Der Streit zwischen Beck und Müntefering nur ein Fake?

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Stellen Sie sich einmal für einen Augenblick vor, Sie wären Anfang September in einer strategischen Planungsgruppe im Willy-Brandt-Haus in Berlin oder im Beraterumfeld von Kurt Beck gesessen und hätten eine Strategie zur Verbesserung der Lage der SPD und zur Steigerung des Ansehens des Parteivorsitzenden und dazu noch eine Choreografie für einen erfolgreichen SPD-Bundesparteitag entwerfen müssen.
Was hätten Sie vorgeschlagen? Wolfgang Lieb

Sie hätten als Ausgangslage für die SPD und Kurt Beck folgendes unerfreuliche Bild zeichnen müssen:

  • Die SPD liegt bei den Umfragen unter 30 Prozent, manche Erhebungen geben ihr sogar nur noch 24 Prozent – ein historisch einmaliger Tiefstand für eine Volkspartei.
  • Schwarz-Gelb hätte bei Neuwahlen eine absolute Mehrheit. Eine Regierungsbeteiligung der SPD wäre gefährdet – selbst wenn es wieder eine linke Mehrheit im Parlament gäbe, weil eine Zusammenarbeit mit der Linken nicht in Frage kommt.
  • Der Parteivorsitzende hat nur geringe Sympathiewerte. Selbst SPD-Wähler würden bei einer Alternative Beck/Merkel die Kanzlerin vorziehen.
  • Angela Merkel wird in der Öffentlichkeit als die bessere Sozialdemokratin gehandelt.
  • Die SPD ist selbst bei ihrem traditionell besten Kompetenzwert, der sozialen Kompetenz hinter die Union zurückgefallen.
  • Der von Rüttgers eingebrachte Vorschlag zur beitragsbezogenen Verlängerung des Arbeitslosengeldes hat auf dem Dresdener Parteitag der CDU eine Mehrheit gefunden und hat der CDU ein soziales Mäntelchen verpasst und zieht Wähler von der SPD ab.
  • Die Linke erfährt mehr und mehr Zustimmung und ist zur drittstärksten politischen Kraft angewachsen. Im Wesentlichen zu Lasten der SPD. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht.
  • Die Basis der Gewerkschaften sympathisiert immer stärker mit der Linken und die sozialdemokratisch gebundenen Gewerkschaftsvorstände haben immer größere Mühe zu begründen, warum sie mit der SPD nicht kritischer ins Gericht gehen.
  • Der bevorstehende Parteitag könnte völlig aus dem Ruder laufen. Kurt Beck könnte keine überzeugende Zustimmung erfahren, seine Personalvorschläge für den Parteivorstand würden nur mit eine niedrigen Stimmenzahl angenommen. Bei der Bahnprivatisierung könnte es erhebliche Widerstände geben. Es ist nicht auszuschließen, dass bei der Rente mit 67 Beschlüsse gefasst würden, die eine Aufweichung fordern. Womöglich würde gar noch ein Antrag zur Abstimmung gestellt, der die Vorschläge des DGB aufgriffe, das Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitnehmer zu verlängern. Auch dabei ist nicht auszuschließen, dass ein solcher Antrag eine Mehrheit erhielte. Der gesamte Vorstand, der den Agenda-Kurs und vor allem die Hartz-Reformen als Erfolg der SPD-Politik darstellen wird, wäre desavouiert. Eine Spaltung der SPD drohte. Die Debatte um das neue Grundsatzprogramm geriete dabei völlig in den Hintergrund. Es bestünde die Gefahr, dass der Schwenk zum „vorsorgenden Sozialstaat“ nicht mit einer überzeugenden Mehrheit verabschiedet wird.

Kurz:
Die Situation der SPD ist katastrophal und eine Besserung ist nicht in Sicht.

Die strategische Frage ist:
Wie könnte man aus dieser unerfreulichen Lage herauskommen?

Ziel einer erfolgversprechenden Strategie muss es sein:

  • Der bisher als schwach eingeschätzte neue Vorsitzende Kurt Beck müsste Führungsstärke beweisen, denn er muss auf dem Parteitag hohe Zustimmungswerte erzielen.
  • Der Vorsitzende und die SPD insgesamt müsste ihr soziales Profil schärfen.
  • Um die Arbeitnehmer wieder einzubinden, müsste man endlich wieder einmal einen Vorschlag der Gewerkschaften aufgreifen.
  • Der Vorschlag dürfte von der Union in der Großen Koalition nicht (wie beim Mindestlohn) rundweg abgelehnt werden können.
  • Man müsste der Ablehnungskampagne der Linken gegen die Hartz-Gesetze, die in der Sache von einer großen Mehrheit in der Bevölkerung für richtig gehalten wird, etwas entgegen setzen.
  • Den Parteitagsdelegierten müsste mit einem Beschluss das Gefühlt vermittelt werden, dass sie sich in einer Abstimmung mit symbolischer Bedeutung gegen die mächtigen Regierungsmitglieder der SPD durchgesetzt haben. Gelingt es den Delegierten den Eindruck zu geben, dass sie sich in einer in der öffentlichen Debatte für wichtig erachteten Frage durchgesetzt haben, so könnte der Widerstand bei anderen Streitpunkten, wie etwa der Bahnprivatisierung oder bei der Rente mit 67 gelockert oder gar gebrochen werden.
  • Im Bewusstsein eines symbolisch wichtigen Abstimmungserfolges, würden die Delegierten auch nicht mehr auf die Idee kommen, in der geheimen Wahl, die Stellvertreter im Parteivorstand mit einem mäßigen Ergebnis „abzustrafen“.

Welche Strategie und welches Thema böte sich da an?

Sie ahnen es schon:
Man inszeniert einen parteiinternen Streit und Machtkampf um die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I.

  • Kurt Beck kann sich damit von seinem Vorgänger abgrenzen, der als Vizekanzler ja immerhin der zweitmächtigste Mann in der Regierung ist. Das lässt sich dadurch inszenieren, dass Kurt Beck diesen Vorschlag macht und Franz Müntefering die Rolle des Vertreters der reinen Agenda-Lehre übernimmt und sich hartnäckig dagegen ausspricht. Man lässt es auf einen „High-Noon“ zuspitzen, bei dem es zum Duell der beiden wichtigsten Männer in der SPD kommt. Beck setzt sich durch und gilt von nun an als der mächtige Parteiführer, der sogar das mächtigste SPD-Regierungsmitglied in die Schranken weist.
  • Man hat also eine für die Medien so entscheidende Personalisierung des Streits geschaffen.
  • Die Sachfrage einer minimalen Auflockerung von Hartz IV löst eine heftige kontroverse Debatte um den Agenda-Kurs in der Öffentlichkeit aus. Selbst in der eigenen Partei warnen Clement, Steinmeier oder Steinbrück vor einer Rückkehr zu alten Ufern. Das liefert zusätzlichern Stoff für die öffentliche Debatte. Es gibt natürlich einen Aufschrei der Wirtschaftsverbände. Die überwiegend auf die Agenda eingeschworenen Kommentatoren in den Medien reden von einer Aufweichung der Agenda und ihren Erfolgen, das Massenblatt BILD inszeniert wieder einmal eine ihrer Medienkampagnen – so dass es nun wirklich alle mitbekommen. Einige wohlgesonnere Journalisten konzedieren dem Beckschen Vorschlag immerhin noch, dass dieser zwar nicht „rational“, aber vielleicht das Gerechtigkeitsgefühl in der Bevölkerung treffen mag.
  • Der Vorstoß Becks kann ihm und – wenn der Parteitag ihm folgt – der SPD insgesamt wieder ein sozialeres Image geben.
  • Weil Beck einen Vorschlag des DGB aufgreift, kann der Parteivorsitzende und die SPD endlich wieder einmal ihre Nähe zu den Gewerkschaften beweisen.
  • Der Kampagne der Linken gegen die Hartz-Gesetze wird Wind aus den Segeln genommen.
  • Die CDU kann nicht frontal dagegen halten, hat ihr Bundesparteitag doch ganz Ähnliches beschlossen. Und sollte sie mit der Frage der Finanzierung attackieren, könnte man angesichts der Milliardenüberschüsse der Bundesagentur diese Angriffe locker parieren, indem man der CDU noch eine weitere Beitragssenkung bei der Arbeitslosenversicherung zugesteht. Damit wäre gleichzeitig auch eine mögliche Kritik, die Sozis würden die Lohnnebenkosten wieder anheben, aufgefangen. Die veröffentlichte Meinung könnte sich in dieser Frage auch nicht eindeutig auf die Seite der Union schlagen, sofern sie auch nur einigermaßen glaubwürdig erscheinen will.
  • Der Parteitag würde mit großer Mehrheit diesen Beschlussvorschlag ihres Vorsitzenden unterstützen und Beck vor lauter Begeisterung über diesen Sieg eine für die öffentliche Darstellung so wichtige 90-Prozent-Zustimmung schenken. Der Parteitag diskutiert stundenlang über diese Entscheidung und hat endlich ein Ventil gefunden, Dampf über die bei den Delegierten so unbeliebte Hartz-Reform abzulassen. Für lange Debatten etwa um die Bahnprivatisierung oder um eine Auflockerung der Rente mit 67 bleibt überhaupt keine Zeit mehr. Die Medien bekommen damit keinen Stoff, um über diese Kontroversen ausführlich zu berichten. Der Antrag zur Rentenpolitik wird an den Parteivorstand überwiesen und bei der Bahnprivatisierung erteilt der Parteitag einen weiteren Prüfauftrag zum Volksaktien-Modell der (angeblichen) Privatisierungsgegner. Zu einer Debatte um die Anhebung des Alg II wird es erst gar nicht kommen, weil ja schon der Arbeitsminister für November – also nach dem Parteitag – eine Überprüfung zugesichert hat.
  • Müntefering, Steinmeier und Steinbrück werden vor dem Parteitag treuherzig erklären, dass sie sich dem Votum der Delegierten beugten, dass es nun aber darauf ankomme, ob der Koalitionspartner mitmachte. Das dürfte ihnen immerhin die so genannten „ehrlichen“ (weil mäßigen) Ergebnisse für die Wahl in ihre Vorstandsposten bescheren. (Was sie dann in der Regierung machen, ist dann immer noch ihre Sache.)

Der Vorschlag, das Arbeitslosengeld I für ältere minimal zu verlängern, ist also genial.
Er kann die Ausgangslage der SPD nur verbessern. Er bringt Beck ins Gespräch, dieser kann Stärke und Führungskraft beweisen. Die SPD kann ihr soziales Image polieren und der Linken Wasser abgraben. Die CDU kann, im Glashaus sitzend, nicht allzu dicke Steine werfen. Und vor allem der Parteitag ist gerettet.

Das Allerwichtigste ist:
Mit einem winzigen Zugeständnis ist der Agenda-Kurs über einen weiteren SPD-Parteitag gerettet. Die vielfach geforderte Bilanz ist – ähnlich wie beim Neuwahl-Coup Schröders – ein weiteres Mal verhindert. Die Regierungsmitglieder der SPD können munter auf diesem Kurs weiterfahren. Franz Müntefering kann sich mit der Kanzlerin verständigen, dass man den Konflikt um die Verlängerung des Arbeitslosengeldes nicht eskalieren lässt. Entweder man schiebt diese Frage auf die lange Bank oder man findet einen Kompromiss, der an der Sachlage nichts verbessert.

Sie werden jetzt vielleicht einwenden, so einen Fake könne man nicht inszenieren, das sei mal wieder so eine Verschwörungstheorie.
Albrecht Müller und ich saßen oft genug in solchen strategischen Planungsgruppen und wir haben häufig solche Planspiele mitentwickelt. Wir sind davon überzeugt, dass die junge Garde in den Apparaten um Kurt Beck oder im Willy-Brandt-Haus zu solchen taktischen Überlegungen fähig ist.
Wenn das nicht so ausgedacht worden sein sollte, dann trifft – wenn auch dann ungewollt – das hier dargestellte und für den Parteitag vorausgesagte Ergebnis dennoch zu.

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