Im Sommer 2025 übernahm Melanie Schweizer eine führende Rolle im Organisationskomitee der „Global Sumud Flotilla“ – einer zivilgesellschaftlichen internationalen Initiative, die mit Dutzenden von Booten die Blockade Gazas durchbrechen will. Im Interview mit den NachDenkSeiten spricht Schweizer über ihre Motivation, die Pläne der Initiative und die Rechtslage nach internationalem Recht in Bezug auf die Situation in Gaza. Das Interview führte Maike Gosch.
Melanie Schweizer ist Volljuristin und Politologin – spezialisiert auf Völkerrecht sowie internationales Privat- und Öffentliches Recht. Sie arbeitete als Referentin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, bevor sie wegen ihrer Positionen zur Situation in Palästina und ihrer Kandidatur für MERA25 (die deutsche Partei im europäischen Bündnis DiEM25) im Februar des Jahres aus dem Beamtenverhältnis entlassen wurde.
Teil 1
Maike Gosch: Liebe Melanie Schweizer, wie sind Sie zur Global-Sumud-Bewegung gestoßen, und was hat Sie motiviert, dort mitzumachen?
Melanie Schweizer: Hauptsächlich durch die Organisation des Global March to Gaza (Anm. d. Red.: Der Global March to Gaza war eine internationale Solidaritätsaktion, die im Juni 2025 begonnen hat. Aktivisten aus zahlreichen Ländern wollten von Ägypten (Al-Arish) aus zum Grenzübergang Rafah marschieren, um die israelische Blockade des Gazastreifens humanitär zu durchbrechen und einen Korridor für Hilfe zu schaffen. Die Aktion wurde von ägyptischen Behörden unterbunden, zahlreiche Teilnehmende wurden festgenommen und ausgewiesen), und dorthin bin ich gekommen, weil ich – so wie viele andere – seit fast zwei Jahren alles versuche, was in meiner Macht steht, um das wahnsinnige, unterschiedslose Töten und Aushungern von Zivilisten zu beenden. Israel begeht nicht nur nach meiner Auffassung, sondern der Auffassung der absoluten Mehrheit von Völkerrechtsexperten und NGOs weltweit einen Völkermord im Gazastreifen. Das hat Eyal Weizman von Forensic Architecture bereits am 9. Oktober 2023 geäußert, und es war aufgrund der genozidalen Aussagen israelischer hochrangiger Regierungsmitglieder auch bereits dann klar. Alle Staaten, die die UN-Völkermordkonvention, das „Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ („Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide“, CPPCG / UN-Genozid-Konvention) vom 12. Januar 1951 unterzeichnet haben, haben sich verpflichtet, Völkermord zu verhindern – bevor es dazu kommt.
Mit meinen rechtlich fundierten Kenntnissen war mir auch bereits unmittelbar nach dem 7. Oktober klar, dass Israel in Gaza einen Völkermord begehen wird. Ich habe im September 2022 das Westjordanland in Palästina besucht und das Apartheidregime der israelischen Regierung am eigenen Leib erlebt. Als alle demokratischen Mittel abseits meines Dienstverhältnisses im Bundesministerium nichts bewirkt haben, entschloss ich mich dazu, ein letztes grundrechtliches Mittel zu ergreifen und politisch aktiv zu werden. Daher habe ich mit der Partei Mera25 für einen Sitz im Bundestag bei den Wahlen im Februar 2025 kandidiert. Dies war mit meiner Hierarchie abgesprochen – auch der genaue Grund und Inhalt meiner Kandidatur. Niemand sah darin ein Problem – bis zu der Berichterstattung der BILD-Zeitung, die unmittelbar auf meine ersten öffentlichen Posts in den sozialen Medien erfolgte. Ich wurde dann innerhalb kürzester Zeit entlassen (die NDS berichteten über den Fall und über die Nachfrage dazu durch Florian Warweg in der BPK).
Ein globaler kolonialer Völkermord kann nur durch eine globale Solidaritätsbewegung gebrochen werden, deswegen habe ich mich bereits vor und nach meiner Entlassung intensiv international vernetzt. Angesichts der anhaltenden Massengräuel in Gaza sind Drittstaaten und Einzelpersonen gesetzlich dazu verpflichtet, Maßnahmen zur Verhinderung und Beendigung von Völkermord zu ergreifen, einschließlich der Gewährleistung des Zugangs zu humanitärer Hilfe. Gemäß dem Völkerrecht sind alle Staaten nicht nur verpflichtet, diese Mission nicht zu behindern, sondern sie auch aktiv zu erleichtern und zu unterstützen.
Wie ist denn der aktuelle Stand im Verfahren gegen Ihre Kündigung durch das Bundesministerium? Und was hören Sie von ehemaligen Kollegen? Entschuldigen sich da einige, weil die Positionen, für die sie damals gekündigt wurden, ja immer mehr vom Mainstream akzeptiert werden?
Ich gehe gegen diese Entscheidung vor. Meiner Ansicht nach ist das ein weiterer Baustein in Deutschlands Beteiligung und Beihilfe an diesem Völkermord. Nicht nur Israel ist vor dem IGH wegen des Völkermordvorwurfs angeklagt, sondern auch Deutschland wegen des Beihilfevorwurfs zum Völkermord. Wir sind momentan noch im behördlichen Widerspruchsverfahren. Der nächste Schritt wird dann die Klage vor dem Verwaltungsgericht sein.
Eine Vielzahl meiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen äußerten mir gegenüber Entsetzen über die Entlassungsentscheidung des Ministeriums. Viele weitere waren sehr verunsichert und verängstigt darüber, was sie überhaupt noch als ihre Privatmeinung äußern dürfen.
Und nun zur Global Sumud Flotilla: Können Sie unseren Lesern ein wenig über die Vorgeschichte erzählen? Und darüber, was Sie vorhaben?
Es haben sich vier große Graswurzelbewegungen mit Menschen aus der ganzen Welt zusammengeschlossen: Organisatoren der Freedom Flotilla Coalition, des Global March to Gaza, des Sumud Convoys und des asiatischen Sumud Nusantara.
Wir vom Global March to Gaza haben uns etwa im März formiert und sind im Juni mit 4.000 Menschen aus der ganzen Welt nach Kairo geflogen mit dem Vorhaben, nach Rafah zu gehen. Zwar wurden wir daran brutal gehindert, dennoch haben wir unser Ziel erreicht: Wir haben die mentalen Mauern durchbrochen. Wir haben uns und den Menschen gezeigt, dass wir zu viel mehr im Stande sind und sich viel mehr tun muss. Kein Unrechtssystem dieser Welt wurde jemals durch eine plötzliche moralische Erleuchtung der gewaltvollen Herrschenden zum Fall gebracht. Es war immer die Mobilisierung der Gesellschaft. Das ist unser eigentliches Vorhaben: die größte international verbundene und koordinierte Solidaritätsbewegung zu erschaffen, um sowohl den Völkermord zu beenden als auch ein Ende der illegalen Besatzung und Apartheid in Palästina durch Israel einzufordern. Unsere deutsche Regierung ist Mittäter in diesem Verbrechen. Ein globaler kolonialer Völkermord kann nur durch eine globale Solidaritätsbewegung gebrochen werden. Und das werden wir tun. Und wir werden auch genauso für alle anderen unterdrückten Völker dieser Welt einstehen: im Kongo, im Sudan oder für die Rohinga.
Die Global Sumud Flotilla ist die größte zivile und humanitäre Flotte an Schiffen, die jemals nach Gaza gesendet wurde, und das wohl in der mit Abstand kürzesten Vorbereitungszeit. Die Lage im Gazastreifen ist apokalyptisch – nicht erst, seitdem die israelische Regierung alle Nahrungsmittel und medizinische Güter dorthin blockiert hat, sondern schon seit Oktober 2023, seitdem die israelische Armee den Gazastreifen in Schutt und Asche legt und völlig unterschiedslos alles bombardiert, was lebt. Jetzt aber spitzt sich das Ausmaß an Gewalt und Leid, das durch den israelischen Genozid verursacht wird, ins Unermessliche zu. Wir haben also keine Zeit mehr. Wir müssen sofort handeln und das tun, was unsere Regierungen völkerrechtswidrig unterlassen.
Die Global Sumud Flotilla besteht aus einer vielfältigen Koalition von Menschenrechtsaktivisten, darunter Rechtsanwälte, Ärzte, Krankenschwestern, Journalisten, Parlamentarier und Politiker, und hat sich zum Ziel gesetzt, lebensrettende Hilfe direkt an die belagerte Bevölkerung von Gaza zu liefern und damit die Kontrolle Israels über die Einfuhr humanitärer Hilfe rechtmäßig in Frage zu stellen. Die Belagerung einer Zivilbevölkerung ist rechtswidrig. Die Global Sumud Flotilla fordert einen sofortigen, bedingungslosen und dauerhaften Waffenstillstand, ungehinderten Zugang zu humanitärer Hilfe und ein Ende der illegalen Blockade des Gazastreifens. Diese Blockade wurde von Organen der Vereinten Nationen, dem Internationalen Gerichtshof (Gutachten, 2024) und führenden humanitären und juristischen Organisationen als eine Form der kollektiven Bestrafung und im aktuellen Kontext als ein Akt, der zum Völkermord beiträgt, verurteilt.
Unsere Mission ist rechtmäßig, weil sie humanitär ist (sie transportiert lebenswichtige Hilfsgüter), friedlich ist (sie ist unbewaffnet und transparent), und sie ist eine Reaktion auf schwerwiegende Verstöße gegen das Völkerrecht (z.B. Völkermord), bei denen alle Staaten zur Handlung verpflichtet sind.
Die vorsätzliche Vorenthaltung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und lebensnotwendigen Gütern gegenüber einer Zivilbevölkerung stellt einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Gemäß Artikel II(c) der Völkermordkonvention kann die vorsätzliche Schaffung von Lebensbedingungen, die auf die physische Vernichtung einer Gruppe abzielen, einschließlich durch Hunger, einen Völkermord darstellen. Der Internationale Gerichtshof hat bereits drei vorläufige Maßnahmen (Januar-März-Mai 2024) erlassen, mit denen Israel aufgefordert wird, die Versorgung mit grundlegenden Leistungen und humanitärer Hilfe für Gaza sicherzustellen. Darüber hinaus stuft Artikel 8(2)(b)(xxv) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs „die Aushungerung der Zivilbevölkerung als Kriegsmittel” als Kriegsverbrechen ein. Die Blockade, die verhindert, dass lebenswichtige Güter die Bevölkerung erreichen, rechtfertigt unsere Mission.
Die Blockade ist illegal; daher ist auch jede Anwendung von Gewalt durch Israel zur Durchsetzung dieser Blockade rechtswidrig. Die Durchbrechung einer solchen Blockade zur Lieferung humanitärer Hilfe ist an sich eine rechtmäßige Handlung. Die Mission ist humanitärer Natur; sie transportiert Hilfsgüter, keine Waffen. Sie respektiert das Seerecht; sie übt das Recht auf freie Schifffahrt und friedliche Durchfahrt aus. Sie verstößt nicht gegen Ausnahmeregelungen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ); es liegt keine Piraterie, kein Schmuggel, keine bewaffnete Aktivität oder anderes verbotenes Verhalten vor. Die Teilnehmer sind geschützte Zivilisten; eine Einmischung in ihre Angelegenheiten steht unter dem Schutz des jeweiligen Herkunftsstaates und zieht eine Verantwortung des einmischenden Staates nach sich.
Warum haben der Global March to Gaza und die anderen „Märsche“ Gaza nicht erreicht? Was war die Motivation der Regierungen von Ägypten, Tunesien und anderen Ländern, die Menschen nicht bis zur Grenze zu Gaza passieren zu lassen?
Nicht nur die westlichen Regierungen beteiligen sich an diesem internationalen, kollektiven Völkermord, sondern auch die arabischen Regierungen. Ägypten ist ein Verbündeter Israels. Natürlich nicht offiziell, weil die Bevölkerung das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser (verursacht durch Israel) seit etwa einem Jahrhundert genau kennt. Die Regierungen profitieren aber von den wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen mit Israel. Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch diese Regierungen alles unternehmen, um den Widerstand zu brechen. Ägypten riskiert eben wegen seiner Mithilfe an dem Völkermord auf unterschiedlichen Wegen auch stets einen Aufstand der eigenen Bevölkerung und eventuell sogar einen Bürgerkrieg. Deswegen wird die Bevölkerung minutiös eingeschüchtert und verfolgt. Jeder, der sich öffentlich mit den Palästinensern in Form von Protesten solidarisiert, riskiert langjährige Freiheitsstrafen oder Folter. Viele ägyptische Aktivisten sind schon seit Oktober 2023 inhaftiert. Ägypten ist eine Militärdiktatur und regiert mit Angst und Einschüchterung.
Was hoffen Sie, was hofft die dahinterstehende Bewegung, mit der „Flotte“ von Schiffen zu erreichen?
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, einen maritimen humanitären Korridor zu schaffen. Unsere Flotte wird nur der Anfang sein. Danach soll der Weg für viele weitere Schiffe geebnet werden, die die an Hunger sterbende Bevölkerung versorgen können.
Unsere Reise ist aber nicht nur humanitär – sie ist eine öffentliche Lektion im Recht. Die Genfer Konventionen, Artikel 23, verlangen, dass Hilfsgüter die Zivilbevölkerung schnell und ungehindert erreichen. Das San-Remo-Handbuch, Artikel 102, verbietet Blockaden, die Hungersnöte verursachen. Und der Internationale Gerichtshof hat bereits ungehinderte Hilfe für Gaza angeordnet. Schiffe nach Ashdod (Anm. d. Red.: israelischer Hafen südlich von Tel Aviv) umzuleiten, ist keine Befolgung des Rechts – es ist eine Ablenkung in genau das System, das die Hungersnot hervorgebracht hat: wo Lastwagen aufgehalten, Güter entzogen und Konvois blockiert werden. Wenn unsere Schiffe abgefangen werden, wird die Welt sehen: Diese Blockade ist keine Rechtsdurchsetzung, sondern Rechtsbruch, bei dem sogenannte „Inspektionen“ durch Israel als Waffe des Hungers eingesetzt werden, um die Lieferungen zu verzögern und zu verhindern. Wir segeln, damit das Recht in der Praxis sichtbar wird – nicht nur in Worten.
Titelbild: Global Sumud Flotilla & Melanie Schweizer