilen Demokratie und stabilen Grenzen Beitrittsverhandlungen aufnehmen. Zypern musste sogar 30 Jahre nach der türkischen Invasion warten, bevor die südliche Hälfte des Landes der EU beitreten konnte.

Eine ernsthafte und großzügige Unterstützung des Wiederaufbaus des Landes nach dem Ende des Krieges sei begründet. Aber die Ukraine sei heute keine stabile Demokratie und auch kein stabiler Staat, betont er.

Die politischen Bedingungen für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine werden laut Hegyi erfüllt sein, wenn sie eine dauerhafte Einigung mit Russland erzielt, vorzugsweise mit internationalen Garantien. Er ist der Ansicht, dass die EU jetzt der Ukraine helfen soll, einen dauerhaften Frieden zu erreichen. Aus Sicht des Politikers hat Russland kein Interesse an einem schnellen Frieden mit der Ukraine und betont seinen Friedenswillen vor allem, um die russische Öffentlichkeit und den Globalen Süden für sich zu gewinnen.

Die kriegerischen Erklärungen der EU, die zunehmend ohne echte militärische Unterstützung auskommen, dienen Moskau ungewollt diesem Zweck, kritisiert der Politiker. Eine Friedensinitiative, hinter der das politische und wirtschaftliche Gewicht von 27 Mitgliedstaaten steht, könnte Moskau aus seiner Sicht jedoch nur schwer ablehnen. Er weist auf die führenden Politiker der EU hin, die behaupten, dass der Frieden nur von der ukrainischen Führung initiiert werden könne.

Doch als die Ukrainer im vergangenen Frühjahr kurz vor einer Einigung mit Russland standen, überredete der Westen sie, den Frieden abzulehnen und den Krieg fortzusetzen.”

Hegyi findet es heuchlerisch, jetzt zu behaupten, die Ukrainer wollten nicht mit Moskau verhandeln.

Die Europäische Kommission möchte auch mit Moldawien Beitrittsverhandlungen aufnehmen. Auch die Republik Moldau ist Berichten zufolge bereit, der EU beizutreten, ohne die Rückeroberung des von Russland kontrollierten Transnistriens zu erzwingen. Laut Hegyi will das Land das gesamte Problem verschleiern, um die EU-Mitgliedschaft zu erlangen. Moldawien sei seit vielen Jahren Schauplatz eines erbitterten politischen Kampfes zwischen prowestlichen und prorussischen Kräften. Auch die Wiedervereinigung des Landes mit Rumänien steht laut dem ehemaligen EU-Abgeordneten auf der Tagesordnung. Moldawien ist das ärmste Land Europas, und seine Demokratie kann nur unter Vorbehalt als stabil bezeichnet werden, so der Publizist. Doch:

Die Mitgliedschaft der Ukraine und der Republik Moldau wird die Europäische Union sicher nicht wirtschaftlich stärker machen, sondern politisch und militärisch könnte sie sich einem Kriegsgebiet annähern.”

Indem sie den Beitritt Serbiens und der Türkei verzögere beziehungsweise ablehne, beraube sie sich selbst wirtschaftlicher Vorteile und geopolitischen Gewichts, stellt Hegyi klar. Belgrad und Ankara würden eine unabhängigere Europäische Union bedeuten, die eine ausgewogenere Rolle zwischen den USA, China und Russland spielt. Diejenigen, die den Beitritt der beiden erstgenannten Länder unterstützen und die beiden letztgenannten ablehnen, sagen auch Nein zu dieser Unabhängigkeit, fügt er hinzu.

Titelbild: Shutterstock / Alexandros Michailidis