Hätte der Krieg verhindert werden können? – Russlands Briefe vom 17. Dezember 2021 und die Ignoranz des Westens

Hätte der Krieg verhindert werden können? – Russlands Briefe vom 17. Dezember 2021 und die Ignoranz des Westens

Hätte der Krieg verhindert werden können? – Russlands Briefe vom 17. Dezember 2021 und die Ignoranz des Westens

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

Vor genau zwei Jahren formulierte Russland unmissverständlich seine Sicherheitsinteressen. Die Reaktion des Westens: Fehlanzeige! Es spricht sehr viel dafür, dass Russlands Überfall auf die Ukraine hätte verhindert werden können, hätte der Westen zumindest über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft des Landes Gesprächsbereitschaft gezeigt. Von Leo Ensel.

Die westliche Ukraine-Berichterstattung weist nicht erst seit Kriegsbeginn eine Reihe bemerkenswerter weißer Flecken auf. So gut wie niemand hierzulande weiß beispielsweise, dass der dem Westen sehr nahestehende Boris Jelzin schon im März 1997 – Jahre, bevor Wladimir Putin an die Macht kam – im Vorfeld der ersten NATO-Osterweiterung gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton drohte, spätestens mit einem NATO-Beitritt der Ukraine würde für Russland eine rote Linie überschritten. Man sieht hier sehr deutlich, wie alt diese Option für den Westen ist und wie alt umgekehrt die russischen Ängste vor dieser Option sind!

Weiße Flecken in der westlichen Ukraine-Berichterstattung

Dass Kiew, mit offensichtlicher Duldung des Westens, über sechs Jahren lang seinen zentralen Verpflichtungen aus dem Minsk-II-Abkommen – Verabschiedung einer Verfassungsreform bis Ende 2015 (!) im Sinne einer Dezentralisierung unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Gebiete Donezk und Lugansk („Südtirol-Lösung“) – nicht nachkam, wurde hierzulande bestenfalls am Rand thematisiert. Ende letzten Jahres – ‚böse Zungen‘ hatten es längst vermutet – ließ dann Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel die Katze aus dem Sack: Es sei darum gegangen, Zeit zu gewinnen, um in der Zwischenzeit die ukrainische Armee fit zu machen. Frankreichs Ex-Präsident François Hollande und der ehemalige Präsident der Ukraine Petro Poroschenko hatten dies zuvor bereits bestätigt.

Wenig bekannt ist im Westen auch, dass die Ukraine schon im Jahre 2021 – lange vor dem russischen Überfall – nicht nur „im Karabachkrieg 2020 bestens bewährte“ türkische Kampfdrohnen vom Typ Bayraktar TB2 kaufte und gegen die Rebellenstellungen bei Donezk abfeuerte, sondern auch bereits mit der Türkei über eine Lizenzproduktion verhandelte.

Nahezu unbekannt ist jedoch bis heute die Tatsache, dass die USA bereits seit Mitte der Neunzigerjahre unter dem Etikett „Rapid Trident“ (früher: „Peace Shield“) jährlich auf dem Gebiet der Westukraine Manöver mit ukrainischen Truppen durchführten, zuletzt vom 20. September bis 1. Oktober 2021 zusammen mit Soldaten aus Ländern wie Bulgarien, Kanada, Georgien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Jordanien, Moldau, Pakistan und Polen. Dasselbe gilt für die Marinemanöver „Sea Breeze“ der USA seit 1997 vor der Küste der Ukraine im Schwarzen Meer. Im Sommer 2021 waren Einheiten aus nicht weniger als 32 Staaten beteiligt.

Man stelle sich die Reaktion des Westens vor, hätte Russland jährlich zusammen mit Soldaten aus Belarus, Serbien, China, Kuba, Venezuela, dem Iran und anderen Staaten Truppenübungen in Mexiko oder Marinemanöver im gleichnamigen Golf vor der Küste Floridas unternommen!

Vollkommen unbekannt ist schließlich die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 24. März 2021 – also genau elf Monate vor dem russischen Überfall – das Dekret Nr. 117 unterzeichnete, das die „Strategie zur De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März in Kraft setzte. In dem Dekret wurde die Vorbereitung von Maßnahmen angekündigt, um „die vorübergehende Besetzung“ der Krim und des Donbass zu beenden; die ukrainische Regierung erhielt den Auftrag, einen entsprechenden „Aktionsplan“ zu entwickeln.

Am 30. August 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine dann einen Vertrag über militärische Zusammenarbeit und am 10. November 2021 einen Vertrag über „Strategische Partnerschaft“. Hier hieß es u.a. wörtlich:

„Die Vereinigten Staaten beabsichtigen, die Bemühungen der Ukraine zur Bekämpfung der bewaffneten Aggression Russlands zu unterstützen, unter anderem durch die Aufrechterhaltung von Sanktionen und die Anwendung anderer relevanter Maßnahmen bis zur Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen.“

Das Sündenregister des Westens

Aber auch im direkten bilateralen Verhältnis zu Russland war der Westen jahrzehntelang in Sachen Eskalation aktiv. Das Sündenregister: fünf NATO-Erweiterungen seit 1999 bis direkt an die Grenze Russlands mit insgesamt 14 neuen Mitgliedern; Nichtratifizierung bzw. Kündigung fast aller Verträge zur Abrüstung und Rüstungskontrolle wie des A-KSE-Vertrages über die Abrüstung von Streitkräften und Waffensystemen in Europa, des ABM-Vertrages zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (2001), des INF-Vertrages, der die Herstellung und Stationierung landgestützter Raketen und Marschflugkörper einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern verbot (2019) und des Open-Skies-Vertrags, der im Sinne vertrauensbildender Maßnahmen durch Überflugrechte beiden Seiten ‚Glasnost‘ ermöglichen sollte (2020); völkerrechtswidrige Angriffskriege wie gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (1999) und den Irak (2003), expansive Auslegung von UN-Mandaten wie im Falle Libyen 2011 oder höchst kreative Interpretationen der NATO-Russland-Grundakte (2016), die die permanente Stationierung westlicher Truppen und Waffensysteme vor der russischen Haustüre untersagt; Aufbau des weltweiten Raketenabwehrsystems Aegis mit angriffsfähigen Modulen in Rumänien und Polen.

Ende 2021 ergriff Russland dann die diplomatische Initiative und definierte gegenüber NATO und USA seine sicherheitspolitischen Interessen, inclusive roter Linien, klar und unmissverständlich.

Was Russland der NATO vorschlug …

Am 17. Dezember 2021 ließ Russland der NATO und den USA jeweils einen Vertragsentwurf zukommen, der Sicherheitsgarantien für beide Seiten rechtsverbindlich festlegen sollte. – Schauen wir uns aus dem zweijährigen Abstand und auf dem Hintergrund der aktuellen Kriegsereignisse noch einmal an, was Russland damals der NATO vorschlug und, ob dies wirklich alles völlig absurd und unerfüllbar war:

  • Beide Seiten sollten bestätigen, sich nicht als Gegner zu betrachten;
  • Rückkehr zu den Prinzipien der „gleichen und unteilbaren Sicherheit“;
  • Verzicht auf die Anwendung und Androhung von Gewalt;
  • Verzicht, Situationen zu schaffen, die eine Seite als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit ansehen könnte;
  • Zurückhaltung bei militärischen Planungen und Übungen zur Vermeidung von „Dangerous Brinkmanships“ (gefährlichen Zwischenfällen), insbesondere in der Ostseeregion und über dem Schwarzen Meer;
  • Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates und anderer bi- und multilateraler Gesprächsformate;
  • Transparenz bei militärischen Übungen und Manövern;
  • Einrichtung von Hotlines für Notfallkontakte (Revitalisierung des „Roten Telefons“);
  • Rückzug der westlichen Streitkräfte und Waffensysteme auf das Niveau vor der ersten NATO-Osterweiterung;
  • Verzicht einer Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen in Gebieten, von denen aus sie das Hoheitsgebiet der anderen Partei angreifen könnten;
  • keine weitere Ausdehnung der NATO (insbesondere nicht um die namentlich genannte Ukraine);
  • Verzicht der NATO auf militärische Aktivitäten auf dem Gebiet der Ukraine sowie anderer Staaten Osteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens;
  • Einrichtung eines weitgehend entmilitarisierten Korridors zwischen NATO und Russland.

und den USA

Der an die Seite der USA gerichtete Vertragsentwurf enthielt darüber hinaus folgende Vorschläge:

  • Bekräftigung der Erklärung, dass ein Atomkrieg keinen Sieger haben kann und dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Gefahr abzuwenden;
  • Verzicht auf gegen die andere Seite gerichtete kriegsvorbereitende Maßnahmen auf dem Territorium von Drittstaaten;
  • Verzicht der USA auf die Einrichtung von Militärstützpunkten und eine bilaterale militärische Zusammenarbeit in und mit den Staaten des postsowjetischen Raums, die keine NATO-Mitglieder sind;
  • beidseitiger Verzicht auf die Stationierung von Streitkräften und Waffensystemen außerhalb ihrer Hoheitsgebiete, die die andere Seite als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit ansehen könnte;
  • Verzicht auf Flüge schwerer Bomber und die Anwesenheit von Überwasserkampfschiffen in Regionen, von denen aus sie Ziele im Gebiet der anderen Vertragspartei treffen könnten;
  • Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes sowie Rückführung entsprechender Waffensysteme und Zerstörung der entsprechenden Infrastruktur in Drittstaaten;
  • keine Schulungen von Personal im Umgang mit Atomwaffen und keine Militärübungen für deren Einsatz in Ländern, die diese nicht besitzen.

Natürlich steckte der Teufel, wie immer bei solchen Verträgen, im Detail, und alle Vorschläge hätten einer intensiven Prüfung durch sicherheitspolitische und diplomatische Experten bedurft. Zudem waren die ‚Paketforderungen‘ und der ultimative Ton, in dem die beiden Briefe gehalten waren, höchst undiplomatisch. NATO und USA wären aber dringend beraten gewesen, die beiden Vertragsentwürfe als klare Formulierung russischer Sicherheitsinteressen zu lesen, sie genauestens zu prüfen und als Ausgangspunkt für Verhandlungen zu nutzen, deren Ziel eine deutliche Verbesserung der Sicherheitslage sämtlicher Vertragsstaaten – und vor allem Europas! – auf möglichst niedrigem militärischen Niveau gewesen wäre.

Die Ignoranz des Westens

Am 7. Januar 2022 fand dann ein digitales außerordentliches Meeting aller 30 NATO-Außenminister statt, und man durfte gespannt sein, ob und gegebenenfalls wie die NATO auf den russischen Vertragsentwurf reagieren würde.

Aber nichts dergleichen. Auf der abschließenden Pressekonferenz bediente Generalsekretär Stoltenberg – wie später auch US-Präsident Biden – die altbekannten Gebetsmühlen: Die NATO werde weiterhin die Ukraine und Georgien unterstützen, im Übrigen habe jedes Land, unabhängig von seiner Größe und seinen Nachbarn, das Recht, seinen Weg und seine Bündnispartner selbst zu wählen. Dass dies auf die Ukraine und Georgien gemünzt war, war offensichtlich.

Zu dieser Option hatte die ehemalige Moskaukorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, längst Monate zuvor das Notwendige gesagt: „Alle Staaten haben das Recht, bei der NATO einen Aufnahmeantrag zu stellen. Aber die NATO hat jedes Recht der Welt, Bewerber abzulehnen, wenn übergeordnete politische Überlegungen dagegen sprechen!“

Stoltenberg dagegen machte bei dieser Gelegenheit gleich auch noch Finnland und Schweden – „Partner, mit denen wir immer mehr eng zusammenarbeiten“ – einen unverhohlenen Antrag: „NATO‘s door remains open!“

Sechs Wochen später startete Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Titelbild: Volodymyr Vorobiov/shutterstock.com