Beleidigte Leberwürste

Beleidigte Leberwürste

Beleidigte Leberwürste

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Im chinesischen Tianjin trafen sich am Sonntag und Montag die Staatschefs der SCO – einem Zusammenschluss von zehn Staaten, die fast die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, darunter China, Indien und Russland. In den Redaktionen deutscher Medien wurde der „Schurken-Gipfel“ (BILD) als Angriff auf unsere geliebte „regelbasierte Weltordnung“ gesehen, die ohnehin nur noch in den Köpfen Berliner Hauptstadtjournalisten zu existieren scheint. Nun ist man beleidigt. Was erlaubt sich eigentlich dieser Chinese? Offenbar trauert man den „guten alten Zeiten“ nach, als China und Indien noch nach der Pfeife der Europäer tanzten. Doch diese Zeiten sind vorbei und sie werden nicht wiederkommen. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

1858 war die Welt noch in Ordnung. In diesem Jahr unterzeichneten – nach zwei „Opiumkriegen“ und Drohungen via Kanonenbootpolitik – die Chinesen den Vertrag von Tianjin, in dessen Folge die europäischen Kolonialmächte von Großbritannien über Deutschland bis hin zu Österreich-Ungarn später ihre „Konzessionsgebiete“ in Tianjin und anderen Städten anlegten – Freihandelszonen im architektonischen Stil der Kolonialherren, in denen China nichts zu sagen hatte. Ende des 19. Jahrhunderts verliefen so die „Rue de la France“, die „Victoria Road“ und die „Wilhelmstraße“ durch Tianjin – Letztere wurde nach dem Ersten Weltkrieg in „Woodrow Wilson Road“ umbenannt, die USA hatten Deutschlands Einflusssphäre in China übernommen.

Wilhelmstraße in Tianjin, 1898. Quelle: Bundesarchiv, Bild 137-005514 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de

Für China war dies ein Zeitalter der Demütigung, hielt das Reich der Mitte sich selbst für den zivilisatorischen Bauchnabel der Welt. Und in gewisser Weise waren die Jahrhunderte vor der Industrialisierung auch asiatische Jahrhunderte, auch wenn dies in Europa kaum bekannt ist. Nach Schätzungen des Wirtschaftshistorikers Angus Maddison entfiel mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung in vorindustriellen Zeiten auf China und den indischen Subkontinent. Nach dem Vertrag von Tianjin sollte es fast anderthalb Jahrhunderte dauern, bis sich die Kräfteverhältnisse in der Welt soweit geändert haben, dass China und der Westen zumindest auf Augenhöhe sind.

Heute vertreten die SOZ-Staaten fast die Hälfte der Weltbevölkerung und kommen mit einem gemeinsamen BIP von rund 30 Billionen US-Dollar zwar erst auf die Hälfte der Wirtschaftsleistung der G7-Staaten. Doch das sind nur die nominalen Zahlen, kaufkraftbereinigt haben die SOZ-Staaten die G7-Staaten bereits überholt und anders als diese weisen die SOZ-Staaten eine starke Wachstumsdynamik auf. IWF-Studien gehen davon aus, dass kaufkraftbereinigt China allein die gesamten G7-Staaten zusammen in den 2030ern und Indien allein die G7-Staaten um das Jahr 2050 herum überholen werden. Aber die Wirtschaft ist ja nicht alles.

Doch abseits ökonomischer Kennzahlen sieht es auch nicht anders aus. Vor allem China hat den Westen in zahlreichen Bereichen längst überholt – egal ob es um Patente, innenpolitische Stabilität, internationales Ansehen oder schlicht eine funktionierende Infrastruktur geht. Im Westen wird dies freilich vehement abgestritten. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Die Vorstellung, dass Staaten wie China, Indien oder – Gott bewahre – Russland sogar bei geopolitischen Fragen mitzureden haben, löst bei den Anhängern der westlichen Dominanz gar eine Schnappatmung aus. Dies zeigen die Reaktionen deutscher Medien auf den SOZ-Gipfel – ausgerechnet in Tianjin – einmal mehr mit unfreiwilligem Humor.

Screenshot: BILD.de

„Treffen sich die Staatsoberhäupter aus China, Nordkorea, Russland, Belarus, Iran und der Türkei – was klingt wie der Anfang eines Witzes, ist allerdings ernst. Dieses Treffen gibt es. […] Die Despoten der Welt treffen sich“. Mit diesen Worten leitete die ZDF-Moderatorin Dunja Hayali ihren Bericht über das SOZ-Treffen im ZDF-Morgenmagazin ein. Als ihre Kollegin erwähnt, dass „auch Putin vor Ort ist“, schüttelt Hayali (Minute 27:40) ihr gramgebeugtes Haupt. „Die Botschaft, die Peking mal wieder sendet: Die Welt wird immer unstabiler und wir sind der Garant für Stabilität. Das ist natürlich ein bisschen absurd“, so die ZDF-Korrespondentin Miriam Steimer im Gespräch mit der konsternierten Hayali. Man fragt sich angesichts der öffentlich-rechtlichen Realitätsverweigerung, ob man da nun lachen oder weinen soll. Überflüssig zu erwähnen, dass die von Hayali und Co. präferierte Sichtweise, nach der ausgerechnet der Westen historisch oder aktuell so was wie ein „Garant für Stabilität“ gewesen sein könnte, für die übergroße Mehrheit der Menschheit wie ein blanker Hohn klingen muss. Das ist mehr als „ein bisschen absurd“.

Doch in der Bewertung sind sich Hayali und ihre Kollegen anderer Medien einig. Im publizistischen Schulterschluss mit BILD, die von einem „Schurken-Gipfel“ spricht und Chinas Anspruch, in der Region „Verantwortung für Frieden, Stabilität, Entwicklung und Wohlstand zu übernehmen“, wörtlich als „Hohn“ bezeichnet, dem SPIEGEL, der Chinas Fokussierung auf Stabilität als „Inszenierung“ und „Ironie“ verunglimpft, und vielen anderen deutschen Medien ist man sich in diesem Punkt einig. Überspitzt könnte man die Hybris und den Narzissmus westlicher Kommentatoren so umschreiben: Die Chinesen und Inder dürfen uns ja gerne ihre billigen Güter schicken, aber wenn es geopolitische Fragen geht, haben die Kinder doch bitte in ihr Zimmer zu verschwinden. Das sind Themen für Erwachsene; zivilisierte Staaten, die eine „regelbasierte Ordnung“ predigen, an die sie sich zwar selbst nicht halten, aber seit wann gelten denn bitte für Erwachsene und Kinder die gleichen Regeln?

So sehen sich unsere Eliten. Noch immer. Schon zu Kolonialzeiten sah man sich selbst als die zivilisierte Krone der Schöpfung und sprach den kolonialen Untertanen die Fähigkeit zur Mitsprache ab. Die 500 Jahre europäischer Weltdominanz sind offenbar schwer abzuschütteln und haben ihre Spuren im Denken hinterlassen. Es regiert der Narzissmus. Und das ist gar nicht mal so überraschend, gilt Narzissmus doch als Kompensation für Minderwertigkeitskomplexe. Je deutlicher den Hayalis und Baerbocks wird, dass ihre kolonialherrische Attitüde mehr und mehr von der Realität ad absurdum geführt wird, desto mehr steigern sie sich in eine krankhaft übersteigerte Form der Selbstliebe. Unsere Werte, unsere Regeln, unsere Demokratie, unsere Freiheit, unsere Kultur, unsere Interpretation der Menschenrechte. Halleluja. Warum sieht der Rest der Welt uns eigentlich nicht mit unseren Augen? Aber diese Frage stellen sich die meisten Narzissten. Was als Tragödie epischen Ausmaßes beginnt, endet dann als Farce; man gibt die beleidigte Leberwurst und geifert, weil die Welt einfach nicht so ist, wie man sie gerne hätte. Wutbürger.

Und man sucht Schuldige. Schuld sind natürlich alle, außer man selbst. Dass Putin an so ziemlich allem schuld ist, ist klar. Schuld ist auch der Chinese. Warum? Das weiß man selbst nicht so genau, aber es ist so. Basta! Und in einem Punkt ist man sich von ZDF über BILD bis zum SPIEGEL mittlerweile auch einig: Schuld ist auch Trump! Der vereine seine Gegner mit seiner Zollpolitik. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber analytisch doch viel zu kurz gesprungen, schließlich gibt es BRICS und SOZ ja nicht erst seit einem Jahr und der relative Aufstieg Asiens und der relative Abstieg Europas und der USA sind auch keine Entwicklung, die man einem Donald Trump anlasten könnte. Doch Trumps Amtsvorgänger, allen voran Obama und Biden, sind im kritischen Diskurs westlicher Eliten immer noch sakrosankt, und auf die Idee, dass auch Deutschland auf vielen Ebenen seinen unfreiwilligen Teil dazu beigetragen hat, die Welt multipolarer zu machen, kommt hierzulande ohnehin niemand. So sind beispielsweise Baerbocks Fremdschäm-Offensiven, die Deutschlands Bild im Ausland nachhaltig ruiniert haben, erst gar kein Thema. Wir sind die Guten – zumindest in unserer Parallelwelt. Doch wir sind beleidigte Leberwürste in der Wilhelmstraße in der deutschen Konzession von Tianjin.

Titelbild: Screenshot ZDF