Venezuela versperrt den USA das Tor zum Hinterhof

Venezuela versperrt den USA das Tor zum Hinterhof

Venezuela versperrt den USA das Tor zum Hinterhof

Ein Artikel von Marta Andujo

Mit Raketen, von Kriegsschiffen und Kampfflugzeugen abgefeuert, versenkt die US-Regierung kleine Boote in der Karibik und damit zugleich alle potenziellen Beweismittel und Zeugen für angebliche Drogentransporte in Richtung USA. Der Exzess in den Mitteln und der Tod von Fischern und mutmaßlichen Drogentransporteuren sind dabei nur Mittel zum Zweck der Vorbereitung von Militäroperationen gegen das souveräne Venezuela und die Bolivarische Revolution. Von Marta Andujo.

Der lateinamerikanische Fernsehsender TeleSUR (Televisión del Sur) nahm im Juli 2005 seinen Betrieb auf unter dem Motto „Nuestro norte es el sur“. Das norte ist ein Wortspiel, da damit sowohl Norden, der nördliche Nachbar USA als auch „Leitstern“ gemeint ist: Unser Norden/Leitstern ist der Süden.

Der Globale Süden will in den Weltnachrichten nicht länger über die Interpretationen und Erzählungen des Nordens und der US-Medienkonzerne gespiegelt werden, sondern berichtete fortan aus der eigenen Perspektive. TeleSUR hat seinen Hauptsitz in Caracas, der damalige venezolanische Präsident Hugo Chávez gehörte zu den wichtigsten Initiatoren des Medienprojektes.

Der Norden, der sich selbst geopolitisch-ideologisch als der Westen benennt, besteht im Wesentlichen aus den früheren europäischen Kolonialmächten, den europäischen Auswanderern nach Nordamerika, die mit ihrem Siedlerkolonialismus die indigene Bevölkerung des Halbkontinents dezimierten, deren Lebensgrundlagen zerstörte und sie in Reservate zwang. Die indigene Bevölkerung unterlag der Feuerkraft und der gespaltenen Zunge der Europäer. Mit Japan zählt sich die ehemalige große, asiatische Kolonialmacht zum kollektiven Westen.

Es lohnt, sich an diese nicht allzu lange zurückliegende Vorgeschichte zu erinnern, weil sie in der Vorliebe des Westens weiterlebt, sich mit der Weltgemeinschaft gleichzusetzen und den Schlüssel für das Klubhaus exklusiv in den Händen zu halten. Es sind die Plünderer und Sklavenhalter von gestern, die sich der Emanzipation und Entwicklung der Völker entgegenstellen.

Die Militarisierung des Drucks der USA auf Venezuela, die aktuell durch die Weltnachrichten geht, ist der jüngste Schritt, der durch die Executive Order des früheren US-Präsidenten Barack Obama aus dem Jahr 2015 vorgezeichnet worden ist. Demnach stellt Venezuela für die USA – mit ihren weltweit etwa 800 Militärstützpunkten und einem Militärhaushalt, der eine Höhe hat wie die der zehn nächstfolgenden größten Länder zusammen genommen, eine „ungewöhnliche und außerordentliche Bedrohung für die nationale Sicherheit und die Außenpolitik der USA“ dar.

Die Missbilligung der US-Regierung gilt dem regierenden Chavismus in Venezuela, der seit der ersten Präsidentschaft des 2013 gestorbenen Hugo Chávez nun unter Präsident Nicolás Maduro eine Perspektive für das karibische Land umsetzt, den gewaltigen Reichtum an Öl und anderen natürlichen Ressourcen einzusetzen, um den Lebensstandard der breiten Massen anzuheben. Souveräne Entwicklung anstelle von untergeordneter Rohstofflieferant für die privilegierten Metropolen. Es ist ein entschlossener Bruch mit dem alten, neokolonialen Entwicklungsmodell und dem Neoliberalismus.

Ein Meilenstein geht auf den November 2005 zurück, als die USA beim Amerika-Gipfel im argentinischen Mar del Plata eine politische Niederlage von historischem Ausmaß einstecken mussten: Ihr Projekt einer „Gesamtamerikanischen Freihandelszone“ von Alaska bis Feuerland unter US-Vorherrschaft scheiterte an der entschiedenen Opposition fünf südamerikanischer Länder: Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela.

Chávez ist das bedeutendste Beispiel in Lateinamerika für eine konsequente Auseinandersetzung mit dem Militärputsch in Chile von 1973, der die Volksfrontregierung von Salvador Allende beendete. In unzähligen öffentlichen Reden suchte er nach den Lehren aus dieser Katastrophe. Der Putsch von 1973 prägte im Übrigen nicht nur die lateinamerikanische, sondern auch mehr als eine Generation der europäischen Linken.

Es geht dabei um das Demokratiemodell, dessen europäische, repräsentative Variante sich in Chile als fadenscheinig erwies. Die Rolle der USA und der europäischen Eliten bei dem Putsch begründete eine weltweite Grundsatzdiskussion.

Der Chavismus nahm sich von Anfang an des Problems an, dass eine gewonnene Wahl unter den Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie nicht bedeutet, dass die Regierung, die von der Mehrheit der Bevölkerung gewählt wurde, auch die politische Macht gewonnen hat. Die Eigentümer der riesigen Privatvermögen, das leitende Personal der staatlichen Institutionen und die Bürokratie sind dieselben geblieben und in der Lage, politische und zugunsten der breiten Massen aufgesetzte soziale Programme, Förderungen und politischen Umbau zu sabotieren.

Schon die erste Regierung von Chávez startete eine Reihe von sogenannten Misiones, die den Weg von beschlossenen sozialen Programmen radikal abkürzte und die Bürokratie umging – von Gesundheits- und Bildungsprogrammen bis hin zum sozialen Wohnungsbau. Die Kulturpolitik des Chavismus öffnete Einrichtungen wie Theater, Kinos und Museen, aber auch Erholungsparks für die breiten Massen. Im ganzen Land begann der Aufbau von Milizen.

Der rote Faden in allen Maßnahmen der Bolivarischen Revolution war und ist es, das Muster des passiven und konsumierenden Wahlbürgers zu überwinden und die Bevölkerung in allen Belangen des Landes zu mobilisieren und zu aktivieren: das Modell einer partizipativen Demokratie, in der die Bevölkerung Protagonist der gesellschaftlichen Entwicklung wird. Die Wiederaneignung der eigenen Geschichte der Befreiung stärkt dabei die Souveränität des Prozesses: mit Simón Bolívar, Simón Rodríguez, Guaicaipuro, Ezequiel Zamora und vielen anderen geschichtlichen Persönlichkeiten.

Die Milizen passen nicht nur in diese Perspektive, sondern erfüllten auch eine zentrale Aufgabe bei der Umgestaltung des Militärs. Der Chavismus hat so einen Faktor aufgebaut, der dem traditionellen Militär des Landes signalisiert: Wenn dieses den Weg zu einer Armee des Volkes und einer Einheit mit der zivilen Bevölkerung nicht mitgeht, hat das Programm der gesellschaftlichen Umgestaltung eine Alternative bewaffneter Macht.

Dieser Prozess hat sich so erfolgreich entwickelt, dass wiederholte Versuche der alten Eliten des Landes und der USA, das venezolanische Militär als Putschinstrument gegen die chavistischen Regierungen einzusetzen, scheiterten.

Nach Ansicht von Chávez diente die chilenische Erfahrung dazu, „die zivil-militärische Fusion, eine der größten Stärken der Bolivarischen Revolution“, zu verteidigen. Er kritisierte die Rolle des Militärs in Chile beim Staatsstreich von 1973, um damit den Kontrast zu verdeutlichen, dass in Venezuela die Streitkräfte ein „wesentlicher Akteur” der Bolivarischen Revolution hin zum Sozialismus sind.

Bisher haben der Chávismus und die Selbstorganisierung einer aktiven Bevölkerung die Rückkehr der Mumien an die Macht verhindern können. Westliche Heldenlegenden über Oppositionspolitiker in Venezuela generieren im Land selbst keine Basis. Figuren wie Leopoldo López (Kind einer der elitärsten venezolanischen Familien und Zögling an Eliteinternaten in den USA) und María Corina Machado (die die Selbsternennung von Petro Carmona beim Putschversuch 2002 mitunterzeichnete) sind Prototypen der venezolanischen Rechten mit US-Hintergrund. Beide sowie Machados Posterkandidat zu den letzten Präsidentschaftswahlen, Edmundo González, der im spanischen Exil lebt, haben den US-Aufmarsch vor Venezuelas Küste hoffnungsvoll begrüßt (hier und hier). Von Chávez sind mehrfach Stoßgebete überliefert, wie sehr er eine Opposition im Land begrüßen würde, der etwas an der heimischen Entwicklung liegt.

Chávez und sein langjähriger Außenminister Nicolás Maduro vertraten zudem seit Anfang der 2000er-Jahre den Aufbau einer multipolaren Weltordnung und begannen, strategische Allianzen mit Ländern des Globalen Südens aufzubauen.

Die politischen Muster des Westens stammen aus einer Zeit, als Konkurrenz und Verdrängung noch Raum hatten und Profit versprachen. Heute ist die Endlichkeit des gemeinsamen Planeten in den Mittelpunkt der politischen Diskussion gerückt, und das Angebot der Verfechter einer multipolaren Weltordnung, zum gemeinsamen Nutzen zu kooperieren, könnte das erfolgreichere Modell werden.

Die Auseinandersetzung um Venezuela ist nicht nur der Kampf gegen beispiellose einseitige Zwangsmaßnahmen wirtschaftlicher und finanzpolitischer Art durch die USA und aktuell gegen deren militärischen Aufmarsch in der Karibik. Sanktionen und der Raub venezolanischer Vermögen und Goldreserven im Ausland haben zeitweise eine Hyperinflation und die Rückkehr scharfen Mangels im Land ausgelöst.

Es ist auch eine große ideologische Schlacht vor dem Hintergrund des Anspruchs des Westens auf prinzipielle Überlegenheit trotz seiner Degenerierung in Kriegstreiberei und Entdemokratisierung.

Der spanische Journalist Ignacio Ramonet fasst es so zusammen:

„Venezuela ist nach wie vor das große politische Laboratorium unserer Zeit. Dort wird etwas versucht, was das globale System nicht toleriert: partizipative Demokratie, nationale Souveränität und soziale Umverteilung unter einem sozialistischen Horizont werden zusammengebracht. Deshalb hören die Aggressionen nicht auf: Blockaden, Sanktionen, wirtschaftliche Erstickung, Delegitimierungskampagnen. Aber dort entstehen auch die kreativsten Formen des Widerstands der Bevölkerung: die Kommunen(*), die Selbstverwaltung, die Idee der Macht von unten.“

Bisher haben die Aggressoren gegen die Emanzipation des Globalen Südens ideologisch in ihren eigenen Gesellschaften leichtes Spiel. Der Konsumbürger in der Tradition und als Profiteur des Kolonialismus, auch in seiner linken Variante, weigert sich, zu verstehen, dass die Kämpfe, die in diesem Fall Venezuela führt, völlig eigenständige, schöpferische Prozesse darstellen. Sie haben gute Gründe, die westlichen Rezepte der Konkurrenz, Repräsentanz und der doppelten Standards nicht nachzuahmen.


(*) Die Kommunen (comunas) in Venezuela sind Zusammenschlüsse mehrerer Kommunaler Räte (Consejos Comunales) auf lokaler Ebene. Sie sind Strukturen der Selbstverwaltung in den Gemeinden, die zur Planung und Haushaltsgestaltung in lokalpolitischen Angelegenheiten berechtigt sind. Auch sollen sie die Verwaltung und Nutzung der Produktionsmittel vor Ort fördern. Die Kommunen sollen die Grundlage für den Kommunalen Staat bilden. Ziel ist die Selbstregierung des Volkes und die Überwindung des bürgerlichen Staates. Chávez bezeichnete die Kommunen als „Keimzelle für den Aufbau des Sozialismus“.


Titelbild: BoldG / Shutterstock