Genozid in Gaza und das Ende der westlichen Vorherrschaft

Genozid in Gaza und das Ende der westlichen Vorherrschaft

Genozid in Gaza und das Ende der westlichen Vorherrschaft

Ein Artikel von Philipp von Becker

Hier folgt ein weiterer Text zum Krieg im Nahen Osten, auch ein informativer Artikel mit gut belegten Aussagen, jedenfalls Ihrer Lektüre sehr zu empfehlen. Eine einzige kritische Anmerkung: Der Autor meint, „geopolitisch, moralisch und kulturell“ habe „der Westen diesen Krieg bereits verloren“. Diese Einschätzung halte ich für gewagt. Die Propagandamaschinerie des Westens ist gut geölt.
Von Philipp von Becker[*]

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Seit über drei Monaten führt die israelische Armee mit Unterstützung der USA, Großbritanniens und Deutschlands einen Krieg, der laut Experten schon jetzt zu den „tödlichsten und zerstörerischsten der jüngeren Geschichte“ gehört. Auf dem winzigen Landstrich des Gazastreifens wurden Bomben mit insgesamt mehr Sprengkraft, als die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki besaßen, abgeworfen. Fast die Hälfte der Bomben sind dabei laut CNN sogenannte „dumme“, unpräzise Bomben, durch die besonders viele Zivilisten getötet werden. Der New York Times zufolge wurden diese auch über Gebieten abgeworfen, die vorher zu sicheren Schutzzonen für die Zivilbevölkerung erklärt worden waren.

So sind den Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums zufolge – welche von UNO, WHO und Nichtregierungsorganisationen als glaubwürdig eingeschätzt werden – bislang 27.019 Menschen getötet worden, davon mindestens 10.000 Kinder. Tausende mehr werden noch unter den Trümmern vermutet. In nur 100 Tagen wurden über 10.000 Kinder getötet! Zum Vergleich: In 18 Monaten des Ukrainekriegs wurden 545 Kinder getötet. Seit Beginn des Krieges haben in Gaza außerdem jeden Tag durchschnittlich mehr als 10 Kinder ein Bein oder beide Beine verloren, über 1.000 Kindern mussten Gliedmaßen amputiert werden und das – welch unbeschreiblicher Horror – zu einem Großteil ohne Narkose. Auch wurde eine Rekordzahl an Ärzten, Journalisten und UN-Mitarbeitern getötet. Das Internationale Presse-Institut (IPI) spricht von „der größten Anzahl von Journalisten, die in einem modernen Krieg oder Konflikt in so kurzer Zeit getötet wurden“. 70 Prozent der Gebäude in Gaza wurden zerstört, das ist mehr als in Dresden im Zweiten Weltkrieg. Über 1,7 Millionen Menschen sind deshalb ohne Obdach und sanitäre Anlagen in Zelten und Notunterkünften Nässe und Kälte schutzlos ausgesetzt.

Zudem hat die israelische Regierung die Ankündigung des Verteidigungsministers Yoav Gallant wahrgemacht. Dieser hatte vor Beginn des Krieges eine „totale Blockade“ verkündet: „Es wird keinen Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Benzin geben (…). (…) Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.“ Gaza ist von der Zufuhr von Lebensmitteln und Medikamenten weitestgehend abgeschnitten, Krankheiten breiten sich aus, die medizinische Versorgung ist zusammengebrochen, Hunderttausende sind vom Hungertod bedroht. Höchstens 13 von 36 Krankenhäusern im Gazastreifen sind noch funktionsfähig. Und nicht nur Krankenhäuser, sondern auch sämtliche Universitäten Gazas sowie Moscheen, Kirchen, Bibliotheken, Archive und zwei Drittel aller Schulen wurden zerstört.

All dies ist seit Monaten bekannt, wird in den deutschen Leitmedien jedoch nur am Rande berichtet. Ein palästinensisches Menschenleben zählt in den Augen der deutschen Leitmedien und Regierung offensichtlich weniger als ein israelisches. Quantitative Analysen von The Column und The Intercept haben die Berichterstattung in US-Fernsehsendern sowie mehr als 1.000 Artikel der New York Times, Washington Post und Los Angeles Times analysiert und auch in der US-amerikanischen Presse ein massives Ungleichgewicht der Berichterstattung zu Gunsten Israels festgestellt. Hamid Dabashi, Professor an der Columbia Universität von New York, schreibt in einer wütenden Anklage an Jürgen Habermas: „Stellen Sie sich vor, der Iran, Syrien, der Libanon oder die Türkei – mit voller Unterstützung, Bewaffnung und diplomatischem Schutz durch Russland und China – hätten den Willen und die Mittel, Tel Aviv drei Monate lang Tag und Nacht zu bombardieren, Zehntausende Israelis zu ermorden, zahllose weitere zu verstümmeln, Millionen obdachlos zu machen und die Stadt in einen unbewohnbaren Trümmerhaufen zu verwandeln, so wie heute Gaza“ (eigene Übersetzung).

Ja, man möge sich vorstellen, wie die Berichterstattung in der westlichen Presse dann aussähe. Der mutmaßliche Genozid in Gaza wird in Deutschland stattdessen totgeschwiegen, geleugnet oder gar gerechtfertigt und unterstützt. Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums wurden die deutschen Rüstungsexporte nach Israel im Jahr 2023 im Vergleich zu 2022 fast verzehnfacht, der Großteil wurde seit Kriegsbeginn bewilligt. Bis heute konnte sich die Bundesregierung nicht dazu durchringen, sich der Forderung der überwältigenden Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten (153 Staaten) nach einem Waffenstillstand anzuschließen.

Der Trugschluss, dem die deutsche Presse – und womöglich auch die Bundesregierung – trotz der von Mitgliedern der israelischen Regierung und Armee dutzendfach geäußerten genozidalen Absichten bis heute aufsitzt, ist folgender: Der rechtsradikalen Regierung von Benjamin Netanjahu geht es nicht um die Zerstörung der Hamas – was mittels Krieg ohnehin ein illusionäres Ziel ist, da die Ideologie der Hamas nicht mit Gewalt zu zerstören ist, sondern im Gegenteil dadurch noch befördert wird, wie u.a. auch der ehemalige Chef des israelischen Geheimdienstes Shin Bet, Ami Ayalon, festhält. Ziel der Regierung Netanjahus war und ist die endgültige Zerstörung der palästinensischen Hoffnung auf einen eigenen Staat und die Vertreibung der Palästinenser. Ganz so wie es etwa der rechtsradikale Finanzminister Bezalel Smotrich in seinem „entscheidenden Plan“ schon 2017 aufgeschrieben hat.

Laut zahlreicher Analysen und Berichte wie etwa von Richard C. Schneider im Spiegel war Netanjahu nie an einer Zweistaatenlösung interessiert und hat die Hamas über Jahre hinweg finanziell unterstützt, um so jeden Versuch der Bildung einer Einheitsregierung von Mahmud Abbas mit dem Argument unterminieren zu können, Abbas wolle sich mit Terroristen verbünden. Dass Israel eine Zweistaatenlösung wolle, ist laut Haaretz-Kolumnist Gideon Levy seit mindestens 50 Jahren eine Lüge und laut dem aus Protest zurückgetretenen Direktor des New Yorker Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte, Craig Mokhiber, sei die Zweistaatenlösung in den Korridoren der UN schon lange ein „Witz“. Levy und auch der israelische Philosoph Omri Boehm fordern, sich von der Illusion einer Zweistaatenlösung zu verabschieden, welche vor allem aufgrund der bereits 700.000 israelischen Siedler im Westjordanland nicht mehr realistisch sei. Stattdessen solle man sich für eine Föderation oder gemeinsamen Staat Israel-Palästina einsetzen.

Das weitestgehende Ausblenden dieser Tatsachen und Perspektiven in den deutschen Leitmedien und das Schweigen deutscher Intellektueller und Akademiker zur genozidalen Kriegsführung Israels in Gaza gehört zu einem der größten moralischen und intellektuellen Versagen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Angebliche Unwissenheit war schon nach dem Zweiten Weltkrieg eine schlechte Ausrede. Im Falle von Gaza kann Unwissenheit noch umso weniger geltend gemacht werden. Das Geschehen in Gaza ist der erste Genozid, der weltweit live im Internet übertragen wird. Doch medial wurde ein Klima der Angst geschaffen, in dem auch der Großteil derjenigen, die die Hölle von Gaza als solche mitbekommen, aus Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus schweigt. Bemerkenswert ist allerdings: Aller pro-israelischen Propaganda, Zensur und Selbstzensur zum Trotz halten laut einer repräsentativen Umfrage des ZDF-Politbarometers aus dem Januar 2024 nur 25 Prozent der Befragten das Vorgehen Israels für gerechtfertigt. 61 Prozent halten es für nicht gerechtfertigt. Die Diskrepanz zwischen Regierungshandeln und der Mehrheit der veröffentlichten Meinung und der Meinung der Bevölkerung werfen ein bedrückendes Schlaglicht auf den Zustand der Demokratie in Deutschland.

Was in der deutschen Öffentlichkeit somit nicht wahrgenommen wird: Deutschland, Europa und der sogenannte Westen sind international zunehmend isoliert. Im Zuge zahlreicher Cancelungen und aufgrund der Unterstützung der israelischen Kriegspolitik haben über 1.300 Akademiker, Künstler und Autoren den Aufruf „Strike Germany“ unterzeichnet, in dem zu einem Boykott deutscher Kulturveranstaltungen aufgerufen wird. Zu den Unterstützern gehören die Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, die Philosophin Judith Butler oder die frühere Documenta-Leiterin Catherine David.[**] Die bosnische Schriftstellerin Lana Bastašić trennte sich aus Protest vom S.-Fischer Verlag, zwei Filmemacher zogen ihre Filme von der Berlinale zurück, dem Musikfestival CTM in Berlin sagten mehrere DJs und Musiker ab und Laurie Anderson wird nicht die Pina-Bausch-Professur an der Folkwang-Universität der Künste in Essen antreten.

Die Rede von der „westlichen Wertegemeinschaft“ war schon immer kaum mehr als Propaganda: Nimmt man die direkten und indirekten Todesopfer des „War on Terror“ zusammen, dann haben allein die von den USA angeführten Kriege nach dem 11. September 2001 laut Schätzungen einer Studie der Brown University in Afghanistan, Pakistan, Irak, Syrien und dem Jemen mindestens 4,5 bis 4,7 Millionen Tote verursacht. Mit der Unterstützung des Gazakrieges ist die Glaubwürdigkeit des Westens in Bezug auf Menschenrechte und internationales Recht nun endgültig zerstört.

Die USA bleiben zwar auf absehbare Zeit die mit Abstand größte militärische Macht des Planeten. Doch geopolitisch haben sich die Machtverhältnisse längst verschoben. Davon zeugt nicht zuletzt die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof, die u.a. von den Regierungen Brasiliens, Kolumbiens und Boliviens unterstützt wird. Der ehemalige portugiesische Außenminister für Europaangelegenheiten und Autor, Bruno Maçães, schrieb dazu auf X treffend: „Vielleicht müssen wir zugeben, dass es die westliche Welt als Ganzes ist, die in Den Haag vor Gericht steht“. Entgegen der dreisten Aussage des deutschen Regierungssprechers Steffen Hebestreit, dass die Klage Südafrikas „jeglicher Grundlage entbehre“, hat das Gericht in einem ersten Urteil am 26. Januar verkündet, dass die Befürchtung eines Genozids in Gaza äußerst „plausibel“ sei. Gleich wie das endgültige Urteil des Gerichtshofes ausfallen wird: Geopolitisch, moralisch und kulturell hat der Westen diesen Krieg bereits verloren. Das Desaster des Ukrainekrieges sowie die Hölle von Gaza sind die letzten Sargnägel auf die 500 Jahre währende Unterwerfung der Welt durch Europa und die USA. Wenn dereinst ein neues Europa aus den Trümmern des alten entsteht, kann seine primäre Aufgabe und Verantwortung nur eines sein: Die Menschenrechte und das internationale Recht zur tatsächlichen Grundlage seiner Politik zu machen.

P.S.: Dass unser Autor mit seiner Schilderung des Schreckens nicht übertreibt, wird daran sichtbar, dass nach einer aktuellen Meldung von Haaretz vom 4. Februar sogar schon 11.500 Kinder im Gazastreifen getötet worden sind. Siehe hier.

Im Passagen-Verlag erschien „Der neue Glaube an die Unsterblichkeit. Transhumanismus, Biotechnik und digitaler Kapitalismus“ und bei Westend zusammen mit Stefan Lorenz Sorgner die Streitfrage „Transhumanismus“.

Website: philippvonbecker.de

Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.


[«*] Philipp von Becker arbeitet als freier Autor, Publizist und Filmemacher. Veröffentlichungen u.a. bei Berliner Zeitung, Freitag, Telepolis.

[«**] Inzwischen hat die Philosophin Judith Butler ihre Unterschrift zurückgezogen

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!