Tagesschau behauptet, Grünen-Politiker seien am meisten von Gewaltdelikten betroffen: Doch stimmt das wirklich?

Tagesschau behauptet, Grünen-Politiker seien am meisten von Gewaltdelikten betroffen: Doch stimmt das wirklich?

Tagesschau behauptet, Grünen-Politiker seien am meisten von Gewaltdelikten betroffen: Doch stimmt das wirklich?

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

In einem Beitrag vom 4. Mai verkündet die Tagesschau mit Verweis auf die Antwort der Bundesregierung auf eine entsprechende Anfrage, dass „Politikerinnen und Politiker der Grünen“ besonders betroffen seien von sogenannten „Gewaltdelikten“. Die Tagesschau nennt in diesem Zusammenhang die Zahl von 1.219 erfassten Fällen im Jahr 2023. Schaut man sich die in der Antwort der Bundesregierung vorgelegten Zahlen jedoch näher an, wird deutlich, dass von den 1.219 Fällen ein Großteil, nämlich 947 aller Fälle, gar nicht unter Gewalt-, sondern unter „Äußerungsdelikte“, also Beleidigungen, Verleumdungen etc., aufgelistet worden waren. Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund wissen, ob die Darstellung des ARD-Flaggschiffs, dass Grünen-Politiker die größte Opfergruppe von Gewalttaten darstellen, korrekt ist, und baten die Bundesregierung um Aufklärung des Sachverhalts. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Hintergrund

Unter der Zwischenüberschrift „Vermehrt Übergriffe auf Politikerinnen und Politiker“ schrieb die Tagesschau-Redaktion am 4. Mai in einem Artikel ohne jede Autorenkennzeichnung Folgendes:

„Gewaltdelikte gegen Parteirepräsentanten waren zuletzt vermehrt verübt worden. Laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine AfD-Anfrage waren Politikerinnen und Politiker der Grünen besonders betroffen: 1.219 Fälle wurden laut vorläufigen Zahlen im Jahr 2023 erfasst. Das ist ein deutlicher Anstieg, 2022 waren es noch 575 Delikte.“

Zahlen der Bundesregierung widersprechen der Tagesschau-Darstellung

Schaut man sich die von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen näher an, fragt man sich allerdings unwillkürlich, wie die Tagesschau auf diese Zahlen zu „Gewaltdelikten“ gegen Grünen-Politiker für das Jahr 2023 gekommen ist.

In der Antwort der Bundesregierung (Drucksache 20/10177) werden für das Jahr 2023 genau 62 „Gewaltdelikte“ gegen Parteirepräsentanten von Bündniss90/Die Grünen aufgeführt. Dazu kommen, separat aufgeführt, 947 sogenannte „Äußerungsdelikte“.

Beide Einordnungen werden von der Bundesregierung in der Antwort auch entsprechend definiert:

„Gewaltdelikte“ umfassen laut der Bundesregierung die folgenden Deliktgruppen: Tötungsdelikte, Körperverletzungen, Brandstiftungen, Sprengstoffdelikte; Landfriedensbruch, Gefährlicher Eingriff in den Verkehr, Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsdelikte, Sexualdelikte.

„Äußerungsdelikte“ begrenzen sich laut Bundesregierung auf: Bedrohung gemäß § 241 StGB, Beleidigung gemäß § 185 StGB, Nötigung v. Verfassungsorganen gemäß § 106 StGB, Nötigung gemäß § 240 StGB, üble Nachrede gemäß den §§ 186 ff. StGB, verhetzende Beleidigung gemäß § 192a StGB, Verleumdung gemäß § 187 StGB, Verunglimpfung gemäß den §§ 90 ff. StGB, Volksverhetzung gemäß § 130 StGB.

Doch selbst wenn die Tagesschau-Redaktion, entgegen allen gängigen Vorgaben und Definitionen, die 947 Äußerungsdelikte zu den tatsächlich erfassten 62 „Gewaltdelikten“ dazu addiert hätte, käme man noch nicht auf die vom ARD-Flaggschiff verbreitete Zahl von 1.219 „Gewaltdelikten“ gegen Grüne-Funktionäre im Jahr 2023. Dass auf die entsprechende Nachfrage der NachDenkSeiten der Sprecher des Innenministeriums die Reputation der Tagesschau retten will, indem er erklärt, „Und ja, auch verbale Angriffe und Bedrohungen, wenn man an Morddrohungen, Vergewaltigungsdrohungen und Ähnliches denkt, sind natürliche Angriffe“, ist aller Ehren wert, ändert aber nichts an der Tatsache, dass das ARD-Flaggschiff mit der Behauptung von angeblich 1.219 Fällen an Gewaltdelikten gegen Grünen-Politiker im Jahr 2023 astreine Fakenews verbreitet hat. ARD-Faktenfinder und Correctiv, bitten übernehmen Sie!

Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 6. Mai 2024

Vize-Regierungschefin Hoffmann
Ich möchte hier an dieser Stelle im Namen des Bundeskanzlers und der Bundesregierung betonen, dass wir die brutalen Überfälle auf engagierte Kandidatinnen und Kandidaten und ihre Helferinnen und Helfer im Wahlkampf auf das Schärfste verurteilen. Die Demokratie braucht Engagement. Wer die Menschen angreift, die sich für das Gemeinwesen einsetzen, greift die offene und demokratische Gesellschaft an.

Der Bundeskanzler hat sich bereits klar zu dem Vorfall geäußert. Achselzuckendes Hinnehmen ist niemals eine Option, sagte er. Angriffe wie der auf den Europaabgeordneten Matthias Ecke sowie auf Kandidatinnen und Kandidaten anderer Parteien oder Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker bedrohen unsere Demokratie. Wir müssen gemeinsam dagegenstehen. Gewalt darf niemals ein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein. Dabei ist es unerheblich, gegen wen sie sich richtet oder was das Motiv dafür ist. Wir können und werden diese Angriffe auf unsere freiheitliche demokratische Grundordnung nicht hinnehmen und gehen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln des Rechtsstaats entschieden dagegen vor.

Frage Krämer
An das BMI: Heute Morgen wurde bekannt gegeben, dass vier Beschuldigte ermittelt wurden alle Teenager, 17 bis 18 Jahre, also ungewöhnlich jung, und alle aus Deutschland. Wie ist das zu bewerten?

Kall (BMI)
Das würde ich für das BMI und für die Sicherheitsbehörden des Bundes nicht bewerten wollen; denn es ist wirklich Sache der Staatsanwaltschaft in Dresden und des LKA Sachsen, die die Ermittlungen führen, sich dazu näher zu äußern. Insbesondere bei so jungen Beschuldigten möchte ich da jetzt auch nicht spekulieren. Das wird sicherlich alles noch sehr genau beleuchtet werden.

Wie Sie wissen, wird morgen voraussichtlich eine Sonderkonferenz der Innenministerinnen und Innenminister der Länder und des Bundes stattfinden, zu der der IMK-Vorsitz einlädt, worum die Bundesinnenministerin am Samstag im Gespräch mit dem brandenburgischen Innenminister und IMK-Vorsitzenden Herrn Stübgen gebeten hat, weil es aus ihrer Sicht dringend notwendig ist, jetzt den Schutz der demokratischen Kräfte in unserem Land weiter zu erhöhen, und das auf allen Ebenen.

Der Bund wird natürlich mit den Sicherheitsbehörden des Bundes auch seinen Beitrag dazu leisten, insbesondere mit dem, was das BKA gegen Hasskriminalität tut. Es ist ja ein ganz wesentlicher Schwerpunkt der Arbeit der Sicherheitsbehörden des Bundes und insbesondere des BKA, dieser Gewalt, die wir jetzt auf den Straßen sehen und die sich im Netz entwickelt hat, und dieser Radikalisierung und Enthemmung, Brutalisierung des Diskurses Einhalt zu gebieten und Hasskriminalität konsequent zu verfolgen. Das wird das BKA natürlich weiter ganz massiv tun.

Auch an anderen Stellen hat der Bund einiges auf den Weg gebracht, etwa zum Schutz von Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern. Sie erinnern sich an das 13-Punkte-Paket zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, das die Bundesinnenministerin hier Mitte Februar vorgestellt hat. All das sind ja Maßnahmen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken; denn wir erleben hier, wie die Bundesinnenministerin gesagt hat, mit dieser äußerst brutalen Gewalttat gegen den sächsischen Europaabgeordneten Matthias Ecke eine neue Dimension antidemokratischer Gewalt. Das ist eine weitere Eskalation nach einer langen Reihe von immer neuen Grenzüberschreitungen, Einschüchterungsversuchen, Übergriffen. Es ist ein Klima der Gewalt entstanden, das weiter zugenommen hat, was Täter zu solchen Taten ermutigt. Es hat möglicherweise – auch darauf zielte ja Ihre Frage – sehr junge Täter zu solchen Taten ermutigt und gibt ihnen vermeintlich das Gefühl, zu so etwas berechtigt zu sein. Das wird man sehr genau untersuchen müssen.

Entscheidend ist aber, dieser Hasskriminalität, die diesen Nährboden bildet, sehr konsequent zu begegnen. Über alle Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang von den Landesbehörden, aber auch von den Bundesbehörden getroffen werden, wird die Sonderinnenministerkonferenz dann morgen beraten.

Frage Warweg
Ich hätte dazu eine generelle Verständnisfrage: Die Tagesschau hat im Zuge der Gesamtberichterstattung zu dem Thema erklärt, dass 2023 die meisten Gewaltdelikte gegen Parteirepräsentanten der Grünen erfolgte, und nennt dabei die Zahl von 1219 Fällen. Wenn man sich diese BKA-Statistik näher anschaut, dann sieht man aber, dass ein Großteil der Fälle – ich glaube, 947 Fälle – als Äußerungsdelikte vermerkt werden. Ich bin bisher immer davon ausgegangen, dass Äußerungsdelikte nicht als Gewaltdelikte gelten oder vom BMI bzw. BKA entsprechend vermerkt werden. Könnten Sie diesbezüglich einmal Klarheit schaffen? Fallen Äußerungsdelikte unter Gewaltdelikte?

Kall (BMI)
Das kann ich sehr gerne tun, Herr Warweg. Gefragt war hier nach Angriffen auf Repräsentantinnen und Repräsentanten der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Unter diese Angriffe wurden einerseits Gewaltdelikte und andererseits Äußerungsdelikte, wozu etwa Bedrohungen, Verleumdungen, Volksverhetzungstaten gehören, gefasst. Das wurde da entsprechend differenziert, weil es insgesamt um Angriffe geht. Und ja, auch verbale Angriffe und Bedrohungen – wenn man an Morddrohungen, Vergewaltigungsdrohungen und Ähnliches denkt – sind natürliche Angriffe.

Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 06.05.2024

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