„Das ist der Nährboden, in dem sich soziale Spannungen breitmachen“

„Das ist der Nährboden, in dem sich soziale Spannungen breitmachen“

„Das ist der Nährboden, in dem sich soziale Spannungen breitmachen“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Der ‚freie Markt‘ wird niemals breite Teile der Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum versorgen.“ Das sagt Karin Zauner-Lohmeyer im Interview mit den NachDenkSeiten. Deshalb fordert sie als Sprecherin der europäischen Initiative Housing for All die EU auf, bessere Rahmenbedingungen für Menschen in ganz Europa zu schaffen, die Zugang zu bezahlbarem Wohnraum benötigen. Zauner-Lohmeyer, die in Wien im öffentlichen Wohnungsbau arbeitet, sagt, Ziel der Initiative sei es, bis März 2020 eine Million Unterschriften zusammen zu haben – dann müsse sich die EU-Kommission mit dem Anliegen auseinandersetzen. Ein Interview über eine Politik, die dazu geführt hat, dass mittlerweile selbst Angehörige der Mittelschicht Probleme haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden. „Wohnen“, sagt die Österreicherin, „ist keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern zunehmend ein Problem. Dann kommen Verarmung, Elend, Obdachlosigkeit“. Von Marcus Klöckner.

Frau Zauner, in Teilen Deutschlands sieht es mit bezahlbarem Wohnraum sehr schlecht aus. Wie ist das in anderen Ländern Europas?

Die Wohnsituation ist in den allermeisten EU-Mitgliedsstaaten dramatisch. Wohnen ist in vielen Metropolen mittlerweile fast unerschwinglich. Es wird viel zu wenig in den kommunalen und gemeinwohlorientierten Wohnbau investiert und die Spekulation mit Wohnraum lässt die Boden- und Immobilienpreise explodieren. Die Wohnkosten steigen wesentlich rascher als die Gehälter und das seit Jahren. Immer mehr Menschen müssen die Städte verlassen, weil sie sich das Wohnen nicht mehr leisten können. Ich rede hier nicht nur von den einkommensschwächeren Gruppen, sondern von jenen Arbeitnehmern, die wir als „Mitte der Gesellschaft“ bezeichnen, wie Polizeibeamte, Feuerwehrleute, Lehrer, Krankenpfleger.

Welche Fehler haben die politisch Verantwortlichen in der Vergangenheit in Sachen bezahlbarem Wohnraum gemacht?

Die Wurzel allen Übels liegt in der vorherrschenden neoliberalen Überzeugung, dass der ungezügelte Markt alles zum Guten wendet. So wurden in Deutschland beispielsweise seit 1997 mehr als 700.000 kommunale Wohnungen privatisiert – günstiger Wohnraum, der den Städten immer spürbarer fehlt. Diese neoliberale Markt-Gläubigkeit führt die Europäische Union zunehmend in eine sozialpolitische Sackgasse mit erschütternden Folgen.

Auch die Mittelschicht ist betroffen.

Ist sie. Auch die Besserverdienenden bekommen die Entwicklung zu spüren. Wohnen ist keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern zunehmend ein Problem. Dann kommen Verarmung, Elend, Obdachlosigkeit. Das ist der Nährboden, in dem sich soziale Spannungen breitmachen.

Ganz zu schweigen von rechtsextremen Entwicklungen.

Rechtsextreme Gruppierungen entwickeln sich fast explosionsartig, weil sie vermeintliche Sündenböcke für die schlechter werdenden Lebensbedingungen suchen und finden. Dass der uneingeschränkte Wettbewerb und die maximale Gier unsere Wirtschaftsräume und Gesellschaften zerstören, hätten die politischen Entscheidungsträger spätestens bei dem großen Banken-Crash 2008/2009 erkennen müssen. Genauso wenig wie ein Löwe ein Veganer wird, wird sich der „freie Markt“ nicht um das Gemeinwohl kümmern. Der „freie Markt“ wird niemals breite Teile der Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum versorgen. Das hat es noch nicht gegeben und das wird es nicht geben. Ganz im Gegenteil: Die Spekulation mit Wohnraum treibt Boden- und Immobilienpreise unablässig in die Höhe. In Zeiten von extrem niedrigen Zinsen fließt das Geld noch viel stärker in die Immobilien, weil dort hohe Renditen zu holen sind, selbst für kleinere Vermögen. Globale Immobilienkonzerne, Hedgefonds, Pensionsfonds kaufen derzeit ganze Stadtteile auf, erhöhen die Mieten und die Menschen müssen zahlen oder gehen. Es geht nicht ums Wohnen, sondern nur ums Geldverdienen. Die Mieter sind dabei einfach nur „lästig“, quasi ein Störfaktor. Steigen die Preise, dann wird die Immobilie wieder verkauft, wie eine Aktie. Auf der Strecke bleiben die Städte, die Menschen, also wir alle.

Was hat das alles mit der EU zu tun?

Das EU-Wirtschaftsregime ist stark neoliberal geprägt: „Mehr privat, weniger Staat!“ Wohnraumversorgung gehört zwar zu den Kompetenzen der Mitgliedsstaaten, doch die EU-Gesetzgebung beeinflusst über die finanziellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen das nationale Geschehen entscheidend. Sie beschränkt die Länder, Städte und Gemeinden, wenn diese in bezahlbares Wohnen investieren wollen. Beispielsweise durch die Maastricht-Kriterien oder das EU-Beihilfenrecht. Die Länder, Städte und Gemeinden können unter den aktuellen europäischen Rahmenbedingungen ihre Aufgabe, Wohnraum für alle zu schaffen, einfach nicht ausreichend erfüllen. Und da setzt unsere Europäische Bürgerinitiative „Housing for All“ an. Wir sind der Meinung, dass der Staat die Aufgabe hat, die Wohnversorgung aller Menschen sicherzustellen und die EU die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen muss.

Was wollen Sie mit „Housing for All“ erreichen?

Wir haben durch „Housing for All“ begonnen, dieses Missverhältnis zwischen Staat und Großkonzernen, zwischen Menschenrecht auf Wohnen und Profitgier zu thematisieren. Konkret fordern wir eine bessere EU-Gesetzgebung für bezahlbares, kommunales und gemeinwohlorientiertes Wohnen in Europa. Wir sehen akuten Handlungsbedarf bei der EU-Kommission. Es geht darum, dass es auch möglich wird, dass die so genannte „öffentliche Hand“ Wohnraum fördert. Solche Zuschüsse dürfen nicht unter die Maastricht-Regeln fallen, weil sie eine Investition in die Zukunft sind.

Genauer: Wer ist „Housing for All“?

Die Europäische Initiative „Housing for All“ (Wohnen für alle) wird getragen von einem breiten, internationalen Netzwerk aus engagierten Bürgerinnen und Bürgern, Gewerkschaften, Mieterverbänden, sozialen Vereinen, Menschenrechtsorganisationen, Interessenvertretungen von Studierenden, Jugendlichen, Rentner/innen, von Städtenetzwerken und anderen Zusammenschlüssen. Es ist die Auseinandersetzung zwischen einer global agierenden, profitgierigen Immobilienbranche und Ländern, Städten und Gemeinden; letztlich uns allen. Unser Ziel ist es, das Thema in die politische Agenda zu heben und in der öffentlichen Debatte das Bewusstsein zu schärfen. Außerdem wollen wir bis zum 18.3.2020 mehr als eine Million Unterstützer gewinnen. Wenn wir so viele Unterschriften erhalten, ist die EU-Kommission verpflichtet, sich mit dem Thema zu beschäftigen und die Organisatoren haben ein Recht, das Thema im EU-Parlament vorzutragen.

Was sind die konkreten Forderungen?

Wir wollen zunächst eine Erleichterung des Zugangs für alle zu bezahlbarem und gefördertem Wohnbau. Wir fordern die EU-Kommission auf, im EU-Beihilfenrecht die Definition der Zielgruppe für den geförderten Wohnbau („sozialer Wohnbau nur für die Ärmsten der Armen“) zu streichen. Denn dieses Gesetz beschränkt die Wohnraumversorgung für alle. Die Staaten, Städte und Gemeinden sollen sich nicht um die Versorgung der Ärmsten kümmern, sondern um die ganze Bevölkerung. Sie müssen selber entscheiden, welche Bevölkerungsgruppen (mit welchen Einkommen etc.) in den Genuss einer staatlich geförderten Wohnung kommen sollen. Es ist nicht einzusehen, dass die EU hier mitredet! Sie tut dies derzeit, auch wenn das auf den ersten Blick gar nicht so aussieht.

Warum soll die EU da nicht mitreden?

Wohnungspolitik ist Sache des Mitgliedsstaates und das ist sehr gut so. Die Bürgermeister in Europa wissen am besten über den Wohnbedarf ihrer Bürger Bescheid. Warum soll das Brüssel regeln? Das macht keinen Sinn.

Sie sehen auch ein Problem mit den Maastricht-Kriterien, wonach die Mitgliedstaaten „Haushaltsdisziplin“ üben müssen, das heißt, dass das öffentliche Defizit maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen darf.

Genauso ist es. Das Maastricht-Finanz-Korsett nimmt den Städten die Luft zum atmen, führt zu einem massiven Personalabbau im öffentlichen Dienst (vor allem auch in den Bauabteilungen) und öffnet der Privatisierung der Daseinsvorsorge und dem Verkauf von öffentlichen Grundstücken Tür und Tor. Unsere weitere Forderung schlägt in dieselbe Kerbe. Wir wollen besseren Zugang zu EU-Finanzmitteln für gemeinnützige und kommunale Wohnbauträger, die wieder in ihren Wohnungsbestand re-investieren. Städte brauchen die Möglichkeit, rasch an Geld zu kommen, damit der Bedarf an bezahlbaren Wohnraum gedeckt werden kann.

Die EU kann viele Statistiken vorweisen. Was das Wohnen angeht, scheint es Nachholbedarf zu geben.

Das stimmt. Derzeit werden die Wohnsituation, die Wohnkosten, der Wohnbedarf etc. nur auf der Ebene der Mitgliedsstaaten repräsentativ über die EUROSTAT erhoben. Das bedeutet, ich kann Ihnen die Durchschnittsmiete in Frankreich oder Spanien sagen und Länder miteinander vergleichen. Das sind aber keine Zahlen, mit denen Entscheidungsträger etwas anfangen können, denn die Wohnungspreise werden in Paris anders aussehen als in strukturschwachen, ländlichen Gegenden. Wir brauchen eine viel kleinräumigere Erfassung der Wohnsituation, zum Beispiel auf der Ebene der Städte, damit Fehlentwicklungen sichtbar gemacht werden können. Die Statistik muss Daten über die kleinräumige Situation liefern, und das in jedem Mitgliedsstaat. Erst dann hat man einen detaillierten Überblick darüber, wo es in der Wohnpolitik „Hot-Spots“ gibt.

Wie sind Sie zu der Initiative gekommen? Was sind Ihre persönlichen Motive, sich für bezahlbaren Wohnraum einzusetzen?

Ich arbeite im öffentlichen Wohnbau in Wien und leite dort die Abteilung Soziales Management, die sich mit Wohnungssicherung und Forschung befasst. In den vergangenen Jahren hat es auf Konferenzen in ganz Europa einen roten Faden gegeben: Die neoliberale, europäische Wirtschaftspolitik zerstört die soziale Infrastruktur in den Städten und die Wohnungsmärkte. So kann es nicht weitergehen! Daher habe ich als Privatperson beschlossen, dagegen etwas zu unternehmen.

Titelbild: bogdanhoda / Shutterstock