Sprache in der Flüchtlingsdebatte: Worte können auch Taten sein

Jens Berger
Ein Artikel von:

Tagtäglich lesen und hören wir derzeit Worte wie „Flüchtlingsstrom“, „Flüchtlingsflut“ oder „Flüchtlingswelle“. Welche Bilder entstehen in unseren Köpfen dadurch? Die, des gleichmäßig dahinfließenden Flusses, die, der erfrischenden Welle bei einem Meeresbad in den Fluten der Nordsee? Oder eher die von unbeherrschbaren, zumindest aber gefährlichen Naturereignissen, die Angst und Schrecken verursachen? Ströme treten über die Ufer und setzen Städte unter Wasser und Schlamm. Fluten zerstören hierzulande Deiche und führen zu Land-unter auf den Halligen, auf den Marshallinseln sind sie lebensgefährdend. Von einer Welle überrollt zu werden, tut zumindest weh, manchmal endet es auch tödlich. Warum also diese Bilder im Zusammenhang mit Flüchtlingen? Von Klaus Peter Lohest [*]

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Zudem werden die fliehenden Frauen, Männer und Kinder auf diese Weise entindividualisiert. Die Worte werden ihrem Einzelschicksal nicht gerecht. Jede und jeder von ihnen hat einen individuellen Grund, sich auf die lebensgefährliche Flucht zu begeben. Vergegenwärtigt man sich, dass viele Fliehende in den Fluten und Wellen den Tod finden, dann verbietet sich diese Wortwahl schon deshalb. Das gilt auch für das Wort „Lawine“. Von einer Lawine wird man verschüttet oder begraben. Uns wollen Flüchtlinge weder verschütten noch begraben.

Der allgemeine Sprachgebrauch hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Wir nutzen immer mehr Kurznachrichten, einzelne Worte, plakativ statt sensibel. Daher glaube ich, dass viele solche Begriffe unbewusst verwenden. Andere sind sich hingegen gut bewusst, was sie sagen, warum sie es so sagen und was sie damit anrichten. Hier geht es darum, Begriffe zu besetzen und mit erschreckenden Bildern zu hinterlegen. So werden Worte zu Taten.

Nehmen wir als weiteres Beispiel das Reden von der „Flüchtlingskrise“. Ja, wir haben Krisen. An erster Stelle ist es eine Krise der Humanität, wenn aus vielen Ländern Menschen fliehen müssen, weil ihre Heimat zerbombt wird oder weil sie terrorisiert werden. Die politische Krise besteht darin, dass viele Staaten – auch mit dem Zutun der westlichen Welt – in den letzten Jahren so destabilisiert wurden, dass jegliche staatliche Ordnung verloren gegangen ist und es keine Verhandlungspartner gibt, mit denen überhaupt Friedensgespräche geführt werden könnten. Die Fronten sind unklar. Wer steht wofür? Mit wem, gegen wen, für wen? Manche, gegen die wir heute Krieg führen sollen, sind erst durch die Unterstützung westlicher Staaten groß geworden.

Auch unser Wirtschaften ist ein Krisenverursacher: Waffen, die wir exportieren, zum Beispiel an Saudi-Arabien, einem Staat, aus dem der Terror mitfinanziert wird.

Wir wirtschaften so, dass Menschen aufgrund von Umweltkatastrophen ihr Leben in Sicherheit bringen müssen. Unser Beitrag zur Entwicklungspolitik liegt immer noch weit unter den 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens, die wir uns schon vor Jahrzehnten vorgenommen hatten.

Und natürlich ist es auch eine „Krise“, wenn Flüchtlinge in Notunterkünften untergebracht werden müssen oder sich nachts vor Ämtern anstellen müssen, um überhaupt die Chance auf eine Registrierung zu haben. Aber ist das zusammen eine „Flüchtlingskrise“? Nein, die Flüchtlinge sind Opfer dieser Krisen.

Übrigens: Die aktuelle Situation sollte jedem klarmachen, wie wichtig ein handlungsfähiger Staat ist. „Weniger Staat“, die Devise der letzten Jahre, war und ist falsch. Wir brauchen mehr staatliche Handlungsfähigkeit, auch was das Personal angeht. Das ist eine Voraussetzung gelingender Integration.

Was ist mit Integrationskonzepten? Schon vor fünfzehn Jahren hatten wir eine Debatte um die sogenannte „Leitkultur“. Heute haben wir sie wieder. Ich kenne darauf nur eine vernünftige Antwort: Die Grundsätze für das Zusammenleben in Deutschland stehen in unserem Grundgesetz. Das gilt für alle. Dann können keine Missverständnisse entstehen. Dann muss niemand befürchten, es gehe in Wirklichkeit um „Oben und unten“, um Kulturen erster und zweiter Ordnung, um Ausgrenzung. Unser Grundgesetz ist aus der Erfahrung von Krieg, Vernichtung und Massenmord geschrieben worden. In den ersten 20 Artikeln finden sich wie in kaum einer anderen Verfassung die Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 wieder.

Kommen wir zu der Forderung nach einem „Integrationspflichtgesetz“. Die meisten Geflüchteten sehnen sich danach, sicher, in Frieden und Geborgenheit zu leben. Sie suchen für sich und ihre Kinder eine Zukunftsperspektive bei uns in Deutschland, viele auf Dauer, manche auf Zeit. Sprache, Arbeit, Bildung, gesellschaftliche Teilhabe sind die Voraussetzungen dafür. Wenn wir das gemeinsam ermöglichen und Ghettos verhindern, dann bietet das die beste Gewähr für gelingende Integration.

Wer will, dass „alle Neuankömmlinge … auf ihren Kopfkissen eine `Hausordnung Deutschland´ vorfinden“, den muss man daran erinnern, dass das Grundgesetz diese Hausordnung ist. Hier sind die Grundsätze unserer demokratischen Gesellschaftsordnung niederlegt und die wiederum haben Auswirkungen auf das Alltagsleben. Glauben und Für-Richtighalten kann bei uns in Deutschland jeder und jede, was er oder sie will, aber alle müssen sich an die gleichen Grundsätze und Regeln halten. In Abwandlung eines Wortes von Gustav Heinemann kann man sagen: „Das Grundgesetz ist ein großes Angebot auch an alle, die zu uns kommen.“

Unser Grundgesetz sagt klar, was gilt. In Artikel 2, Absatz 1 heißt es: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Im Zusammenspiel mit Artikel 3 Absatz 3 („Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“) zeigen sich ganz unmissverständlich die Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit und ihre Grenzen. Um ein Beispiel zu nennen: Frauen und Männer haben gleiche Rechte.

Das gilt für Arbeitgeber, die Frauen für die gleiche Arbeit immer noch schlechter bezahlen als Männer, genauso wie für Menschen, die aus patriarchalisch geprägten Gesellschaften zu uns kommen. Wenn konservative Muslime oder Juden Frauen mit religiöser Begründung den Handschlag verweigern, dann kann man zu Recht darüber staunen und es kritisieren, aber man wird niemanden zu einem Handschlag verpflichten können – durch keine Hausordnung und durch kein Gesetz. Das Grundgesetz gilt aber in allen Teilen: Wer den Nachzug von Familienmitgliedern verhindern will, der stellt sich gegen den besonderen Schutz von Ehe und Familie in Artikel 6, Absatz 1.

Wir brauchen in der gesellschaftspolitischen Debatte über die Bekämpfung von Fluchtursachen, über Aufnahme und Integration von Flüchtlingen mehr Sensibilität, auch was die Sprache angeht. Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten, Meinungsmacherinnen und Meinungsmacher tragen dafür eine besondere Verantwortung Wir dürfen durch Sprache nicht Vorurteile schüren. Wir müssen Ängste ernst nehmen, dürfen sie aber nicht verstärken.


[«*] Klaus Peter Lohest ist Abteilungsleiter Familie im rheinland-pfälzischen Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen

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