Anatol Lieven: Warum Europas Militarisierung die falschen Prioritäten setzt

Anatol Lieven: Warum Europas Militarisierung die falschen Prioritäten setzt

Anatol Lieven: Warum Europas Militarisierung die falschen Prioritäten setzt

Ein Artikel von Éva Péli

In einem Gespräch mit den NachDenkSeiten warnt der britische Politologe und Historiker Anatol Lieven vor einer „Hysterie“ gegenüber Russland und einer Fehlleitung der europäischen Militärstrategie. Er plädiert für eine Revolution in der Kriegsführung: weg von teuren Waffensystemen wie Panzern hin zu effektiven, kostengünstigeren Lösungen wie Drohnen und Minen. Lieven hinterfragt die ethischen Kosten des Ukraine-Kriegs, kritisiert das Fehlen von Diplomatie und betrachtet die Aufrüstung als potenziellen Irrweg zur Unabhängigkeit von den USA. Das Interview hat Éva Péli geführt.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Éva Péli: Herr Lieven, Europa erlebt derzeit eine erhebliche Militarisierung, mit steigenden Verteidigungsausgaben und dem Wunsch, die eigene Rüstungsindustrie zu stärken. Wie schätzen Sie das ein?

Anatol Lieven: Ich denke, Europa braucht eine verstärkte Rüstung. Ohne ein solides Vertrauen in die eigene Verteidigungsfähigkeit bleibt es eine Geisel der USA und ihrer Agenden, von denen einige sehr gefährlich sind und nicht Europas Interessen dienen. Allerdings gibt es hierbei zwei wichtige Aspekte zu beachten: Erstens muss die Aufrüstung maßvoll und nicht überstürzt erfolgen. Zweitens, die militärischen Lehren aus dem Ukraine-Krieg sind unmissverständlich: Eine effektive Verteidigung Europas erfordert Landminen, Drohnen, Luftabwehrsysteme und schwere Artillerie. Drohnen sind sehr günstig – die Ukrainer zeigen, dass man extrem effektive Drohnen für tausend Dollar bauen kann. Im Gegensatz dazu haben sich teure Waffen, in die über Jahre viel Geld investiert wurde, als ineffektiv erwiesen. Panzer sind als Durchbruchswaffe gescheitert. Kampfhubschrauber wurden vom Himmel geholt. Kampfflugzeuge spielen eine Rolle, feuern aber meist aus der Distanz auf Bodenziele. Auch Raketen, die Russland einsetzt, richten wegen der Anti-Raketen-Systeme weniger Schaden an als erhofft.

Wie passt die Forderung nach mehr Rüstung mit Ihrer Kritik an teuren Waffensystemen zusammen?

Der Wunsch, durch diese Ausgaben die Industrie Europas wiederzubeleben und die Hightech-Sektoren wieder aufzubauen, steht im Widerspruch zu dieser Idee. Das würde nämlich dazu führen, dass man genau die Art von Waffen produziert, die wir nicht brauchen: Panzer, Kampfhubschrauber, Kampfflugzeuge. Die wirklich nützlichen Waffen wären viel billiger.

Was ich zutiefst missbillige, ist die Hysterie, die um einen möglichen russischen Angriff auf Deutschland oder die baltischen Staaten geschürt wird. Das ist angesichts der tatsächlichen russischen Fähigkeiten und Kalkulationen äußerst merkwürdig. Es gibt nichts, was Russland gewinnen könnte, das das Risiko einer solchen Operation rechtfertigen würde, anders als ihre falschen Hoffnungen in der Ukraine. Es scheint aber, dass das Schüren dieser Hysterie als der einzige Weg angesehen wird, die europäische Bevölkerung dazu zu bringen, so viel mehr für das Militär auszugeben – besonders, wenn Sozialbudgets und Infrastruktur unter starkem Druck stehen. Nehmen Sie Großbritannien, das einige der größten Versprechen bezüglich höherer Militärausgaben gemacht hat: Die Labour Party hat vor Kurzem einen Aufstand gegen die eigene Regierung gemacht, um Kürzungen bei den Sozialausgaben zu stoppen. Die britische Regierung hoffte also, fünf Milliarden Pfund (ca. 5,7 Milliarden Euro) einzusparen, um sie für das Militär auszugeben? Fehlanzeige.

Sie sehen also in der Angst vor Russland ein bewusst eingesetztes politisches Instrument?

Absolut. Das Problem bei diesem ständigen Schüren von Hysterie über eine externe Bedrohung ist, dass es wie eine Droge wirkt. Man braucht immer mehr davon, muss es ständig injizieren. Uns wird gesagt, dass Russland die NATO und die EU in fünf Jahren angreifen könnte. Wenn das nicht passiert, muss man eine weitere massive Dosis Hysterie injizieren, um die Öffentlichkeit weiter zahlen zu lassen. Das erinnert mich stark an das Kaiserreich und Bismarcks Politik. Es dient natürlich auch dazu, die Macht der bestehenden europäischen Mainstream-Parteien und -Eliten zu konsolidieren. Aber sobald man davon abhängig ist, muss man diese Atmosphäre der Angst aufrechterhalten.

Viele derjenigen, die diese Ansichten vertreten, fordern – ob aus Überzeugung oder aus zynischer politischer Berechnung –, den Ukraine-Krieg fortzusetzen. Sie argumentieren, dass Russland uns angreifen wird, sobald der Krieg vorbei ist. Doch wenn der Krieg endet, würde Russland für viele Europäer als weit weniger bedrohlich wahrgenommen, da die Bilder des russischen Angriffs auf die Ukraine dann fehlen.

Dann stellt sich die Frage: Soll das eine ethische Politik sein, bei der Ukrainer sterben, um uns vor einer völlig hypothetischen russischen Bedrohung zu schützen?

Die Antwort darauf lautet oft: „Aber die Ukrainer haben doch gezeigt, dass sie kämpfen und weiterkämpfen wollen.“ Das ist jedoch eine falsche Darstellung der Realität. Man sieht Bilder von jungen ukrainischen Männern, die offensichtlich nicht kämpfen wollen – sie werden geschlagen und in Militärtransporter gezwungen oder riskieren ihr Leben, um aus der Ukraine zu fliehen.

Es ist leicht, von Berlin aus über die angebliche Bereitschaft der Ukrainer, zu sterben, zu sprechen. Solche Aussagen wären nur dann respektabel, wenn sie an der Frontlinie in der Ukraine gemacht würden, nicht bequem hinter einem Schreibtisch. Das ist der Inbegriff eines Schreibtischtäters.

Sie beschreiben, dass die Kombination aus Drohnen und Minen die Kriegsführung verändert. Wie genau macht diese Entwicklung klassische Großwaffen wie Panzer weniger effektiv?

Ich habe auch Zeit in der Ukraine verbracht, wo ich mit ukrainischen Veteranen gesprochen habe, die mir sagten, dass die Kombination aus Minen und Drohnen bedeutet, dass man keine großen Mengen an Fahrzeugen oder Infanterie vorrücken lassen kann. Im Zweiten Weltkrieg gab es Minenfelder, aber man musste sie entweder mit Maschinen oder zu Fuß räumen. Das ist heute mit Drohnen am Himmel unmöglich. Man ist lange Zeit ungeschützt, eine fahrende Zielscheibe, egal ob Mensch oder Maschine. Man ist im Freien, die Drohne kommt – tot. Es gibt Bilder von zerstörten russischen Panzern, die eindeutig nicht an der Frontlinie stehen. Sie werden in kleinen Gruppen von hinten herangeführt, und die Ukrainer erwischen sie. Panzer sind zu stationären und gut getarnten Artillerieeinheiten degradiert.

Ähnlich verhält es sich mit der Ansammlung von Masse für einen Durchbruch. Die russischen Militäreinheiten bringen Verstärkungen in Dreiergruppen an die Frontlinie, denn alles, was größer ist, wird leicht entdeckt. Die Behauptungen westlicher Geheimdienste und Journalisten über russische „Menschenwellen“-Angriffe sind laut den Veteranen absoluter Quatsch. Minen und Drohnen machten solche Angriffe unmöglich, sagten sie.

Die Videos, die von Militär-Blogs als Beweise für solche Angriffe präsentiert werden, zeigen etwas völlig anderes: Einzelne ukrainische Drohnen jagen einzelne russische Soldaten oder kleine Gruppen. Diese Gruppen stürmen nicht mit dem Bajonett, sondern versuchen, sich in Schützengräben in Sicherheit zu bringen.

Polen und die baltischen Staaten haben das internationale Landminenabkommen verlassen. Was halten Sie davon?

Ich halte es für richtig. Ich denke, es ist absolut möglich, in Polen und den baltischen Staaten Verteidigungsanlagen zu schaffen, die es Russland unmöglich machen würden, schnell zu gewinnen. Wenn Russland nicht schnell gewinnt, kann es einen Zermürbungskrieg gegen eine europäische Wirtschaft, die zwölfmal größer ist, und eine viermal größere Bevölkerung unmöglich gewinnen. Hinzu kommt, dass es bei einem direkten Krieg zwischen Russland und der NATO eine vollständige Seeblockade Russlands gäbe. Abgesehen von dem, was sie auf dem Landweg per Pipeline nach China exportieren können, würden alle ihre Exporte abgeschnitten. Das wären keine Sanktionen mehr. Wenn sie uns angreifen, sind wir im Krieg, es gibt eine Blockade. Das würde der russischen Wirtschaft enormen Schaden zufügen.

Die Annahme scheint zu sein, dass die Russen so verrückt sind, dass sie über all diese Dinge nicht nachdenken. Angesichts des faktischen Scheiterns der russischen Kampagne in der Ukraine – die Hoffnung auf einen schnellen Sieg hat sich zerschlagen, nur 20 Prozent des Landes wurden erobert, während der Rest unabhängig und stark antirussisch ist – kann man das als eine russische Niederlage, nicht als Sieg bezeichnen. Es ist zwar keine vollständige Niederlage und kein vollständiger ukrainischer Sieg, aber es ist zumindest ein qualifizierter ukrainischer Sieg. Die russische Führung ist durchaus in der Lage, diese Lektion zu lernen. Aber hier scheint niemand – oder nur sehr wenige – im westlichen Establishment auch nur daran interessiert zu sein, die Dinge aus der russischen Perspektive zu verstehen oder mit den Menschen in Russland zu sprechen. Stattdessen bekommen wir Annahmen, Bilder, die größtenteils nur in unseren eigenen Köpfen existieren, nicht in der Realität.

Wie beurteilen Sie die langfristige Finanzierbarkeit der europäischen Militarisierung, insbesondere in Deutschland, angesichts knapper Budgets und steigender sozialer Ausgaben?

Ich denke, das wird zu immer mehr interner politischer Instabilität führen. Das sehen wir bereits in vielen Ländern, vielleicht noch nicht so stark in Deutschland.

Ein Industrieplan, der auf Militärausgaben basiert, ist wahrscheinlich der inkompetenteste, korrupteste und am wenigsten effiziente, den man sich vorstellen kann – es sei denn, jemanden wie Stalin oder Hitler ist am Ruder, der die Verträge pünktlich erfüllt, weil sonst drastische Konsequenzen drohen.

Infolgedessen sehen wir einen Skandal nach dem anderen, immer höhere Kosten, Generäle, die Verträge unterzeichnen, dann von denselben Industrien angestellt werden, gewaltige Mehrausgaben und unvorstellbare Verzögerungen. Zudem sind innerhalb des Militärs selbst die Strukturen oft ineffizient. Ich glaube nicht, dass das nachhaltig ist.

Die massive Aufrüstung Europas steht vor einer enormen finanziellen Herausforderung. Wie wir in Großbritannien sahen, wo die Regierung beinahe an der Kürzung von Sozialleistungen scheiterte, um Verteidigungsausgaben zu finanzieren, ist der gesellschaftliche Widerstand gegen solche Prioritäten spürbar. Wenn die europäischen Volkswirtschaften stagnieren, zudem die Infrastruktur weiter verfällt, ist es unwahrscheinlich, dass die Bürger bereit sind, höhere Militärausgaben zu akzeptieren.

Wie schätzen Sie die aktuelle Militarisierungsstrategie in Deutschland ein?

Der Begriff „Zeitenwende“ beschreibt eine tiefgreifende Veränderung im deutschen Denken. Ich glaube jedoch, dass die viel größere Wende durch den Klimawandel erzwungen wird. Wir haben die globale Erwärmung von 1,5 Grad bereits überschritten und steuern unaufhaltsam auf zwei Grad zu – eine Schwelle, ab der unkontrollierbare Rückkopplungsschleifen und massive Risiken drohen.

Innerhalb einer Generation werden die Auswirkungen des Klimawandels so gravierend sein, dass alle anderen Themen in den Hintergrund treten. Die Kosten für die Abmilderung dieser Folgen werden gigantisch sein: von der Wüstenbildung in Südeuropa bis zu massiven Migrationsbewegungen aus klimageschädigten Regionen. Geld, das wir jetzt für Rüstung ausgeben, könnten wir in diesen dringend notwendigen Wandel investieren.

Die Vorstellung, dass Russland die europäische Demokratie stürzen könnte, ist absurd. Viel wahrscheinlicher ist, dass eine verhängnisvolle Kombination aus Klimawandel, Migration und wirtschaftlicher Stagnation unsere Gesellschaften tatsächlich destabilisiert.

Der französische Historiker Emmanuel Todd argumentiert, dass Deutschlands industrielles Potenzial, wenn es zur Aufrüstung genutzt wird, eine Bedrohung für Russland darstellen kann. Da Deutschland die führende Industriemacht Europas ist, sei eine solche Rüstung nur hier in diesem Ausmaß möglich. Wie bewerten Sie diese Einschätzung, dass Deutschlands Rüstungsindustrie eine potenziell bedrohliche Rolle für Russland spielen könnte?

Ich sehe die deutschen Militärausgaben an sich nicht als direkte Bedrohung für Russland, es sei denn, es geht um Waffenlieferungen an die Ukraine. Diese Lieferungen sind eindeutig eine Bedrohung für Russland. Es ist jedoch sehr klar, dass keine deutsche politische Partei und nur einige wenige Extremisten einen direkten Krieg mit Russland in der Ukraine oder anderswo befürworten.

Ich habe zum Beispiel mit einem deutschen Freund gesprochen, der die aktuelle antirussische Hysterie ablehnt. Er sagte, er unterstütze die Entsendung einer deutschen Brigade nach Litauen, aber aus einem sehr interessanten Grund. Er glaubt, eine der größten Bedrohungen für einen direkten Krieg mit Russland sei, wenn Litauen, unterstützt von Polen und anderen Ländern, den russischen Zugang zu Kaliningrad blockiert. Moskau hat gedroht, dies als Kriegshandlung zu betrachten und sich den Weg freizukämpfen. Sein Argument war, dass die deutsche Regierung frühzeitig darauf aufmerksam würde und eine solche Eskalation verhindern könnte, wenn deutsche Soldaten dort stationiert wären. Ich halte das für einen sehr vernünftigen Gedanken.

Sie sehen die Präsenz deutscher Truppen in Litauen also als stabilisierenden Faktor. Aber welche Risiken birgt Deutschlands Aufrüstung für die regionale Dynamik?

Das Risiko ist, dass ein massiv bewaffnetes Deutschland einige der verrückteren Elemente in anderen Ländern, insbesondere den baltischen Staaten, dazu befähigen oder ermutigen könnte, Handlungen zu unternehmen, die sie alleine niemals wagen würden, in der Erwartung, dass der Rest des Westens ihnen zu Hilfe kommen wird. Wenn die Balten klug sind, werden sie erkennen, dass sie in dieser Hinsicht ein gewaltiges Risiko eingehen würden, aber sie waren nicht immer klug. Jemand wie Kaja Kallas ist eindeutig einfach besessen von Hass auf Russland und historischen Ressentiments. Die Rüstung Deutschlands muss also mit einer umsichtigen politischen Strategie kombiniert werden.

Der berühmte Grundsatz von Clausewitz, dass Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, sollte auch für den Wirtschaftskrieg gelten. Sanktionen gegen Russland sind in Ordnung, aber sie müssen ein klares Ziel haben. Andernfalls laufen wir Gefahr, dem US-Muster zu folgen, bei dem Sanktionen wie die gegen Kuba über Jahrzehnte bestehen bleiben, ohne dass ihr ursprünglicher Zweck noch erkennbar ist.

Wenn Europa aufrüstet, muss dies Teil einer übergeordneten politischen Strategie sein, nicht nur ein reines Ausgeben von Geld. Europäische Sicherheit sollte auf einer Kombination aus Abschreckung und Diplomatie beruhen. Im Moment sehe ich jedoch keine Anzeichen für eine diplomatische Strategie.

Sie stellen Deutschlands Rolle in der Unterstützung der Ukraine infrage. Wenn man Ihre These einer notwendigen Kompromisslösung für den Krieg ernst nimmt, welche Rolle sollte Deutschland dann bei der Gestaltung einer solchen Friedenslösung spielen, die über bloße militärische Unterstützung hinausgeht?

Ich habe meinen eigenen Friedensplan für die Ukraine, der bisher jedoch in offiziellen Kreisen keine Akzeptanz gefunden hat. Deutschland könnte konkrete Vorschläge machen, doch die Diplomatie ist oft zu öffentlich. Wäre ich die deutsche Regierung und würde einen Kompromissfrieden anstreben, aber mich aus Rücksicht auf die europäische Position zurückhalten, würde ich einen Gesandten nach Washington schicken. Dort würde ich im Stillen mit Donald Trump sprechen und ihm sagen: „Wir können das nicht öffentlich machen, aber Sie sind unserer Meinung nach der Einzige, der das kann. Ein einfacher Aufruf zu einem Waffenstillstand wird nicht funktionieren. Moskau hat deutlich gemacht, dass man mit konkreten Ideen und Vorschlägen kommen muss, und diese haben wir hier.“

In der aktuellen Lage erwarte ich, dass Russland im Rest des Jahres weiterkämpfen wird, um Territorium zu gewinnen und damit den Druck auf die Ukraine zu erhöhen. Doch die meisten Leute hier scheinen zu vergessen, dass es in Moskau eine interne Debatte gibt: zwischen den Hardlinern, die einen totalen Sieg anstreben, und den Pragmatikern.

Die Pragmatiker sind überzeugt, dass ein vollständiger Sieg unerreichbar und die Kosten zu hoch sind. Sie weisen darauf hin, dass Russland im vergangenen Jahr nur geringe Gebietsgewinne erzielt hat. Sie sorgen sich um die Inflation, wünschen sich eine neue Beziehung zu den USA, weshalb sie zu Kompromissen bereit wären.

Sie schlagen also vor, Deutschland sollte im Hintergrund agieren, um eine pragmatische Friedenslösung zu fördern. Was wäre der Inhalt eines solchen Plans, und warum glauben Sie, dass er eine Chance hätte, akzeptiert zu werden?

Niemand in Moskau, egal wie moderat und pragmatisch er ist, wird die derzeitigen offiziellen Positionen der EU und der NATO akzeptieren. Die Forderungen, dass die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine unumkehrbar sei, Russland sich aus allen besetzten Gebieten zurückziehen müsse und die Sanktionen dauerhaft bestehen blieben, sind ebenso inakzeptabel wie die Aussicht auf eine europäische Absicherungsstreitmacht für die Ukraine. Solche Positionen kann in Moskau niemand akzeptieren.

Wir müssen eine Reihe von Bedingungen ausarbeiten, die nicht alle russischen Forderungen erfüllen können – denn manche, wie der Rückzug der Ukraine aus weiteren Gebieten und ihre Entwaffnung, sind völlig inakzeptabel. Stattdessen benötigen wir einen konkreten Plan, den wir Putin zum richtigen Zeitpunkt vorlegen können und von dem wir annehmen, dass er ihn entweder akzeptiert oder zumindest als Verhandlungsgrundlage dient. Es ist offensichtlich, dass Putin sich nicht vollständig auf die Hardliner-Position festgelegt hat. Ihre Strategie ist klar: Man könnte einen vollständigen Sieg erzielen, wenn man eine Massenrekrutierung einführt, beispielsweise drei Millionen Mann mobilisiert und sie an die Front schickt. Die Ukrainer würden dann zusammenbrechen, da sie den russischen Zahlen nicht gewachsen sind. Das stimmt übrigens. Putin hat dies aber stets abgelehnt, weil er die russische öffentliche Meinung fürchtet. Eine Mehrheit der russischen Bevölkerung will keinen vollständigen Sieg, wenn das bedeutet, dass ihre Söhne und Ehemänner in großer Zahl sterben. Putin operiert mit einer viel kleineren, aber gut bezahlten Armee von Freiwilligen.

Ich denke, es ist offensichtlich, dass Putin eine Mittellinie zwischen den Hardlinern und den Pragmatikern verfolgt. Wir müssen die Argumente der Pragmatiker stärken, um dadurch auch Putin zu beeinflussen. Derzeit gibt es jedoch kaum einen solchen Ansatz in Europa – mit Ausnahme von Viktor Orbán.

Auch in Washington herrscht im Moment Chaos. Die Trump-Administration ist so unorganisiert, dass sie keinen kohärenten Plan hat. Sie hat schlichtweg kein Team von Verhandlungsführern und Experten, das so etwas ausarbeiten könnte. Natürlich ist es möglich, dass Russland schließlich mit deutlich moderateren Vorschlägen auf uns zukommt. Doch im Moment denken sie, dass die Europäer diese einfach ablehnen würden. Möglicherweise werden sie diese Vorschläge irgendwann den USA präsentieren. Aber im Moment ist die US-Regierung mit allem, was im Nahen Osten geschieht, völlig abgelenkt. Trotz ihrer enormen Ressourcen und ihres riesigen Personals ist die US-Regierung erstaunlich schlecht darin, mehrere Dinge gleichzeitig zu bedenken. Im Moment steht die Ukraine im Vergleich zum Nahen Osten völlig im Hintergrund.

Anatol Lieven, vielen Dank für das Gespräch.


Über den Interviewpartner: Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington, D.C. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King’s College London.

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