Chefdiplomat als unaufgeregter Aufreger. MdEP Schulenburg zu 80 Jahren UN-Charta

Chefdiplomat als unaufgeregter Aufreger. MdEP Schulenburg zu 80 Jahren UN-Charta

Chefdiplomat als unaufgeregter Aufreger. MdEP Schulenburg zu 80 Jahren UN-Charta

Ein Artikel von Diether Dehm

Michael Graf von der Schulenburg tritt der Kriegshyäne, welche bei uns Zuhause über Regierung und Medien thront, ohne Gekeife entgegen. Man spürt: Er ist gelernter Verhandler, war aktiv unter anderem in Afghanistan, Sierra Leone, New York, Somalia und im Iran. Und zwar als einer der führenden Diplomaten der westlichen Welt: für die OSZE und die UN. Familiäre Vorfahren von ihm starben unter Hitlers Fallbeil, er selbst lernte in der DDR Tischler, floh aber mit 21 Jahren über die Ostsee nach Westdeutschland. Heute sitzt von der Schulenburg für das BSW im Europaparlament. Vielleicht haben solcherlei Widersprüche ihn so mitgeformt, dass er qualifizierte Widerworte gegen den NATO-Mainstream nicht bereits als neue, „absolute Wahrheiten“ ausposaunt. Seine jetzt elektronisch vorgelegte Broschüre über die Vereinten Nationen und ihre Charta, welche gerade 80 Jahre alt geworden ist, ist also mehr unaufgeregtes Angebot als Postulat. Von Diether Dehm.

Dass er gerade heute das Völkerrecht neu aufruft, liegt vor allem daran, dass jetzt wohl dessen schwierigste Bewährung angebrochen zu sein scheint. Der sich früher als Garantiemacht der UNO verstehende „Westen“ fühlt sich gerade von einer BRICS-plus-Staatenkonstellation in seinem Hochmut tief gekränkt – gerade von Schwellen-Ländern, die bis vor kurzem noch von NATO, Wallstreet, IWF, WHO und FED wie Fußabtreter behandelt worden waren. Heute droht dem „Westen“ der „BRICS+-Verbund“ über den Kopf zu wachsen – nicht nur in Wirtschaftsleistung und Bevölkerungszahlen, auch in kultureller Vernetzung. Da bleibt der angeschlagenen West-Weltelite wohl nur noch sein „Kerngeschäft“: das Militär. Schulenburg fragt: „Wird der `Westen´ – insbesondere die NATO-Staaten – die politischen Veränderungen und den Verlust ihrer einst dominierenden Rolle akzeptieren? Oder wird er versuchen, dies durch militärische Eskalation aufzuhalten?“

Im Westen würde bereits davon gesprochen, dass es „sogar schon in drei Jahren zu einem Krieg kommen werde… Schon heute machen die Verteidigungsausgaben der NATO rund 55 % der weltweiten Militärausgaben aus – verglichen mit geschätzten 13 % von China, 6 % von Russland und 3,5 % von Indien.“

Schulenburg zeichnet eine Entwicklung der Charta-Verstöße zum noch Schlimmeren: vom NATO-Überfall auf Jugoslawien bis zum „Kopfgeld auf den Präsidenten eines anderen Landes ohne UN-Mandat…“ Und er resümiert:

„Wir rutschen so in eine Welt, in der nur das Recht des Stärkeren gilt.“

Die komplett unterschiedlichen Kriegsursachen in der Ukraine und im Gaza-Streifen skizziert Schulenburg detailgetreu. Und auch die Zielvorgabe, für die „der Westen“ Selenskyj 2022 unter Druck setzte, die soeben in Antalya und Istanbul mit Russland ausgehandelten Verhandlungsergebnisse für einen Waffenstillstand geräuschvoll in die Tonne zu treten: „Durch eine russische Niederlage hätte die NATO die Kontrolle über die Ukraine und das Schwarze Meer erlangt; ein strategisch bedeutendes Faustpfand auch in einer möglichen zukünftigen Auseinandersetzung mit China.“

Schulenburgs Broschüre beschreibt aber nicht nur, wie Joe Biden und Ben Johnson den ukrainisch-russischen Verhandlungsdeal sabotiert hatten, sondern auch, wie Israel die Verhandlungen zwischen den USA und dem Iran torpedierte, um auch dort Krieg weiter anzuheizen.

Schulenburg sieht allerdings in den Vereinten Nationen, trotz deren gelegentlicher Wirkarmut, die dauerhaft einzig praktikable, institutionelle Chance zur Kriegsvermeidung. Bevor der Autor in seinem Booklet einzelne Kapitel den entsprechenden Artikeln der Charta widmet, kommt er zunächst bezüglich Artikel 3 zu einer grundsätzlichen Empfehlung: „Die UN-Charta muss das Herz und die Seele jeder neuen Friedensarchitektur sein!“

Das mag angesichts (besonders von Israel) missachteter UN-Beschlüsse in manch revolutionärem Ohr kindergläubig klingen. Aber welche Alternative gäbe es fürs Überleben, als den rechtsförmigen Rahmen dieser UN zu stärken?

Schulenburg ist nun nicht so naiv, seine Kenntnisse über die UN nur statisch auf deren global-strategische Kräftekonstellation anzuwenden:

„Eine Konsequenz des Ukraine-Kriegs ist bereits, dass sich die globale Position des globalen Südens verstärkt hat.“

Wenige Seiten später spitzt er zu:

„Eine ähnliche Situation bestand 1917/18, als Hunderttausende Verarmte und Entrechtete die angeblich gottgegebenen Ordnungen in Europa hinwegfegten. In Zukunft könnten es weltweit hundert Millionen Menschen sein, die aus Hoffnungslosigkeit staatliche Ordnungen und Grenzen überrennen.“

Und genau dagegen rüstet „der Westen“ gerade martialisch auf: „Auch die Nennung des Jahres 2029 als möglicher Kriegsbeginn sollte uns nachdenklich stimmen, denn im Januar jenes Jahres wird die Präsidentschaft Donald Trumps enden.“

Bis dahin sucht „der Westen“, die UN „zu reformieren“. Das Wort „reformieren“ war einst Fortschritt verheißend. Mit Kohl und einiger Medien-Finesse wurde daraus ein Trojaner, Krieg und Massenverarmungsprogramme in öffentliche Akzeptanz zu schmuggeln. Schulenburg:

„Ich stehe vielen – um nicht zu sagen: den meisten – dieser Reform-Vorschläge eher skeptisch gegenüber… Ich glaube auch, dass weiterhin nur Mitgliedsländer entscheiden sollen, dass die UN ausschließlich durch Beiträge finanziert wird, dass Polizei und Militär von Fall zu Fall von Mitgliedstaaten für klar definierte Aufgaben bereitgestellt werden. Die UN darf nicht den Weg der Europäischen Union gehen, in der zunehmend Technokraten das Sagen haben.“

Zwei Reformen hingegen hält Schulenburg für nötig:

Erstens müsse der „Westen“ zugunsten „des Globalen Südens Macht abgeben“.

Und zweitens: die UN-Charta sollte auch zum Umgang mit innerstaatlichen Konflikten ergänzt werden, da sie seinerzeit noch nicht dafür entwickelt worden war, Entwicklungen Rechnung zu tragen, die zu Bürgerkriegen führen. Gerade weil diese innerstaatlichen Entwicklungen neuerdings auch von außen geführt werden – und zwar zu dem, was man gemeinhin „Regimechanges“ nennt.

Michael von der Schulenburg – Nie wieder Krieg – Die Charta der Vereinten Nationen

E-Book, zu laden über: bsw-ep.eu