Stillstandsmanagement. Die Deutsche Bahn rauscht mit Karacho vor die Wand.

Stillstandsmanagement. Die Deutsche Bahn rauscht mit Karacho vor die Wand.

Stillstandsmanagement. Die Deutsche Bahn rauscht mit Karacho vor die Wand.

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Die DB AG hat 2023 über zwei Milliarden Euro an Verlusten eingefahren, zehnmal mehr als im Jahr davor. Eine Pleite mit Ansage ist das für die Initiative „Bürgerbahn“, die in ihrem alljährlich veröffentlichten „Alternativen Geschäftsbericht“ den Finger in eine Vielzahl an Wunden legt: Geschwindigkeits- und Größenwahn, planlose und gierige Führungskräfte, teure Auslandsabenteuer, eine Netzgesellschaft als „Fehlkonstruktion“ und Verschleuderung öffentlichen Eigentums. Selbst an der geplanten Generalsanierung des Netzes lassen die Kritiker kein gutes Haar. Als Baustelle unter „ruhendem Rad“ gerate das Vorhaben zum „Abgewöhnungsprogramm“. Von Ralf Wurzbacher.

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Die Deutsche Bahn (DB) jagt von einem „Rekord“ zum nächsten. Schienennetz: so marode wie sonst nirgendwo in der industrialisierten Welt. Pünktlichkeit: Im Fernverkehr kamen im Vorjahr 36 Prozent der Züge zu spät. „Deutschlandtakt“: Umsetzung bis 2070, vielleicht erst 2090. Fehlen noch die Bilanzen, über die der Vorstand die Öffentlichkeit am Donnerstag unterrichtete. Ergebnis für 2023: 2,4 Milliarden Euro Verluste, zehnmal mehr als 2022, dazu 34 Milliarden Euro Schulden. Chapeau!

Aber schlimmer geht immer beim quasi-privatisierten Staatskonzern. Ab diesem Jahr will die DB ganz groß in die Ertüchtigung der in Jahrzehnten verschlissenen Infrastruktur einsteigen. Bis 2030 sollen dafür 40 Hochleistungskorridore generalsaniert und zu diesem Zweck voll gesperrt werden, für jeweils mehrere Monate, vielleicht auch länger. Los geht es im Juli mit der Riedbahn zwischen Frankfurt (Main) und Mannheim, Fertigstellung bis frühestens Weihnachten, vielleicht auch später. In der PR-Abteilung laufen dieses und die folgenden Projekte unter Erneuerung und „für Jahre keine Baustellen mehr“. Dem Bahnkenner Benedikt Weibel fällt dazu anderes ein: „selbstmörderisch“, ein „Abgewöhnungsprogramm für Bahnkunden“.

Generalblockade

Weibel weiß, wovon er spricht. Er war jahrelang Vorsitzender der Geschäftsleitung der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), der weltweiten Vorzeigebahn schlechthin. Bei den Eidgenossen – und nicht nur da – erfolgen Instandsetzungen „unter laufendem Rad“, also ohne Verkehrseinschränkungen. „Wir sanieren unseren Hauensteintunnel jetzt zum zweiten Mal auf zwei Spuren, durch den der ganze Transitverkehr, Güter- und Personenverkehr, geht. Der wird im Betrieb saniert und das geht!“ Was wolle man denn „mit den ganzen Fahrgästen machen“ in der Zeit der Vollblockade, fragt sich Weibel: „Die werden massenhaft zur Straße abwandern, weil sie den notdürftigen Schienenersatzverkehr und die langen Umleitungen nicht akzeptieren.“ Und dann meint er noch zur deutschen Strategie, „rein empirisch hat es noch nie eine Bahn vergleichbar so gemacht“.

Gesagt hat er dies in einem Interview mit „Bürgerbahn“, der von kritischen Eisenbahnfachleuten getragenen „Denkfabrik für eine starke Schiene“. Zum 16. Mal legte die Initiative am Mittwoch, am Vortag, und als Gegenstück der offiziellen DB-Bilanzpressekonferenz den „Alternativen Geschäftsbericht Deutsche Bahn“ vor. Titel: „DB AG – Weiterhin ein Generalsanierungsfall.“ Das Gespräch mit Weibel ist bloß ein Beitrag von fast 50 in dem 160-seitigen Report, aber fraglos ein Highlight der Textsammlung.

Absolut unglaublich!

Angesichts der deutschen Verhältnisse entfährt dem Gefragten gleich fünfmal das Wörtchen „unglaublich“. Der Hochgeschwindigkeitswahn, der in einem so dicht besiedelten Land wie der BRD „überhaupt keinen Sinn“ mache – „unglaublich teuer“, dazu „unglaublich“ energieintensiv. Oder dass nur 60 Prozent des Netzes elektrifiziert sind – „Das ist eigentlich absolut unglaublich“ und Beweis für „ein kollektives Versagen sämtlicher Organe des Staates, des Rechnungshofes, aller, die dieses Netz derart vernachlässigt haben, auch die Modernisierung“.

Unfassbarkeiten liefert die Bahn noch allerhand mehr – zum Beispiel mit ihrem Geschäftszweig „Stillstandsmanagement“, den der „Bürgerbahn“-Aktive Michael Jung in einem Beitrag beleuchtet. Demnach bezieht die DB von Siemens mehr neue ICE-4-Einheiten, als gebraucht werden, gerade wegen des grotesken Generalsanierungsverfahrens, das den Betrieb über Jahre ausbremsen wird. Deshalb rangiert man eifrig alte Lokomotiven und Zuggarnituren aus, die eigentlich noch fahrtüchtig sind. Bevorzugt wurden diese bisher ins Ausland verkauft, nur damit sie nicht der einheimischen Konkurrenz in die Hände fallen. Allerdings gelangte das Rollmaterial nicht selten über Umwege doch wieder auf den deutschen Markt. Deswegen tut der Konzern inzwischen so, als habe er gar nichts im Angebot. Bei Anfragen lässt er Interessenten einfach abblitzen, obwohl die Betriebshöfe voll sind mit Loks, Waggons und Triebwägen.

Verrottet und verschrottet

Statt also die Fahrzeuge entweder aufzurüsten oder gewinnbringend zu veräußern, lässt man sie lieber vergammeln und verschrotten, was für Jung mit Nachhaltigkeit und schonendem Umgang mit Ressourcen „nichts zu tun“ habe und ein Fall von „Verschleuderung öffentlichen Eigentums“ sei. Aber so skandalös die Vorgänge sind, so wenig bekommt die Öffentlichkeit davon mit. Der ganze Bereich Verwaltung, Verkauf, Verwertung und Entsorgung von gebrauchtem Eisenbahnmaterial ist auf unzählige Bahn-Töchter aufgesplittet, Jung nennt beispielhaft nur 14. Und über deren Aktivitäten schweige sich der „knapp 300-seitige Integrierte Bericht des DB-Konzerns 2022 famos aus“.

Die Alternative von „Bürgerbahn“ ist wie immer eine krachende Abrechnung mit einer Unternehmenspolitik, die in drei Jahrzehnten aus einer einst bestens funktionierenden Bahn einen chronischen Betriebsunfall gemacht hat. Behandelt wird eine lange Reihe an Baustellen: irrwitzige Prestigeprojekte, verschlissene Infrastruktur, gierige Vorstände, teure Auslandsaktivitäten, Hochgeschwindigkeitsverkehr, der hausgemachte Personalmangel oder die Fehlkonstruktion der neuen Netzsparte InfraGO. Über deren Fehlstart und Unzulänglichkeiten hatten die NachDenkSeiten zuletzt unter dem Titel „Endstation Haushaltsloch“ berichtet, insbesondere über den Widerspruch, in Gestalt einer Aktiengesellschaft „Gemeinwohlorientierung“ zu realisieren.

Führungsetage sanieren

Die InfraGO als AG aufzusetzen, sei „sachlich nicht erklärbar, geschweige denn nachvollziehbar“, findet auch „Bürgerbahn“. Die Gesellschaft sei „falsch aufgegleist“ und vertusche nur die tiefergreifenden Strukturprobleme, die allein durch eine umfassende Organisationsreform des Konzerns zu beheben wären. Dazu zähle eine Lichtung des Dickichts aus über 500 Firmentöchtern, die „Verabschiedung vom Auslandsgeschäft“, eine „Refokussierung auf das Bahngeschäft in Deutschland“ – und das alles verbunden mit einer Sanierung der Finanzen des hochgradig verschuldeten Unternehmens.

Einer „Sanierung“ bedürfe es insbesondere im Bereich des Managements, fordert die „Denkfabrik“. Den meisten Vorständen fehlten die nötigen eisenbahntechnischen und verkehrskonzeptionellen Qualifikationen. Kritisiert wird einmal mehr die einseitige Verteilung der viel zu knappen Investitionen auf wenige überteuerte Groß- und unsinnige Immobilienprojekte, während der ländliche Raum einer „dramatischen Vernachlässigung“ anheimfalle und Hunderte wichtiger Reaktivierungen nicht vorankämen. Dabei benötige auch das Land kleine, an den Bedarf angepasste S-Bahn-Systeme, um die vielen Klein- und Mittelstädte mit dem Umland zu verbinden. „Verkehrswende ohne ländlichen Raum geht nicht“, bekräftigt „Bürgerbahn“ und verlangt dafür insbesondere die Reaktivierung der vor 22 Jahren ausgemusterten Zuggattung Interregio.

Milliarden für Kapazitätsengpass

Während fürs Kleine kein Geld da ist, verballert die Bahn massenhaft Kohle für ihren Größenwahn beziehungsweise versenkt sie in der Erde. Dafür steht vorneweg „Stuttgart 21“. Bei derlei „Tunnelorgien“ explodierten Kosten und Bauzeiten (Stand jetzt 11,5 Milliarden Euro, Fertigung frühestens Ende 2025) und werde unnötig viel CO2 freigesetzt, beanstanden die DB-Kritiker. Ihr Befund: „S21 macht aus einem gut funktionierenden Bahnknoten einen schlimmen Kapazitätsengpass“, wobei auch die geplante Digitalisierung fehlende Gleise und Weichen nicht ersetzen könne.

Die Initiative wirbt für das Prinzip „Takt vor Tempo“ und verlangt, dass der vorwiegend für den Nahverkehr initiierte „Deutschlandtakt“ nicht auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wird. Vor einem Jahr hatte der Beauftragte der Bundesregierung für den Schienenverkehr, Michael Theurer (FDP), die Taktrealisierung auf das Jahr 2070 datiert. „Manche reden sogar angesichts von Mittelkürzungen für die Bahn schon von 2090“, heißt es im Alternativbericht. Faktisch würden damit die Klimaziele der Ampelregierung im Bereich Schiene bis 2030 ebenso aufgegeben wie die in der DB-Konzernstrategie „Starke Schiene“ genannten Mengenziele.

Vollständige Gemeinnützigkeit

Ferner plädiert „Bürgerbahn“ für eine Personaloffensive. Erforderlich seien familienfreundliche Tarifregelungen, die die Bahn auch für jungen Nachwuchs, für Frauen und für Teilzeitkräfte attraktiv machten. „Wenn sich die Bahn diesbezüglich nicht bewegt, droht ihr eine weitere Zunahme der ohnehin katastrophalen Verspätungsprobleme und Zugausfälle.“

Bewegung täte dem Konzern auf so ziemlich allen Feldern gut, am besten in Form einer Radikalkur. Ebenfalls am Mittwoch meldete sich das Bündnis „Bahn für Alle“ zu Wort: „Die DB AG lässt ihre Kunden und Beschäftigten so sehr im Stich, dass nur noch eine vollständige Gemeinnützigkeit Abhilfe schaffen kann.“ Für diese Lösung und gegen ein Fortdauern der Gewinnorientierung hätten sich bei einer Umfrage über 70 Prozent der Teilnehmer ausgesprochen, erklärte Verbandssprecher Carl Waßmuth.

Ob die Regierenden das mitmachen? Wahrscheinlicher ist ein anderes Szenario. Weil der Dreh mit der InfraGO wie zum Scheitern gemacht wirkt, werden Forderungen nach einer Abspaltung des Netzes aus dem formal noch integrierten DB-Konzern bald wieder lauter werden, seitens der Union und wohl auch aus Reihen von FDP und Grünen. „Absolut dagegen“ ist Ex-SBB-Chef Weibel. „Wenn man das auseinandertrennt und jeder Bereich optimiert sich selbst, dann geht das zu Lasten des Gesamtsystems.“ Und wenn es am Ende doch so kommt? Weibel fände das bestimmt „unglaublich“.

Titelbild: Martin Lehmann/shutterstock.com

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