Assange-Anhörung in London endet ohne Schiedsspruch

Assange-Anhörung in London endet ohne Schiedsspruch

Assange-Anhörung in London endet ohne Schiedsspruch

Ein Artikel von Moritz Müller

Am Dienstag und Mittwoch gab es am High Court in London eine weitere Anhörung im Fall Julian Assange. Es ging dabei um die Frage, ob Julian Assange Berufung einlegen kann, um seine Auslieferung an die USA zu stoppen. Speziell ging es um die Frage, ob Bezirksrichterin Vanessa Baraitser in ihrem Schiedsspruch vom 4. Januar 2021 alle wichtigen Punkte berücksichtigt hat und ob die Genehmigung der Auslieferung im Juni 2022 durch die damalige Innenministerin Priti Patel rechtmäßig ist. Auf der Straße vor dem Gericht gab es eine große Zahl von Assange-Unterstützern und Aktivisten. Unter den Beobachtern im Gericht fanden sich auch langjährige Unterstützer aus dem Bundestag und dem Europäischen Parlament und die UN-Sonderberichterstatterin für Folter und unmenschliche Behandlung. Diesmal waren auch einige deutsche Medienvertreter im Gerichtssaal und vor dem Gericht teilten sich Fernsehteams den Platz mit den Demonstranten. Es ist, als ob jetzt in letzter Minute die Wichtigkeit des Falles doch noch erkannt wird, oder man will sich in den Redaktionen nicht vorwerfen lassen, dass man zu dem Fall nicht genug berichtet hat. Assange selbst nahm an der Anhörung nicht teil. Ein erster Überblick aus London von Moritz Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Am Dienstagmorgen um halb acht war vor dem Gericht schon viel Betrieb, obwohl dessen Tore erst um neun öffnen und die Anhörung erst um halb elf beginnt. Einmal mehr führt die Knappheit der Beobachterplätze dazu, dass es vor dem Einlass Gedränge und Gerangel gibt. Dies hat sich seit der Anhörung am Woolwich Crown Court vor exakt 4 Jahren nicht geändert. Schon damals hatte ich über diese angewandte „Teile und herrsche“-Methode berichtet. Trotzdem ist die Stimmung okay und ich gelange in die kathedralenartige Haupthalle der Königlichen Gerichtshöfe (Royal Courts of Justice). Es gelingt mir, an einen kleinen grünen Zettel zu kommen, auf dem handschriftlich „Court 5“ vermerkt ist. Irgendwie ist dieses provisorische Vorgehen auch charmant und ein Grund, warum ich gerne in einem angelsächsisch-gälischen Land lebe, aber dies nur am Rande.

Am Tag zuvor hatte mir mein Gastgeber in London erklärt, dass es keine Person gibt, die der Gesamtheit der Royal Courts of Justice vorsteht. Das liegt daran, dass sich drei verschiedene Abteilungen der englischen und walisischen Justiz dieses Gebäude teilen. Es gibt auch drei verschiedene Sicherheitskräfte mit verschiedenen Aufgabenbereichen, deren Dienste von allen drei Justizabteilungen in Anspruch genommen werden.

Diese Unterteilung ist auch der offizielle Grund dafür, warum die Anhörung im relativ kleinen Saal 5 stattfindet. Es ist anscheinend der größte Raum, der der Queen‘s Bench, der Abteilung, die für die Anhörung zuständig ist, zur Verfügung steht. Vor dem Saal wartet man eine weitere gute Stunde, in der man sich mit interessanten Menschen, die den Fall verfolgen, unterhalten kann. Es gibt auch noch den Saal 3, in den die Anhörung übertragen wird, aber meine Erfahrung sagt mir, dass man der Technik in Londoner Gerichten lieber nicht vertrauen sollte, denn sie scheint die gleichen Urheber zu haben wie die oben erwähnten Einlasszettel.

Um kurz vor halb elf werden wir in den Saal gelassen und suchen unsere Plätze auf. Die zwei großen roten Bürosessel der Vorsitzenden Richterin und des Richters auf der Tribüne sind noch nicht besetzt. Unterhalb der Richtersessel sitzen drei der freundlichen und zuvorkommenden Gerichtsdiener. Bei manchen von ihnen wird während der ganzen zwei Tage nicht wirklich ersichtlich, welche Funktion sie haben. Links neben den Richtern gibt es einen riesigen, mittelalterlich anmutenden, schmiedeeisernen Käfig für die Angeklagten. Dieser Käfig ist Craig Murray zufolge erst in Tony Blairs Zeiten zum viktorianischen Interieur hinzugefügt worden. Insgesamt macht die gesamte Innenarchitektur einen wuchtigen Eindruck, von der ewig hohen Kassettendecke über die holzgetäfelten Wände, wo sie nicht von den Tausenden in Leder gebundenen Bänden mit Präzedenzfällen verdeckt werden, zu den beiden großen Kronleuchtern. Wir Beobachter nehmen auf Bänken Platz, die man auch in einer Kirche finden könnte und auf denen es gemütlich eng zugeht.

Die Anwälte beider Parteien sitzen vor uns und hinter ihnen ihre Helfer und dahinter wiederum die Klienten. Links ist das die Familie von Assange mit Stella Assange und Assanges Vater und Bruder, John und Gabriel Shipton, rechts die Vertreter des US-Regierungsapparats. Es ist bemerkenswert, dass die beiden Parteien auf der gleichen Bank nebeneinandersitzen müssen, wenn man bedenkt, dass es sichere Anzeichen dafür gibt, dass die CIA Mord- und Entführungspläne gegen Assange schmiedete. Zum Glück sitzt Assanges Anwalt in den USA, Barry Pollack, als eine Art Puffer dazwischen.

Als die Vorsitzende Richterin Viktoria Sharpe und der Richter Jeremy Johnson eintreten, stehen wir alle noch einmal auf und setzen uns wieder, nachdem die Gehilfen der Richter diesen ihre Sessel unter ihr Sitzfleisch gerückt haben. Jemand, der jahrelang in diesem Gebäude gearbeitet hat, sagte mir, dass jeder der 120 dort tätigen Richter einen solchen Gehilfen hat und manche der Richter in diesem eine Art Butler sähen.

Dann fängt die Verhandlung an und nachdem die Richterin uns begrüßt hat, erklärt sie, dass Julian Assange sich so unwohl fühlt, dass er es vorgezogen habe, an der Anhörung nicht teilzunehmen. Vielleicht wollte er aber auch weder in dem gruseligen Käfig neben den Richtern sitzen noch die charmante Videotechnik des Gerichts nutzen. Wie schon öfter in diesen Verhandlungen kommt es mir sehr merkwürdig vor, dass die Person, um die es geht, nicht anwesend ist.

Die Richterin ist akustisch schwer zu verstehen, obwohl sie in unsere Richtung spricht, und bei den Vertretern der Verteidigung wird es noch schwerer, weil diese die Richter ansprechen. Die Akustik des Raumes an sich trägt auch zur Unverständlichkeit bei. Nach einer Weile kommt dann auch eine Meldung aus Saal 3, dass man dort den per Mikrofon übertragenen Ton überhaupt nicht verstehen kann. Das Ganze ist sehr ermüdend und man muss die Richter bewundern, dass sie über die beiden Tage der Anhörung sehr konzentriert wirken.

Hier wäre dringend Abhilfe geboten, um die Technik im Namen einer transparenten Justiz auf den neuesten Stand zu bringen. Im Sommer haben die Gerichte monatelang Pause, sodass man hier sicher etwas machen könnte, wenn man wollte. Andererseits drängt sich das Gefühl auf, dass diese Pannen fast gewollt sind, um das Geschehen im Fall Assange zu verschleiern. Beobachter, die die Anhörung per Videolink verfolgen wollten und nicht in England oder Wales leben, wurden diesmal auch nicht zugelassen. Darunter fallen langjährige Assange-Verfahrensbeobachter wie Mary Kostakidis und Kevin Gosztola.

Der Verteidiger Edward Fitzgerald KC (King‘s Counsel, dt. Kronanwalt) eröffnete seine Ausführungen damit, dass die Bezirksrichterin in ihrem Schiedsspruch fälschlicherweise nicht erkannt habe, dass es sich bei diesem Auslieferungsbegehren um einen politischen Fall handelt. Politische Vergehen sind in Paragraf 4 des Auslieferungsvertrags zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich explizit ausgeschlossen. Leider hat es der Paragraf 4 nicht bis in das entsprechende Auslieferungsgesetz des Vereinigten Königreichs geschafft und so umschiffte Bezirksrichterin Baraitser diese Frage in ihrem Schiedsspruch.

Die Verteidigung argumentierte am Dienstag, dass es diese Paragrafen, die eine Auslieferung bei politischen Straftaten verbieten, in den Gesetzen für 153 andere Länder gibt, und dass man deswegen aus der Nichtexistenz im Auslieferungsgesetz für die USA nicht schließen könne, dass diese Klausel im Allgemeinen nicht existiert. Außerdem gibt es diesen Paragrafen ja im Vertrag mit den USA. Dies war auch das Thema einer Rückfrage von Richter Johnson an die Anklage am Mittwoch, der sinngemäß sagte: „Wir liefern auch in politischen Fällen an die USA aus, während die USA sich im umgekehrten Fall auf den Auslieferungsvertrag berufen und nicht ausliefern?“ Daraufhin hatte die Anklage nichts Sinnvolles zu sagen.

Ein weiterer Punkt der Verteidigung war die Frage, ob Julian Assange als Ausländer unter den Schutz des Ersten Verfassungszusatzes der USA fiele, der die freie Rede absolut schützt. Es gibt nämlich in der Anklageschrift und aus Kommentaren dazu Indizien, dass dies nicht der Fall ist. Auch zu einer diesbezüglichen expliziten Nachfrage von Richter Johnson, ob es für die Gleichbehandlung von Nicht-US-Bürgern Beweise gibt, konnte die Anklage am Mittwoch nichts Aussagekräftiges antworten.

Ein weiterer Punkt, den die Verteidigung anführte, war, dass Julian Assange mit den WikiLeaks-Enthüllungen im öffentlichen Interesse gehandelt hat und dass eine strafrechtliche Verfolgung in den USA beispiellos wäre und noch nie vorgekommen sei. Die Anklage konterte am Mittwoch damit, dass auch die Verbrechen, die Julian Assange vorgeworfen werden, beispiellos seien und deshalb aufs Strengste verfolgt werden müssten.

Auf Edward Fitzgerald KC folgte Mark Summers KC, der auf die Unverhältnismäßigkeit der möglichen Strafe mit 175 Jahren Freiheitsentzug einging, was sich mit dem Strafmaß im Vereinigten Königreich in ähnlichen Fällen decke.

Der letzte und vielleicht gravierendste Punkt in seinen Ausführungen war, dass die USA nirgendwo in ihrem Auslieferungsbegehren wirklich wasserdicht zugesichert haben, dass Julian Assange in den USA nicht die Todesstrafe droht. Als Summers diesen Punkt in einem Satz zusammenfasste, nickte Richter Jeremy Johnson sogar merklich. Auch die Vertreter der USA konnten die Todesstrafe am Mittwoch auf Nachfrage nicht hundertprozentig ausschließen. Sie bemerkten nur mehrmals sehr schwammig, dass dieser Fall nicht relevant sei.

Die Richterin und der Richter machten auf mich einen interessierten Eindruck, während vorherige Richter und Richterinnen der Verteidigung gegenüber desinteressiert, abweisend oder herablassend gewirkt haben.

Besonders Jeremy Johnson wirkte der Verteidigung gegenüber aufgeschlossen, während er am Mittwoch der Anklage gegenüber eher skeptisch schien und mehrmals sehr kritische und schwierige Nachfragen intelligent formulierte. Einmal schien er, als die Anklagevertreterin Clair Dobbin KC etwas sagte, sogar mit den Augen zu rollen und den Kopf zu schütteln. Sie selbst wirkte am Mittwoch etwas fahrig. Einmal stieß sie ein Glas Wasser um, auf den vor ihr sitzenden Chris Hedges, dann fielen ihr Akten herunter oder sie konnte diese nicht finden. Mehrmals wurde sie von Richterin Dame Victoria Sharp gebeten, lauter zu sprechen.

Am Ende des zweiten Verhandlungstages zogen sich die beiden Vorsitzenden zurück und als sie nach kurzer Zeit wieder erschienen, erklärten sie, dass sie die Entscheidung vertagt hätten. Die während der zwei Tage erwähnten Dokumente, die nachzureichen seien und verschiedene von Verteidigung und Anklage gemachte Punkte genauer erläutern, müssten noch studiert werden. Als letztes Datum für die Einreichung wurde der 4. März genannt. Ein Datum für die Verkündung der Entscheidung, ob die Berufung zugelassen wird, wurde nicht bekanntgegeben.

Das Verfahren wird sich zumindest eine Weile noch so schleppend hinziehen, wie es das schon seit Jahren tut. Meine Vermutung ist, dass die Berufung zugelassen wird, weil keiner der potenziellen US-Präsidentschaftskandidaten Julian Assange vor den Wahlen im November in den USA haben will. Julian Assange hat vehemente Feinde, aber auch starke Fürsprecher auf beiden Seiten und es wäre schwer, es allen recht zu machen. Darum, so mein Eindruck, ist es für die USA sowie Großbritannien günstiger, wenn Julian Assange weiter willkürlich und auf unbestimmte Zeit in seiner grausamen Schwebe gehalten wird. Beide Staaten können dann so tun, als seien sie für diese Lage nicht wirklich verantwortlich.

Manchmal frage ich mich, ob jemand sich ein Diagramm wie dieses angeschaut hat und dann überlegt hat, welcher der Wege am längsten dauert …

Ich bin mir nicht sicher, ob es sich bei der relativen Freundlichkeit der Richter gegenüber der Verteidigung und der Skepsis gegenüber der Anklage nicht um eine Form des britischen Sports des Debating handelt. Hierbei schlüpfen die Kontrahenten in Rollen und vertreten Positionen, hinter denen sie nicht unbedingt stehen. Das kann sehr lustig sein, aber auch sehr unecht. Ich hoffe, ich täusche mich und die Richter sind wirklich daran interessiert, die ausstehenden Punkte neutral in einem etwaigen Berufungsverfahren geklärt zu sehen. Vor allem Richter Johnson wirkte aufgeschlossen und zeigte Humor.

Leider ändert dies alles gar nichts an Julian Assanges aktueller Lage, denn er sitzt weiterhin auf unbestimmte Zeit, Tag für Tag alleine in seiner Zelle im Hochsicherheitsgefängnis in Belmarsh.

Auch der Demonstrationszug, der mehrere Tausend Menschen am Mittwoch vom Gericht zum Sitz des Premierministers in der Downing Street führte, hat daran bis heute nichts geändert. Es liegt in der Macht US-amerikanischer oder britischer Politiker, diesen Fall abzuschließen und zu den Akten zu legen. Vielleicht sehen sie endlich ein, dass sie von der Weltöffentlichkeit beobachtet werden. Dazu tragen Demonstrationen, Mahnwachen und Medienberichte vielleicht bei.

In den nächsten Tagen werde ich noch weitere Links und weiterführende Gedanken zu diesem Thema zusammenfassen.

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