Griechenland: Der Klientilismus ist ungebrochen

Ein Artikel von Niels Kadritzke

Das Erzübel des griechischen Klientilismus zeigt sich auf staatlicher Ebene vor allem auch beim Steuer-Opportunismus der Regierungen. Der erzwungene Rücktritt des unabhängigen Steuereintreibers Theocharis ist ein Alarmzeichen dafür, dass der griechische Klientilismus ungebrochen ist. Ob die Nachfolgerin aus dem Hause PriceWaterhouseCoopers den Kampf gegen ihre vorherige Kundschaft, nämlich gegen die „große“ Steuerhinterziehung aufnehmen wird, muss man bezweifeln. Zugleich wird die Not der kleinen Steuersünder, die die Steuereintreiber inzwischen mehr fürchten als die Schutzgeld-Mafia, immer größer.

Der innere Kern der griechischen Krise liegt in dem alten Teufelskreis: Der Bürger verachtet den Staat, von dem er sich betrogen fühlt, den er deshalb als Steuerzahler skrupellos hintergeht, woraufhin wiederum die öffentlichen Defizite anwachsen, die am Ende die „kleinen“ Steuerzahler auszugleichen haben, weshalb die den Staat noch mehr verachten und so weiter.

Ohne eine tiefgreifende Reform des griechischen Staatsapparates wird es weder die notwendigen wirtschaftlichen Investitionen noch eine Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins geben. Von Niels Kadritzke.

Die Abschaffung des „autonomen“ Steuereintreibers

Warum der “Rücktritt“ von Charis Theocharis, Chef des „Generalsekretariats für öffentliche Einnahmen“ (GGDE), keine Episode, sondern ein höchst aufschlussreiches Ereignis ist, versteht man nur, wenn man sich die Bedeutung dieser GGDE und ihre Entstehung vergegenwärtigt. Ein eigenständiges Amt für die Steuerung und Kontrolle der Steuereinnahmen hat es bis 2012 nicht gegeben. Die betreffende Abteilung unterstand vielmehr direkt dem Vize-Finanzminister, also einem Parteipolitiker. Damit war garantiert, dass die Staatseinnahmen, sprich der Eifer und die Effektivität der Steuerverwaltung, den politischen Bedürfnissen und Vorgaben der Regierung entsprachen. Und die jeweilige Regierung war –vor allem vor Wahlen – nur an einem interessiert: an der Begünstigung respektive Schonung ihrer parteipolitischen Klientel.

Die klientelistische Steuerung der Staatseinnahmen lässt sich empirisch leicht nachweisen. In der Kathimerini vom 17. Juni wurden die entsprechenden Zahlen für den Zeitraum 2000 bis 2009 dokumentiert. In Verlauf dieser Jahre bildet die Kurve der Steuereinnahmen, ausgedrückt im prozentualen Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), einen klassischen „politischen“ Zyklus ab:

  • Im Jahr 2000 (als die Regierung Simitis wegen des Euro-Beitritts strenge Haushaltskriterien einhalten musste) stiegen die Steuereinnahmen auf 34,4 Prozent des BIP.
  • 2003 sank dieser Anteil angesichts der nahenden Neuwahlen (im März 2004) auf 32,3 Prozent.
  • Im Wahljahr 2004 schrumpften die Einnahmen noch weiter auf 31,5 Prozent des BIP. In dieser Zahl kumulieren sich zwei Effekte: Vor den Wahlen wurden die Finanzämter durch die um ihren Machterhalt kämpfende Simitis-Regierung gezügelt, und nach den Wahlen verschonte die neue Regierung Karamanlis ihre konservative Klientel (wie im Wahlkampf versprochen).
  • Bis 2007 stiegen die Steuereinnahmen aufgrund des Drucks aus Brüssel wieder auf 32,5 Prozent des BIP.
  • Im Wahljahr 2009 sank diese Kennziffer auf das Rekordtief von 30,5 Prozent. Am Jahresende waren die Steuereinnahmen um 11 Milliarden Euro hinter der Etatplanung zurückgeblieben.

Das Rekordtief von 2009 erwies sich als besonders fatal, weil zugleich die Staatsausgaben – vor allem für die „klientelistische“ Aufblähung des öffentlichen Sektors – auf 53,8 Prozent des BIP anstiegen (2006 lag diese Kennziffer noch bei 45,2 Prozent des BIP). Diese wachsende Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben hat das griechische Haushaltsdefizit auf die Rekordmarke von 15,7 Prozent katapultiert, das Land mit in den Staatsbankrott getrieben und damit letztlich – im Frühjahr 2010 – den Sparkommissaren der Troika ausgeliefert.

Vor diesem Hintergrund war es nicht nur verständlich, sondern in diesem konkreten Fall sogar einmal verdienstvoll, dass die Troika gegenüber der Athener Regierung in langen, fast zwei Jahre dauernden Verhandlungen eine institutionellen Neuerung durchgesetzt hat, die dem klientelistischen Steuer-Opportunismus einen Riegel vorschieben sollte. Das autonome, aus dem Finanzministerium ausgegliederte „Generalsekretariat für öffentliche Einnahmen“ sollte gewährleisten, dass die Kontrolle der Steuererhebung, inklusive der täglichen Praktiken der Finanzämter und der Schulung des Personals, von politischer Einflussnahme abgeschottet werden. Um die Unabhängigkeit der GGDE abzusichern, wird der Generalsekretär prinzipiell auf fünf Jahre bestellt. Weil sich diese Amtszeit nicht mit der (normalerweise) vierjährigen Regierungsperiode deckt, war dem GGDE-Chef eine „überparteiliche“ Stellung ähnlich der des Zentralbankpräsidenten garantiert. Eigentlich. Es sei denn, der oberste Steuereintreiber des Staates wirft vorzeitig das Handtuch.

Der Steuereintreiber tritt zurück, weil er zurücktreten muss

Der „Rücktritt“, mit dem der „autonome“ GGDE-Chef Theocharis seine Amtszeit bereits nach 17 Monaten beendet hat, war alles andere als freiwillig. Ganz Athen weiß, dass er aus dem Amt gedrängt wurde. Theocharis hat das ganz lakonisch bestätigt: „Ich trete zurück, weil ich zurücktreten muss.“ Über den wahren Grund für seinen Abgang herrscht in den Medien aller politischen Couleur nicht der geringste Zweifel (die folgende Darstellung beruht auf Hintergrundberichten in den Zeitungen Kathimerini, Efimerida ton Syntakton, Elevtherotypia, Avgi und einer Analyse auf dem Blog Macropolis).

„Er hat nicht auf die Politiker gehört,“ brachte es die Kathimerini vom 15. Juni auf den Punkt. Theocharis stellte sich vor allem in zwei Fragen taub, die der Regierung im Vorfeld der Europawahlen überaus wichtig waren:

  1. Am 25. April veröffentlichte die GGDE ein Zirkular, wonach Ausländer (natürliche wie rechtliche Personen) ihre Erträge (Zinsen wie Kursgewinne) aus griechischen Staatsanleihen zu versteuern haben, und zwar auch rückwirkend für die Jahre 2012 und 2013. Diese Mitteilung, die der Gesetzeslage entsprach, störte die Pläne der Regierung, zum ersten Mal nach vier Jahren wieder griechische Staatsanleihen auf den internationalen Bondsmärkten zu platzieren (Siehe dazu meine Anmerkung auf den NachDenkSeiten ) . Diese „Rückkehr auf die Märkte“, um die Kreditwürdigkeit des Landes zu demonstrieren, war von der Regierung als der große Knüller im Hinblick auf die Europawahlen geplant. Deshalb soll Samaras persönlich (nach Kathimerini vom 7. Juni) Theocharis angerufen und ermahnt haben: „Halt dich zurück mit deinem Zirkular.“ Doch der GGDE-Chef verhielt sich so autonom, wie es seiner Position entsprach. Er publizierte die Mitteilung über die Steuerpflichten doch, was auf den Bond-Märkten erhebliche Unruhe auslöste. Am 16. Mai wurde das Zirkular jedoch offiziell wieder zurückgezogen und zwar durch Finanzminister Stournaras, was eine klare Verletzung des Autonomie-Status der GGDE bedeutete. Die Annullierung war aber inoffiziell schon vorher „kommuniziert“ worden, begleitet von dem „Gerücht“, dass der unbotmäßige Theocharis bald abgelöst werde. So konnte Griechenland am 10. Mai die erhofften 3 Milliarden Euro für seine 5-Jahres-Anleihen einsammeln und zwar zu dem erstaunlich niedrigen Zinssatz von 4,95 Prozent.
  2. Die Missachtung des Prinzips, dass die Regierungsklientel vor Wahlen zu verschonen ist, war für Samaras und seine Partei unverzeihlich. Aber noch erzürnter reagierten sie auf eine zweite Unbotmäßigkeit von Theocharis. Der veröffentlichte nur wenige Tage vor den Europawahlen einen seit langem angekündigten „Aktionsplan“ zur Verfolgung von Steuersündern. Dieser Plan sah strengere Kontrollen und härtere Strafen auch gegen kleinere Sünder vor und erlaubte sogar den Zugriff des Fiskus auf die Bankkonten der Steuerschuldner.

Die Ankündigung eines verschärften Kurses gegen säumige Steuerzahler ausgerechnet im Vorfeld von Wahlen ist für griechische Verhältnisse unerhört. Die Regierung Samaras war also „nicht amüsiert“, zumal der Plan in manchen Medien als „Pogrom gegen die Kleinhändler und Kleinunternehmen“ denunziert wurde. Eine Zeitung behauptete sogar, das GGDE wolle den Zugriff auf Bankguthaben unter 1000 Euro ermöglichen, was gegen geltendes Gesetz verstoßen hätte. Das hat Theocharis zwar sofort dementiert, indem er versicherte, sein Aktionsplan ziele nur auf „die Bekämpfung der Steuerhinterziehung, wie es im Übrigen heute schon die Gesetze vorschreiben, die das griechische Parlament verabschiedet hat“ (Efimerida ton Syntakton 14. Juni). ND-Kreise erhoben nach den Wahlen dennoch den Vorwurf, Theocharis habe der Partei mit seinem Aktionsplan bis zu zwei Prozent Wähler gekostet, im Grunde sei er also ein verkappter Wahlhelfer der Syriza.

Der Klientilismus ist ungebrochen

Wie immer man die Amtsführung von Theocharis bewertet: Seine Abservierung ist ein weiterer Beweis dafür, dass das alte Klientelsystem noch voll im Saft steht und keineswegs dabei ist, sich selbst abzuschaffen. Wenn der für fünf Jahre berufene Generalsekretär für Steuereinnahmen vorzeitig zum Abgang gezwungen wird, „ist die Unabhängigkeit der von Theocharis bekleideten Position bereits kompromitiert“, befand Macropolis. In der Kathimerini schrieb der Wirtschaftswissenschaftler Michail Iakovidis, Institutionen wie das GGDE seien unentbehrliche Instrumente im Kampf gegen Verschwendung, Misswirtschaft und Klientelismus. Es sei kein Zufall, dass im Mai 2014 „erstmals in der neueren Geschichte des Landes die Einnahmen des Staates während einer Wahlperiode nicht zurückgegangen sind“. Genau das habe die Politiker beunruhigt und Samaras veranlasst, seiner Klientel den Kopf von Theocharis zu liefern. Damit habe er aber „eine überaus wichtige Institution torpediert, noch ehe diese sich bewähren konnte“.

Das institutionelle Defizit – die Dauerkrankheit

Ganz ähnlich wurde es von der Troika und vor allem von der EU-Kommission gesehen, wobei letztere mehrfach ihre „ernsthafte Beunruhigung“ über den Rückzug des GGDE-Chefs zu Protokoll gab. Offensichtlich sah man auch in Brüssel die Unabhängigkeit einer Institution bedroht, die versucht hatte, sich der „erstickenden Umarmung der politischen Führung“ zu entziehen.

An dieser Stelle ist eine Anmerkung fällig, die ich trotz – oder gerade wegen – meiner auf diesen Seiten regelmäßig dargelegten Kritik an der fatalen Politik der Troika loswerden muss. Mit dem Versuch der Gläubiger, nämlich EU und IWF, der politischen Klasse Griechenlands eine autonome, nicht parteipolitisch gegängelte GGDE aufzuzwingen, wollten sie eine durchaus berechtigte und überfällige „Reform“ durchsetzen , die man nicht einfach als Instrument einer technokratischen Fremdherrschaft denunzieren kann, wie es viele griechische Gegner eines strengeren Steuerregimes aus durchsichtigen Gründen tun.

Der Kampf gegen den Klientelismus ist die Achse jedweder Krisenpolitik für Griechenland; ohne einen Erfolg an dieser Front ist die Krise nicht zu überwinden. Das betonen gerade griechische Kritiker der politischen Klasse, die institutionelle Reformen wie die „Autonomie“ des GGDE seit langem vergeblich gefordert haben. Wenn die Politiker – auf Druck ihrer Wähler – diese und andere klientelistische Erzübel schon früher abgeschafft hätten, wäre es vielleicht zu einem Staatsbankrott gar nicht erst gekommen – und damit auch nicht zu einem „Diktat“ der Troika mitsamt ihrer zu Recht beklagten Folgen.

Daraus folgt für mich vor allem, dass auch und gerade die Ankläger der Troika eine Antwort auf Frage gegen müssen, welche Reformen in der griechische Gesellschaft angepackt und durchgesetzt werden müssten, wenn es die Troika gar nicht gäbe. Zu einer Antwort auf diese Frage muss sich also auch die griechische Opposition durchringen, wenn sie das Wählervolk davon überzeugen will, dass sie ein realistisches Konzept zur Überwindung der Krise hat.

Die großen Fische und die kleinen Steuersünder

Der Fall Theocharis hat aber noch eine andere Facette. Natürlich war der studierte Ökonom und IT-Spezialist, der zuvor für die Regierung das Generalsekretariats für Datenverarbeitung aufgebaut hatte, keineswegs ein weißer Ritter. Und bei den Steuerzahlern war er aus verständlichen Gründen höchst unbeliebt: In ihren Augen war er nicht nur der Technokrat, der sie gezwungen hat, ihre Steuererklärung erstmals elektronisch abzugeben, sondern auch ein herzloser Bürokrat, der mit den ständigen Kontrollen und Forderungen vor allem die „kleinen Leute“ quälte. Und speziell in linken Kreisen (etwa in Avgi, der Parteizeitung der Syriza) wurde Theocharis vorgeworfen, dass sein Generalsekretariat bei der Jagd auf die „großen Fische“ – die mit dem Millionen auf Schweizer und anderen Konten – versagt und sich deshalb an den kleinen Steuerschuldnern schadlos gehalten habe.

Nun ist der Vorwurf , der griechische Fiskus habe sich bei der Verfolgung der Steuerschuldner nicht an das Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“ gehalten, zwar völlig richtig, aber er geht an die falsche Adresse. Theocharis wollte durchaus die großen Fische an Land ziehen, aber er durfte es nicht. Die Regierung hat dem GGDE lange Zeit die nötigen personellen und technischen Mittel vorenthalten, ohne die ihm kein Großschuldner ins Netz gehen konnte. Theocharis hat darauf noch einmal in seiner Abschiedspressekonferenz hingewiesen, als er den Kampf gegen den „große Steuerbetrug“ als das „Allerschwerste“ bezeichnnete: „Ohne die nötigen Verfahrenstechniken und Strukturen, und mit einer derart heruntergekommenen Steuerverwaltung, muss man zuerst einmal Alles reparieren und in Ordnung bringen. Erst dann kann man die großen Steuerhinterzieher jagen, denen ja auch ein großes Arsenal zur Verfügung steht, zum Beispiel große Anwaltskanzleien.“(Ta Nea vom 6. Juni).

An zwei Beispielen kann man aufzeigen, wie das GGDE systematisch an der Jagd auf die großen Steuersünder gehindert wurde. Das erste Beispiel betrifft die finanzielle und personelle Ausstattung, die bis heute unzureichend ist. In der ersten Zeit fehlte es sogar an Mitteln, um Kontrolleure in Nachtschichten einzusetzen. Und das obwohl jeder weiß, dass der Fiskus vom notorisch steuerscheuen Nachtgewerbe (Cabarets, Bars, Bouzouki-Kneipen) am unverfrorensten hintergangen wird.

Noch wichtiger ist das zweite Beispiel: Die Forderung von Theocharis, dem GGDE die finanzpolizeiliche Taskforce SDOE (wörtlich: Korps zur Verfolgung von Finanzverbrechen) zu unterstellen, wurde nie erfüllt. Zwar konnte das Generalsekretariat ab Ende 2013 für bestimmte Einsätze SDOE-Personal anfordern, aber die Einsatztruppe insgesamt blieb unter der direkten Aufsicht des Finanzministers. Und vor allem: Die Zuständigkeit für besonders brisante „Sonderfälle“, zum Beispiel für die Überprüfung der berühmten „Lagarde-Liste“ verblieb exklusiv bei der SDOE.

Zur Erinnerung:  Die Lagarde-Liste wurde der griechischen Regierung vom französischen Geheimdienst übergeben und enthielt die Namen und Daten von 2062 Konten bei der Schweizer HSBC-Bank, auf denen griechische Bürger jeweils Millionenbeträge verstaut hatten (Näheres über die Bedeutung und den Umgang mit dieser Liste ist nachzulesen in meinen Berichten vom 22. November 2012 und 17. Januar 2013). Durch Abgleichung mit den Steuererklärungen der Kontoinhaber könnte der griechische Fiskus tatsächlich vielen „Großbetrügern“ auf die Schliche kommen. Aber bis zu diesem Sommer, also 20 Monate nach der Übergabe der Lagarde-Liste, haben die SDOE-Spezialisten erst ein Viertel der verdächtigen Schweizer Millionenkonten durchgecheckt. Aber das ist nicht die einzige Liste. Nach Angaben des SDOE-Chefs Floratos haben seine Leute noch Listen mit 20 000 Konten abzuarbeiten (u.a. von Liechtensteiner Banken). Wenn sie in dem bisherigen Tempo weitermachen, wird es noch Jahre dauern, bis der griechische Fiskus zu seinem Recht kommt.

Schonfrist für die Touristenzentren

Man könnte noch einen dritten Fall verweisen, der direkt mit der Ablösung von Theocharis zu tun hat, ohne dass allerdings eine bewusste Begünstigung von Steuerbetrügern nachzuweisen wäre. Tatsache ist jedenfalls, dass das GGDE – auch wegen des wochenlangen Vakuums an seiner Spitze – seine Kontrollpflichten gegenüber dem touristischen Gewerbe stark vernachlässigt hat. Eigentlich wollten die Steuerkontrolleure schon vor Wochen beginnen, sich gezielt auf den boomenden Touristeninseln umzusehen, wo viele Läden, Cafés und Tavernen seit Jahren ihre Umsätze verschleiern, indem sie keine oder falsche Quittungen ausstellen. Und wo viele Betriebe sich durch Beschäftigung von Schwarzarbeitern um Steuern und Versicherungsbeiträge drücken.

Dieses „prophylaktische“ Kontrollprogramm sollte gleich zu Beginn der Touristensaison anlaufen, um die potentiellen Betrüger „abzuschrecken“. Doch die blieben bislang unbelästigt, weil die Kontrolleure bis Anfang Juli „durch Abwesenheit glänzten“, wie die Avgi am 4. Juli berichtete. Die Syriza-Zeitung führt dies allerdings nicht nur auf den erzwungenen Abgang von Theocharis zurück: Die Regierung habe dem GGDE ohnehin „die Hände gefesselt“, weil sie für den Sondereinsatz in den Touristenzentren das nötige und entsprechend geschulte Personal verweigert habe. Theodoros Floratos, der Chef der finanzpolizeilichen Taskforce SDOE kommt zu dem resignierten Fazit: „Es gibt keinen organisierten Staat, der es ermöglichen würde, die sommerlichen Kontrollen durchzuführen.“ (zitiert nach Kathimerini vom 17. Juni).

Unternehmensberaterin soll Steuern eintreiben

Wie immer das GGDE „nach Theocharis“ funktionieren wird, eines ist sicher: Das vormals „autonome“ Amt wird künftig nur so effektiv sein, wie es die Regierung Samaras wünscht oder zulässt. Dafür steht schon die Person der neuen Generalsekretärin: Katerina Savvaidou war während der ND-Regierung von Kostas Karamanlis eine Schlüsselfigur im Finanzministerium, über deren Schreibtisch alle Steuergesetze und –verordnungen liefern. Nach 2009 wechselte sie durch die berühmte „Drehtür“ von ihrem Posten im Finanzministerium auf einen Chefsessel bei PwC Greece, dem griechischen Zweig des internationalen Unternehmensberaters PriceWaterhouseCoopers, der für seine Klienten unter anderem Strategien für eine optimale Steuervermeidung ausarbeitet.

Deshalb wird besonders interessant zu beobachten sein, wie sich die „Politik“ des GGDE gegenüber den früheren Klienten der PwC-Managerin Savvaidou entwickelt. Über einen neuralgischen Punkt berichtet die Zeitung Ta Nea vom 25. Juni: Die neue Generalsekretärin für die Steuereinnahmen hat auf ihrem Schreibtisch ein Konzept ihres Vorgängers vorgefunden, das speziell die in Griechenland operierenden Multis ins Visier nimmt, die über „interne Verrechnungen“ die Besteuerung ihrer griechischen Gewinne mindern oder ganz vermeiden wollen. Unter Berufung auf „Quellen innerhalb des GGDE“ schreibt Ta Nea, Theocharis habe einen Aktionsplan erarbeiten lassen, der im Hinblick auf diese Großunternehmen „diverse Kontrollmaßnahmen, neue Erfassungssysteme und ein verändertes Vorgehen vorsieht“. Ob dieses Konzept von der neuen Chefin aus dem Hause PriceWaterhouseCoopers tatsächlich umgesetzt wird, heißt es in dem Bericht, könne allerdings „nicht als sicher gelten“.

Die Not der kleinen Steuersünder

Seit Beginn der griechischen Krise ist die Empörung der kleinen Leute über die ungerechte Lastenverteilung der cantus firmus aller öffentlichen Debatten. Zu dieser Grundmelodie gehört auch die ewige Klage der „kleinen“ Steuersünder, dass der Staat die Großen laufen lasse. Dazu eine kleine Geschichte, die mir vor kurzem auf dem Flug von Athen nach Berlin hinterbracht wurde. Neben mir saß ein nervöser Grieche mittleren Alters, der zum ersten Mal nach Deutschland flog. Ein befreundeter Kneipier hatte ihm in der Nähe von Berlin einen Job angeboten. Die Alternative wäre gewesen, zwei Monate auf einer Touristeninsel zu kellnern, aber er wollte mal ein anderes Land sehen, und eines, das besser „funktioniert“ als Griechenland. Und dann folgte die immer wieder gehörte Geschichte: Kostas (nennen wir ihn so) hatte in Athen eine Taverne betrieben, die er dicht machen musste. Er konnte schlicht die Steuern nicht bezahlen, die auf ihn niedergingen, samt der aufgelaufenen Bußgelder für jahrelange Steuerrückstände (womöglich auch für unerwähnte Steuersünden). Und wie ihm ginge es Hunderten von Café- und Tavernenbetreibern in Athen. Zwar könne man die Schulden in Raten abzahlen, aber die Einnahmen reichten einfach nicht aus. Dabei wisse doch jeder, dass die Umsätze im ganzen Gewerbezweig eingebrochen seien. Und auch die Steuereintreiber wüssten es, aber sie seien gnadenlos, und so ginge eine Existenz nach der anderen kaputt.

Dabei sei der Staat auch noch dumm, denn ein Café, das zumacht, zahlt nie wieder Steuern. Da seien „die Bravos“ viel klüger und verständnisvoller. Und dann folgte ein Lobgesang auf die Schutzgeld-Mafia, die fast jede Athener Kneipe im Griff hat, wenn man Kostas glauben will. Sein „Beschützer“ habe ihm gesagt: Wir wissen dass du keine Einnahmen hast, also wollen wir nichts. Wir kommen erst zurück, wenn du wieder Gewinne machst, dann wird es etwas teurer, aber du kannst es dir dann ja leisten.

Eine „keynesianische“ Mafia

Diese Geschichte ist natürlich nicht zu überprüfen, aber mir fällt auch kein Grund ein, warum sie erfunden sein sollte. Es ist der klassische Fall des Kleinunternehmers, der sich vom feindlichen Staat in den Ruin getrieben sieht. Und der bei der „keynesianisch“, weil antizyklisch operierenden Mafia nicht nur mehr Verständnis findet, sondern auch mehr ökonomische Vernunft sieht als beim Staat und seinen Steuereintreibern. Und der die anderen Repräsentanten des Staates als die skrupelloseren „Schutzgeld-Erpresser“ erlebt.

Dazu erzählt Kostas aus seinem Unternehmerleben: Um eine Lizenz für eine Taverne zu erhalten, musst du Dutzende von bürokratischen Hürden überwinden. Und an jedem Hindernis wird abkassiert. Zum Beispiel brauchst du ein Sicherheits-Zertifikat von der Feuerwehr. Die besteht darauf, dass in der Küche eine Abzugsöffnung in der Decke ist. Dann brauchst du ein Zertifikat von der Gesundheitspolizei; die erklärt dir, dass in der Decke keine Öffnung sein darf, wegen der Kakerlaken. Also verschließt du das Loch provisorisch, aber das weiß die Feuerwehr und kommt alsbald zur Kontrolle vorbei. Die weiß warum die Öffnung abgedeckt ist und bietet dir an, die Augen zuzudrücken. Aber dafür musst den Inspektor von der Feuerwehr natürlich schmieren. Und weder die Feuerwehr noch das Hygieneamt haben ein Interesse daran, den profitablen Widerspruch zwischen den beiden Bestimmungen zu beseitigen.

Solche Geschichten können in Griechenland die meisten Gewerbetreibenden erzählen. Aus ihrer Sicht sind diese Fallen bewusst in die Gesetze eingebaut, als Einnahmequellen für die parasitären Bürokraten. Es handelt sich um ein Phänomen, über das Dutzende von Dissertationen geschrieben wurden. Zur vollen Blüte kommt es in klientelistischen Staaten, denn die Aussicht auf erpresste Sondereinnahmen erhöht den Wert der von der Regierung zu vergebenden Posten. In armen Staaten hatte das eine gewisse Logik, weil die garantierten Nebeneinnahmen die schmalen Gehälter der Staatsbediensteten aufbessern. Aber in Griechenland blieb diese Einnahmequelle auch erhalten, nachdem der Staat die Bezüge im öffentlichen Sektor erheblich aufgebessert hatte. Das ist der Hauptgrund, warum ein Posten im öffentlichen Dienst vor der Krise so erstrebenswert war – und zugleich so verhasst bei denen, die ihm ausgeliefert sind, ohne an ihm zu partizipieren.

Die Geschichte von Kostas zeigt aber auch, warum der Fall Theocharis so bedeutsam ist. Denn nur wenn der Staat an einem überzeugenden Beispiel vorführt, dass er effektiv und zugleich gerecht der Gesellschaft dienen kann, ist der alte Teufelskreis zu durchbrechen, der hier schon so häufig beschrieben wurde: Der Bürger verachtet den Staat, von dem er sich betrogen fühlt, den er deshalb als Steuerzahler skrupellos hintergeht, woraufhin wiederum die öffentlichen Defizite anwachsen, die am Ende die „kleinen“ Steuerzahler auszugleichen haben, weshalb die den Staat noch mehr verachten und so weiter.

Der innergriechische Kern der Krise – die unbezahlten Steuern

Hier liegt der „innere“ Kern der griechischen Krise: der Grundwiderspruch, der deshalb so unlösbar zu sein scheint, weil beide Seiten auf ihre Weise Recht haben. Auf der einen Seite fehlen dem Fiskus mit Stand von Ende Mai 2014 insgesamt 66,4 Milliarden Euro an unbezahlten Steuern (von Individuen und Unternehmen, wobei die hinterzogenen Gelder in diese Summe gar nicht eingerechnet sind). Diese Steuerschuld hat sich allein seit Jahresbeginn um 5,2 Milliarden erhöht. Wenn sie im selben Tempo weiter wächst, wofür alle Anzeichen sprechen, wird der fiskalische Fehlbetrag im Oktober die 70-Milliarden-Grenze überschritten haben (Diese und die folgenden Zahlen entnehme ich der Darstellung bei Macropolis vom 16. Juli, link: http://www.macropolis.gr/?i=portal.en.economy.1382) Das ist ein unhaltbarer Zustand, der noch prekärer wird, wenn man die Außenstände bei den Beiträgen zu den Sozialkassen dazu rechnet, die in das Defizit des „erweiterten“ Staates“ eingehen.

Auf der anderen Seite steht außer Zweifel, dass sehr viele der 2,5 Millionen Steuerschuldner angesichts der Krise und ihrer geschrumpften Einkommen derzeit gar nicht zahlen können. Das wird vollends deutlich, wenn man sich klarmacht, dass die säumigen Steuerzahler nicht nur gegenüber dem Fiskus verschuldet sind. Die Zahl der notleidenden Kredite bei den griechischen Banken steigt unaufhaltsam an. Diese NPLs (englisch „non-performing loan“) sind Kredite, für die seit mindestens 90 Tagen keine Zinsen mehr bezahlt wurden. Das Volumen dieser NPLs hat Ende Mai 77 Milliarden Euro erreicht, verteilt auf 42 Milliarden an Unternehmenskrediten, 25 Milliarden an Hypotheken und 10 Milliarden an Konsumentenkrediten.

Die Angst vor einem neuen Stresstest für den griechischen Finanzsektor

Eine noch wichtigere Zahl: Der Anteil der NPLs an der Kreditsumme des gesamten Bankensystems steigt ständig und hat im 1. Quartal 2014 die ein-Drittel-Schwelle überschritten (33,5 Prozent nach 31.9 Prozent im 4. Quartal 2013). Zählt man zu den NPLs noch die „umstrukturierten“ Kredite dazu – bei denen sich Bank und Kunden auf weichere Abzahlungskonditionen geeinigt haben – beträgt der Umfang „nicht ordentlicher“ Kredite bereits 40 Prozent des gesamten Kreditvolumens.

Der Prozentsatz an NPL im griechischen Finanzsektor ist der höchste in der ganzen Eurozone (außer Zypern, wo der NPL-Anteil bei 52 Prozent liegt) und steigt weiter an. Das bereitet den griechischen Banken im Hinblick auf den bevorstehenden „Crashtest“ der EZB – für alle systemrelevanten Banken der Eurozone – die allergrößten Sorgen. Der Wirtschaftskommentator Dimitris Kontogiannis berichtet in der Kathimerini (engl. Ausgabe vom 20. Juli) von der Besorgnis potentieller internationaler Anleger, der Stresstest der EZB könnte im Finanzsektor einen großen Kapitalbedarf diagnostizieren. Dann wären „einige oder alle griechische Banken womöglich gezwungen, sich frisches Kapital auf den Märkten zu besorgen“, und zwar „zum dritten Mal seit Sommer 2013“.

Die nicht beglichenen Schulden summieren sich auf 88 Prozent des BIP

Alle nicht beglichenen Schulden – gegenüber den Banken, dem Fiskus und den Sozialkassen – summieren sich auf 160 Milliarden Euro oder 88 Prozent des griechischen Inlandsprodukts. Diese Problematik wurde lange ignoriert, wird aber die griechische Regierung – und die Gläubiger – demnächst intensiv beschäftigen. Und sie wird das zentrale Thema sein, das die Troika auf die Tagesordnung setzen dürfte, wenn sie im September nach Griechenland zurückkehrt, um sich ein Bild über den Zustand der Staatsfinanzen zu machen – und über die Umsetzung vieler Reformprojekte, die von griechischer Seite zugesagt wurden.

Die Regierung Samaras hofft, dass sie den Inspektoren der EU und des IWF im Herbst – nach einer erfolgreichen Touristensaison mit einer Rekordzahl von ausländischen Urlaubern – mit neuem Selbstbewusstsein entgegen treten kann. Aber so wichtig dieser als die „Schwerindustrie“ Griechenlands bezeichnete Sektor auch sein mag – ein sommerlicher Touristenboom schafft keine dauerhaften und oft nicht einmal reguläre saisonale Arbeitsplätze. Und er geriert für den Staat (aus oben dargestellten Gründen) nur bescheidene gewerbliche Steuereinnahmen. In keinem Fall taugt ein touristischer Boom als Basis eines nachhaltigen Wachstums, für das in Griechenland derzeit noch die zentralen Voraussetzungen fehlen.

Ein solches Wachstum ist auf sinnvolle „strategische“ Investitionen von außen ebenso angewiesen wie auf die Mobilisierung inländischer Investitionen (siehe dazu die Analyse von Yiannis Mouzakis in: Macropolis vom 22. Mai 2014). Voraussetzung für jegliche Art von Investitionen ist allerdings eine tiefgreifende Reform des griechischen Staatsapparats, ohne die auch die notwendigen langfristigen Veränderungen des gesellschaftlichen Bewusstseins nicht denkbar sind.

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