Personenbeförderung: Wie ein Gesetz zu Lohndumping und Privatisierung zwingt

Patrick Schreiner
Ein Artikel von Patrick Schreiner

Manchmal sind es kleine, scheinbar nebensächliche Regelungen in Gesetzen, die große negative Auswirkungen haben. Und nicht selten sind es offenbar neoliberale, marktextremistische Geister, die sich auf die Verankerung solcher Regelungen besonders gut zu verstehen scheinen. Derzeit kommt ein perfider Paragraph im Personenbeförderungsgesetz zum Tragen, der es Unternehmen ermöglicht, im Öffentlichen Personennahverkehr systematisch tarifliche Mindeststandards zu unterlaufen und Lohndumping zu betreiben. Von Patrick Schreiner[*].

Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) kann in der Regel nicht kostendeckend betrieben werden – wie auch viele andere Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge. Nur in den seltensten Fällen kann er die Kosten für Fahrzeuge, Infrastruktur und Personal durch Ticketverkauf und Ausgleichszahlungen (etwa zur Schülerbeförderung) erwirtschaften. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Sicherstellung eines funktionierenden ÖPNV als staatliche oder kommunale Aufgabe gilt.

Dies schließt allerdings nicht aus, dass auch private Unternehmen ÖPNV-Leistungen erbringen – seien es Unternehmen mit privaten Eigentümern oder seien es Unternehmen in privater Rechtsform mit öffentlichen Eigentümern. So ist es im Schienen-Personennahverkehr mittlerweile üblich, dass die Erbringung von Beförderungsleistungen öffentlich ausgeschrieben wird. Private und öffentliche Bahnunternehmen bewerben sich dann darum, gegen entsprechende Zuschüsse ein vorab definiertes Angebot zu erbringen. Merkmale wie die zu befahrende Strecke, die tägliche Anzahl der Züge oder deren Ausstattung werden in den Ausschreibungsunterlagen festgelegt. Das Unternehmen, das diese Leistungen am kostengünstigsten zu erbringen vermag, erhält für eine gleichfalls vorab fixierte Dauer (beispielsweise zehn Jahre) den Zuschlag. Während im Regionalverkehr mittlerweile zahlreiche Privatbahnen (oft allerdings mit öffentlichen Kapitaleignern) unterwegs sind, haben im Bereich der städtischen S-Bahnen die Tochterunternehmen der Deutschen Bahn AG noch die Nase vorn. Bei ihnen liegt das Lohnniveau im Schienenverkehr in vielen Fällen über dem der Privatbahnen.

Im Bereich des Bus- und Tram-Verkehrs in Städten oder auch in ländlichen Räumen gibt es zwar gleichfalls Ausschreibungen, sie sind aber weit weniger verbreitet. Gerade in Städten ist es nicht unüblich, dass die Kommunen eigene kommunale Unternehmen mit der Erbringung der Beförderungsleistungen beauftragen (“Direktvergabe”). Selbst das Europarecht, das recht neoliberal geprägt ist und daher eigentlich eher wettbewerbliche Ausschreibungen befördert, lässt dies zu: Die Erbringung einer Beförderungsleistung kann ausgeschrieben werden, sie muss es aber nicht, wenn ein eigenes kommunales Unternehmen tätig wird. In jedem Fall können dem beauftragten Unternehmen Vorschriften hinsichtlich der Arbeitsbedingungen seiner Beschäftigten gemacht werden.

Soweit das Europarecht. Das Bundesrecht, genauer das Personenbeförderungsgesetz (PBefG), spricht allerdings in einem entscheidenden Punkt eine andere Sprache. Wesentliche Vorgaben zum ÖPNV im Allgemeinen und zu ÖPNV-Ausschreibungen im Speziellen enthalten die dortigen Paragraphen 8 und 8a. Sie sehen einen Vorrang für so genannten “eigenwirtschaftlichen” Verkehr vor – ein typisch marktextremistischer Hebel zur Liberalisierung von Verkehrsmärkten. Als “eigenwirtschaftlich” wird ein Verkehr verstanden, der sich etwa aus Ticketverkauf und Ausgleichszahlungen (zum Beispiel für SchülerInnen und Schwerbehinderte) selbst finanziert, ohne kommunale Zuschüsse – ein Verkehr also, den es nicht gibt. Besser gesagt: Fast nicht. Denn zwar können Bus und Bahn ihre Kosten nur in den seltensten Fällen selbst erwirtschaften. In bestimmten Großstädten ist dies bei entsprechend niedrigen Löhnen allerdings durchaus möglich. So liegt der Kostendeckungsgrad mancherorts – unter der Annahme guter tariflicher Bezahlung – bei 85 bis 90 Prozent. Zugleich machen die Personalkosten gerade im Busverkehr recht hohe 50 bis 60 Prozent der Gesamtkosten aus. Gelingt es einem Unternehmen bei einer solchen Konstellation, die Löhne entsprechend zu drücken, so kann es seine Beförderungsleistungen eigenwirtschaftlich erbringen.

Und genau in diesen Fällen kommt der Vorrang des eigenwirtschaftlichen Verkehrs zum Tragen, wie ihn das PBefG festschreibt – mit gravierend negativen Folgen. Will nämlich eine Kommune das eigene Verkehrsunternehmen beauftragen und sollen die Verkehrsleistungen nicht eigenwirtschaftlich erbracht werden, so ist dies öffentlich bekanntzugeben. Andere Verkehrsunternehmen (mit billigeren Löhnen) haben dann die Chance, eigenwirtschaftliche Beförderungsleistungen anzubieten. Sie genießen Vorrang.

Hierdurch wird unmittelbar Lohndumping gefördert: Kommunale Verkehrsunternehmen zahlen in der Regel höhere Löhne und haben bessere Arbeitsbedingungen. Hinzu kommt, dass es in vielen Bundesländern Vergabegesetze gibt, die zur Anwendung von repräsentativen Tarifverträgen im ÖPNV zwingen. Dies dürfen Vergabegesetze allerdings fatalerweise nur, soweit es sich nicht um eigenwirtschaftliche Verkehre handelt. Verkehrsunternehmen, die eigenwirtschaftlich tätig werden, dürfen damit das Tarifniveau fast nach Belieben unterlaufen. Und wie oben beschrieben, können sie zugleich nur deshalb eigenwirtschaftlich tätig werden, weil sie Tarifniveau unterlaufen. Kommunale Verkehrsunternehmen ziehen mit ihren höheren Löhnen automatisch den Kürzeren. Gut bezahlte Arbeitsplätze gehen verloren.

Wenig überraschend stößt dies bei der zuständigen Gewerkschaft verdi auf Unverständnis: „Damit schränkt der Gesetzgeber die Entscheidungsfreiheit der Kommunen ein und macht es Unternehmen, die tarifgebunden sind und gute Arbeitsbedingungen haben, von denen auch die Kunden profitieren, unmöglich, am Markt zu bestehen”, so deren Bundesvorstandsmitglied Christine Behle. Wenn kommunale Unternehmen auf diese Weise aus dem Markt gedrängt werden, kann dies mittelbar zu Privatisierungen führen. Schließlich wird es für die betroffenen Kommunen dann weniger attraktiv, eigene Verkehrsunternehmen zu unterhalten. Dies gilt völlig unabhängig davon, ob die eigenwirtschaftlich tätige Konkurrenz öffentliche oder private Kapitaleigner hat: Das kommunale Verkehrsunternehmen rechnet sich nur noch, wenn es seine Kosten – und damit vor allem die Löhne – drastisch reduziert und selbst eigenwirtschaftlich tätig wird. Der marktextremistische Hebel zur Liberalisierung von Verkehrsdienstleistungen wirkt.

Aktuell gibt es zwei Fälle, in denen der beschriebene Fall einzutreten droht bzw. schon eingetreten ist: das baden-württembergische Pforzheim und das niedersächsische Hildesheim. Pikanterweise sind in beiden Fällen die eigenwirtschaftlichen Bieter Tochterunternehmen der Deutschen Bahn AG, also einem Unternehmen im Bundesbesitz und in privater Rechtsform. In Pforzheim hat die Bahntochter Regionalbusverkehr Südwest den Zuschlag erhalten, in Hildesheim prüft das Kommunale Verkehrsunternehmen Stadtverkehr Hildesheim noch die Möglichkeit eines eigenwirtschaftlichen Gegenantrags – mit entsprechenden Folgen für die Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. “Dass sich nun auch noch ein Staatskonzern daran beteiligt, kommunale Verkehrsunternehmen zu vernichten, ist ein Skandal”, ärgert sich Behle.

Große Teile der Verkehrsleistungen möchte die Bahn nach verdi-Angaben durch Subunternehmer erbringen lassen. Dies bedeutet einmal mehr untertarifliche Bezahlung. Schon heute spielen Subunternehmen im ÖPNV – auch bei kommunalen Anbietern – eine Rolle. Durch Vergabegesetze auf Landesebene konnte dieser Missstand zumindest in den meisten Bundesländern zurückgedrängt werden. Im Bereich der eigenwirtschaftlichen Verkehre kehrt er nun offenbar zurück.


[«1] Patrick Schreiner lebt und arbeitet als hauptamtlicher Gewerkschafter in Hannover. Er schreibt regelmäßig für die NachDenkSeiten zu wirtschafts-, sozial- und verteilungspolitischen Themen.

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