Die Sinnkrise der israelischen Linken

Die Sinnkrise der israelischen Linken

Die Sinnkrise der israelischen Linken

Tamar Amar-Dahl
Ein Artikel von Tamar Amar-Dahl

Seit dem 7. Oktober befindet sich die israelische Linke in der tiefsten Sinnkrise ihrer Geschichte. Woran liegt es? Der verheerende Gaza-Krieg dauert schon gut vier Monate an, ein Ende ist nicht in Sicht. Wie steht die israelische Linke zum Gaza-Krieg? Welche Position nehmen Linkszionisten im von einer rechtsradikalen Regierung geführten Land ein? Ein Artikel von Dr. Tamar Amar-Dahl, israelisch-deutsche Historikerin, Berlin.

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Der 7. Oktober hat die israelische Linke ins Mark getroffen. Seit über einem Jahr kämpft sie gegen eine rechtsextreme Regierung des Ende 2022 zum sechsten Mal gewählten Langzeit-Premiers. Benjamin Netanyahu ist schon lange ein regelrechtes rotes Tuch für die Linkszionisten: Ihm verzeihen sie die Regierungskrisen der Jahre 2019 bis 2022 nicht, sein Klammern an die Macht trotz Anklage und Gerichtsverfahren wegen Korruption. In seinem Kriegsziel des „endgültigen Siegs“ vermutete die israelische Linke eine gefährliche Taktik. Vor allem seine Versuche, Israels demokratische Ordnung mit der sogenannten Justizreform im Laufe des Jahres 2023 durchzusetzen, weshalb sie dauerhaft und massenhaft auf die Straßen gingen.

Der Hamas-Überraschungsangriff auf jüdische Städte und Siedlungen in der Nähe des Gazastreifens, und zwar am jüdischen Feiertag, erreichte eine ungeahnte Dimension. Nach einigen Wochen Schockzustand wurde Netanjahus Beitrag immer klarer: Seine Hamas-Politik im letzten Jahrzehnt habe die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 erst möglich gemacht, so hieß es immer wieder in linkszionistischen Kreisen. Sein Arrangement mit dem einen Feind, der Hamas, katarisches Geld in den Gazastreifen hineinzulassen, und so den anderen, sprich die Palästinensische Autonomiebehörde, immer stärker ins Abseits zu verdrängen, um so nicht mit ihr über einen Palästinenserstaat in den besetzten Gebieten verhandeln zu müssen, erwies sich als fatal. Mit diesem Geld habe Hamas ihre militärische Macht ausbauen können. Netanjahus Strategie, der Zweistaatenlösung zu entkommen, habe also verheerende Konsequenzen.

Doch welche Lösung bieten die israelischen Linken für die Palästina-Frage? Seit über zwei Jahrzehnten verlieren sie in Politik und Gesellschaft immer mehr an Bedeutung. Seit dem Scheitern des Oslo-Friedensprozesses Ende 2000 hat es in Israel nie wieder eine linkszionistische Regierung gegeben. Heute sind nur noch kümmerliche vier Sitze der Arbeiterpartei in der Knesset verblieben. Die Bürger-rechts-Partei Meretz ist dort seit 2022 überhaupt nicht mehr vertreten. Wenn Netanjahu in den letzten Jahren herausgefordert wurde, dann waren es meistens die Parteien der Mitte, angeführt von Benny Gantz bzw. dem Kurzzeit-Premier Yair Lapid. Ihre Palästina-Politik unterscheidet sich kaum von der Netanjahus: Die Besatzung als etabliertes Regime in den Palästinensergebieten, mithin die Ablehnung eines palästinensischen Staates gelten auch uneingeschränkt für Netanjahus Herausforderer. Daher auch ihr Einverständnis mit der Entpolitisierung der Palästina-Frage im israelischen Diskurs.

Zur Politisierung dieser Frage hatten ja ursprünglich Anfang der 1990er-Jahre tatsächlich die Linkszionisten beigetragen. Der historische Oslo-Friedensprozess war die Folge: Die linkszionistische Regierung unter Itzhak Rabin (1992-1995) stellte sich dieser Frage erstmals in der Geschichte, und sie war bereit, mit dem Erzfeind PLO, mit Jassir Arafat zu verhandeln. Im September 1993 gestanden beide Seiten sich gegenseitig das Selbstbestimmungsrecht zu. Weitere Zwischenabkommen wurden unterzeichnet, doch nicht das ersehnte endgültige Abkommen. War ein Palästinenserstaat im Westjordanland und Gazastreifen je ein echtes Ziel des linkszionistischen Israel?

Auch hier bedarf es an historischer Aufarbeitung: Itzhak Rabin hatte zwar dem historischen, seinerzeit in Israel höchst kontroversen Oslo-Friedensprozess zugestimmt. Doch anstatt in seiner mächtigen Doppelfunktion als Ministerpräsident und Verteidigungsminister die Teilung des Landes mit aller Entschlossenheit durchzuziehen – um jeglicher Opposition (etwa der lautstarken Siedlerbewegung sowie der Rechten) effektiv zu begegnen –, zögerte er in den entscheidenden Momenten. Etwa, als einige Monate nach Bekanntgabe des Oslo-Prozesses, im Februar 1994, ein rechtsextremer jüdischer Arzt aus Hebron ein Blutbad unter betenden Muslimen in der Höhle der Patriarchen in Hebron anrichtete. Sein Ziel war es, den Friedensprozess zu stoppen. Daraufhin räumte Rabin nicht etwa diese kleine jüdische Siedlung mitten in der palästinensischen Stadt, sondern er ließ sogar die Hauptstraße der Altstadt für Palästinenser sperren.

Rabins Ermordung im November 1995 durch einen jüdischen Rechtsextremisten hat die israelische Linke bis heute nicht verkraftet. Die Hetze des Oppositionsführers Benjamin Netanjahu gegen die Person Rabin hält sie für verhängnisvoll – damit auch die Hetze gegen seine Friedenspolitik. Vergessen wird in diesen Kreisen jedoch viel zu oft, dass Rabins Nachfolger Shimon Peres aus der Arbeiterpartei den Friedensprozess nach dem Mord an Rabin hätte abschließen können, wenn er die Teilung des Landes zwischen beiden Völkern wirklich gewollt hätte. Wie ich in meiner Dissertation über Israels Altpolitiker herausgearbeitet habe, war Peres auch in den 1990ern weit entfernt davon, an diese Lösung zu glauben, geschweige denn sie politisch durchzusetzen.

Und tatsächlich traf Peres in der kurzen Zeitspanne zwischen November 1995 und Mai 1996 – übrigens auch er in der Doppelfunktion als Ministerpräsident und Verteidigungsminister – sicherheitspolitische Entscheidungen, die nicht nur ihn unmittelbar das Amt kosteten, sondern dem Frieden keineswegs dienlich waren: Die umstrittene Liquidierungsaktion eines Terroristen im Gazastreifen im Januar und die militärische Operation in Libanon im April 1996 erschütterten das Land. Sie ebneten den Weg für den neuen Likud-Chef.

Entscheidend bei Peres‘ kurzer Amtszeit: In seinem hohen Alter – nach fünf Jahrzehnten in der Politik und nach unzähligen Kriegen und militärischen Operationen – sah der als Friedensmann erachtete Politiker leider immer noch nicht die Dringlichkeit, den Palästina-Konflikt endlich zu lösen. Die Macht und die Autorität hatte er, und nach zwei Abkommen mit einem anerkannten Gesprächspartner unterstützten die internationale Gemeinschaft und, wichtiger noch, auch das israelische Volk den Friedensprozess. Keine Frage: Wenn Israel je eine Chance hatte, die Zweistaatenlösung durchzusetzen, dann war es in diesen schicksalhaften Monaten zwischen November 1995 und Mai 1996.

Doch wie die meisten Politiker in der israelischen Linken war auch Peres in erster Linie sicherheitspolitisch orientiert. Auch er begriff die Palästina-Frage nicht als eine politische, gar eine moralische, sondern lediglich als eine Sicherheitsfrage. Das israelische Okkupationsregime war daher auch Mitte der 1990er-Jahre nicht ohne Weiteres aufhebbar. Dies war auch das Argument des Generalstabschefs Ehud Barak gegenüber dem Rabin-Kabinett: Beim Rückzug aus den besetzten Gebieten könne das Militär die Sicherheit im Kernland nicht mehr garantieren. Später als Minister wollte Barak das wichtige Abkommen Oslo II nicht unterstützen. Das Verblüffende: Ausgerechnet diesen Oslo-Skeptiker hat die Arbeiterpartei 1996 für den Parteivorsitz gewählt – in der Hoffnung, dass er Rabins Friedenspolitik fortsetzen würde. Und nach der turbulenten Regierung Netanjahu (1996-1999) wählte ihn genau dafür auch das israelische Volk.

Doch auch aufgrund Baraks kurzer Amtszeit (1999-2000) war er offensichtlich der falsche Mann für diese heikle Mission. Nicht nur, dass er mit seiner fragwürdigen Verzögerungstaktik den Palästinensern den Gipfel in Camp David aufgezwungen hatte, der dann wie erwartet auch scheiterte, sondern im Anschluss an den historischen Gipfel gelang es ihm, das israelische Friedenslager ernsthaft davon zu überzeugen, dass die Palästinenser kein Partner für den Frieden seien.

Diese fatalistische Botschaft Baraks vom Juli 2000 hat Israel im neuen Millennium nachhaltig geprägt – weit mehr, als die Linken es glauben wollen: Der letzte Hoffnungsträger des Friedenslagers hatte damit dem einzigen Friedensprozess in der israelisch-palästinensischen Konfliktgeschichte den Todeskuss gegeben. Der Rest ist eine blutige Geschichte: Die verheerende Zweite Intifada der Jahre 2000 bis 2005 läutete den endgültigen Untergang der israelischen Linken ein. Die anschließenden Kriege in Gaza und im Libanon – immer verheerender, immer kontraproduktiver –, wurden allesamt von den Linkszionisten unterstützt. Weshalb?

Was den israelischen Militarismus so stabil macht – insofern auch den gesellschaftlichen Konsens für Israels Kriegspolitik – ist das israelische Phänomen des Zivilmilitarismus. Mit Ausnahme der nicht-zionistischen orthodoxen Juden sowie der palästinensischen Staatsbürger wird der israelische Militarismus von der Gesamtgesellschaft getragen: Politik, Medien, Wirtschaft und Akademie folgen ihrem Militär, das in Abschreckung, daher im Krieg den eigentlich effizienten Weg für Sicherheit, längerfristig für die Staatsexistenz sieht. Darauf basiert Israels Sicherheitsdoktrin.

Der israelische Zivilmilitarismus ist historisch gewachsen, und zwar im Kontext des seit Jahrzehnten tobenden Nahostkonflikts. Da dieser längst außer Kontrolle geraten ist, wird das Militärische immer bedeutsamer, weshalb der gesellschaftliche Konsens für immer kostspieligere militärische Einsätze immer wieder hergestellt werden muss. Da die IDF aber noch immer als zentrale Sicherheitsinstitution gilt, unterstützen „die Israelis“ ihre Einsätze.

„Die Israelis“ meint hier beide zionistische Lager, die sich jedoch seit Jahren in einem latenten Kulturkampf befinden. 2023 im Zuge der geplanten Justizreform der rechtsradikalen Regierung Netanjahus und der Massendemonstrationen, vor allem der Linken, ist dieser Streit manifest geworden. Die Zukunft des zionistischen Staatsprojekts stand bereits vor dem 7. Oktober 2023 auf der Kippe: Sollte die alte politischen Ordnung eines jüdischen und demokratischen Staates beibehalten werden? Oder, wie die rechten Neozionisten immer lauter und offener im Sinne des Nationalstaatsgesetztes vom Juli 2018 anstreben: einen Jüdischen Staat nur für Juden in Großisrael?

Der 7. Oktober versetzte die israelischen Linken in die tiefste Sinnkriese ihrer Geschichte: ganz im Sinne des Zivilmilitarismus unterstützen sie den Gaza-Krieg. Dem Hamas-Überraschungsangriff auf jüdische Städte und Siedlungen militärisch zu begegnen, war so selbstverständlich wie quasi bitter notwendig: Dieser Krieg sei eine klassische Verteidigung, er sei ein Muss, um die Sicherheit bzw. Abschreckung wiederherzustellen.

Doch nach vier Monaten stellt sich dieser Krieg in vielerlei Hinsicht als linkszionistisches Debakel heraus: Zuvörderst sind die militärischen, sprich die sicherheitspolitischen Kriegsziele noch immer nicht erreicht: Mehr als die Hälfte der 240 von Hamas verschleppten Geiseln befinden sich noch immer im Gazastreifen. Der Krieg sollte sie befreien, doch es ist längst erwiesen: Der Krieg steht ihrer Freilassung im Wege.

Darüber hinaus: Hamas zu entwaffnen scheint auch nach über 100 Kriegstagen mit verheerenden Konsequenzen für die Menschen und ihren Lebensraum im Gazastreifen nicht in Sicht. Für ihre Vernichtung – so die Rede etlicher Militärs – wären viele Kampfmonate, wenn nicht -jahre nötig. Vielleicht hat dies Premierminister Benjamin Netanjahu im Sinn, wenn er dezidiert – von Beginn der Kampfhandlungen bis zum heutigen Tag – vom „endgültigem Sieg“ spricht.

Tatsächlich machen diese eigentlichen Motive Netanyahus für seine Kriegsführung den israelischen Linken zu schaffen. Denn nicht nur halten sie ihn persönlich für hauptverantwortlich für den 7. Oktober, da er mit seiner Palästina-Politik die Hamas de facto verstärkte, hinzukommt: Dass Hamas dieses Datum ausgewählt hat, sehen die israelischen Linken im engen Kontext zu der von Netanjahus Regierung geplanten Justizreform. Der Kulturkampf zwischen Juden und Juden habe die israelische Gesellschaft maßgeblich geschwächt und so den Angriff quasi provoziert.

Netanjahus Verantwortung für den 7. Oktober wollen die Linken naturgemäß untersucht wissen. Doch Netanjahu will jegliche Untersuchung möglichst weit hinausschieben – nicht zuletzt um seines Machterhalts willen. In seinem Kriegsziel des „endgültigen Siegs“ vermutete die israelische Linke eine gefährliche Taktik der Fortsetzung des Krieges, um sich der Verantwortung für den 7. Oktober weiterhin zu entziehen.

Doch auch die israelische Linke ist von der Notwendigkeit dieses Krieges fest überzeugt: Auch sie sieht darin die Lösung für das Sicherheitsproblem, auch sie glaubt an die vom Militär propagierte Doktrin der Abschreckung, auch sie befürchtet einen weiteren 7. Oktober, sollte die Hamas ihre militärischen Kapazitäten aufrechterhalten.

So befinden sich die israelischen Linken in einer wahrlichen Sinnkrise: Sie unterstützen den historisch verheerendsten Krieg in Gaza, der ihr modernes Israel in zweierlei Hinsicht akut gefährdet: Zum einen wird Israel international immer mehr isoliert. Der Jüdische Staat wurde wegen Verdachts auf Völkermord bereits vor den IGH in Den Haag gebracht. Zum anderen verstärkt der Krieg innenpolitisch gerade die politischen Rivalen: Die neo-zionistischen Kräfte in der Regierung tagten kürzlich und planen energisch die jüdische Wiederbesiedlung des Gazastreifens. Die zweite Nakba ist damit vorprogrammiert, was Israel buchstäblich um Jahrzehnte zurückversetzten würde. Dieser Krieg bestärkt zudem auch ihren verhassten Rivalen. Netanjahu sitzt auch vier Monate nach dem schlimmsten Angriff auf Juden in der Geschichte Israels fest im Sattel. Und die zionistische Linke weiß offensichtlich nicht, wie sie ihn nach über 17 Jahren im Amt endlich loswerden kann.

Titelbild: Moslem mohammadi/shutterstock.com

Die Autorin hat kürzlich dieses Buch publiziert: „Der Siegeszug des Neozionismus. Israel im neuen Millennium“ (Promedia, Wien 2023).

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