Venezuela – Die boykottierte Parlamentswahl, der angekündigte wirtschaftliche Wiederaufbau und das Ende der Juan-Guaidó-Fiktion

Venezuela – Die boykottierte Parlamentswahl, der angekündigte wirtschaftliche Wiederaufbau und das Ende der Juan-Guaidó-Fiktion

Venezuela – Die boykottierte Parlamentswahl, der angekündigte wirtschaftliche Wiederaufbau und das Ende der Juan-Guaidó-Fiktion

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Am vergangenen 7. Dezember fand in Venezuela eine politisch bedeutsame Wahl zur Erneuerung der Nationalversammlung (Bundesparlament) statt. Die Regierung Nicolás Maduro hatte Monate zuvor einen Aufruf zur Entsendung internationaler Wahlbeobachter veröffentlicht, dem nach Regierungsangaben 300 Vertreter aus 34 Ländern folgten. Die Europäische Union (EU) weigerte sich dennoch. EU-Außenminister Josep Borrell behauptete, der Wahlvorgang im Land verspreche keine Transparenz. Somit vollzog die EU einen Schulterschluss mit dem umstrittenen und diskreditierten Oppositionsführer Juan Guaidó, der längst vor der Wahl der Regierung Maduro einen programmierten „Betrug“ unterstellte und zum Abstimmungsboykott aufrief. Von Frederico Füllgraf.

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Die Wahl sorgte auch im Lager der Regierungspartei Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PDSUV) für Ernüchterung. Von 20,7 Millionen Wahlberechtigten beteiligten sich lediglich 30,5 Prozent an der Abstimmung über die Neubesetzung des Parlaments. Im rückblickenden Vergleich mit dem Jahr 2005, als sich maximal 25 Prozent der Wähler an den damaligen Parlamentswahlen beteiligten, ist die Wahlbeteiligung von 2020 die zweitniedrigste in der über zwanzigjährigen Amtszeit des regierenden Chavismo. Indes, nach der dramatischen Wahlniederlage von 2015, als mit ansehnlich hoher Wahlbeteiligung von 73 Prozent der Chavismo die Mehrheit in der Nationalversammlung an die Opposition verlor, eroberte nun Nicolás Maduros PDSUV mit 67 Prozent der abgegebenen Stimmen die Parlamentsmehrheit zurück und entreißt dessen Kontrolle Juan Guaidó, der ab 5. Januar 2021 seinen Posten als Präsident der Nationalversammlung verliert.

Obwohl der 37-jährige Guaidó von rund 60 Regierungen – darunter den USA, Brasilien und Deutschland – als „legitimes venezolanisches Staatsoberhaupt“ anerkannt, mit milliardenschweren Beträgen von der US-Regierung Donald Trumps finanziert und auf der internationalen politischen Bühne herumgereicht wurde, gelang es ihm nie, sich in seinem eigenen Land durchzusetzen. Geschweige denn den gegenüber der Trump-Administration geleisteten „Schwur“ einzuhalten, den Sturz Nicolás Maduros herbeizuführen. „Trumps Politik in Venezuela ist gescheitert. Sie können ja sehen, wo Trump ist, wo ich bin und wo Guaidó geblieben ist“, witzelte Nicolás Maduro vor internationalen Medien nach der Doppelniederlage, also der Wahlniederlage Trumps und der venezolanischen Opposition, und setzte einen Kraftausdruck obendrauf: „Wir hätten uns mit Trump verstanden, er hat es aber vorgezogen, auf einen Idioten zu wetten, der ihn letztendlich verraten hat“.

Amts- und Szenenwechsel: Joe Biden und Enrique Capriles

Nicolás Maduros Humor scheint begründet. Der gewählte US-Präsident Joe Biden plane Verhandlungen mit dem venezolanischen Präsidenten und ignoriere gleichzeitig die Kontaktaufnahme-Versuche Juan Guaidós, berichtete die US-Agentur Bloomberg am vergangenen 18. Dezember. Während die Trump-Administration Maduros Rücktritt als Voraussetzung für Verhandlungen ansah, verlange Bidens Team dies nicht, will Bloomberg erfahren haben.

Demnach plane Joe Biden, im Austausch für die Zusicherung „freier und fairer Wahlen“ Teile der mehr als 300 gegen Venezuela und einige seiner Regierungsfunktionäre in den vergangenen Jahren erlassenen Sanktionen abzuschwächen beziehungsweise zurückzunehmen; allerdings mit der Einschränkung, bestimmte, nicht näher erläuterte Sanktionen könnten gar erweitert werden. Bidens außenpolitisches Berater-Team werde die bestehenden Sanktionen überprüfen, um festzustellen, wo die Beschränkungen mit Hilfe internationaler Verbündeter erweitert und welche Maßnahmen aufgehoben werden könnten, wenn Maduro sich dem demokratischen Ziel „nähert”, heißt es einem von Bloomberg zitierten Positionspapier. Für die beabsichtigten Verhandlungen erwarte die zukünftige Biden-Regierung allerdings die Zustimmung ausländischer Regierungen, die Nicolás Maduro unterstützen, darunter Russlands, Chinas und des Iran.

Doch der angekündigten internationalen Wende ging eine innenpolitische Veränderung in Venezuela voraus. Drei Monate vor der Parlamentswahl kehrte der ehemalige Oppositionsführer und Landesgouverneur Enrique Capriles Radonski an die vorderste Front der Opposition gegen Maduro zurück. „Die Landkarte der Opposition ändert sich, die in mehrfacher Hinsicht von entscheidender Bedeutung sein wird. Maduros Begnadigungen haben Washingtons Position nicht verändert“, doch „nicht einmal US-Außenminister Mike Pompeo scheint in der Lage zu sein, Juan Guaidó zu retten“, kommentierte Marco Teruggio in der argentinischen Tageszeitung Pagina12.

Mit Capriles wird seit vergangenem September Juan Guaidós Führungsanspruch des Oppositionsführers infrage gestellt, der immerhin als herausfordernder Präsidentschaftskandidat gegen Hugo Chávez und Nicolás Maduro antrat und ernstgenommen wurde. Der Jurist aus dem Bundesstaat Miranda beteiligte sich sehr wohl an verschiedenen Protestakten gegen den Chavismo, gilt jedoch als eher gemäßigter, vor allem als dialogbereiter Konservativer, der einst mit Guaidó in einer Reihe stand, ihm jedoch das Ende seiner „Seifenoper“ und der politischen Fiktion bescheinigte.

Seine Rückkehr ins Zentrum der Opposition erklärt sich mit vier Schritten. Erstens mit seiner öffentlichen Ablehnung der von Guaidó vorgeschlagenen „Einheit der Opposition“, zweitens mit der Anerkennung der von der Regierung Maduro gewährten Begnadigung von 110 venezolanischen Oppositionellen, drittens mit der Einschaltung des türkischen Außenministers Mevlut Cavusoglu als Mittler der innervenezolanischen Dialogbemühungen und viertens mit seiner Ablehnung des Guaidó-Aufrufs zum Wahlboykott. Es bestehen keine Zweifel an Capriles‘ unerschütterbarer Ablehnung des Chavismo und der Regierung Nicolás Maduro, doch ebenso wenig zweifelt Letztere an der Voraussehbarkeit und Zuverlässigkeit von Capriles‘ Handlungen im Vergleich mit dem eitlen und gescheiterten Putschisten Juan Guaidó.

Wahlenthaltung: kein exklusives venezolanisches Phänomen

Verschiedene europäische Medien – darunter die Deutsche Welle, die britische BBC und die französische France24 – hinterfragten das Ergebnis der jüngsten Parlamentswahl. „Die niedrige Wahlbeteiligung von 31 Prozent, 40 Punkte weniger als bei den Parlamentswahlen von 2015, überzieht den erwarteten Sieg mit einem Schatten und wird von der Opposition als ihr Argument verwendet”, kommentierte France24. Dass die nahezu 70-prozentige Stimmenthaltung wahrhaftig keinen Grund zum Feiern bietet, sollte eindeutig festgehalten werden. Doch ist sie ein ausschließlich venezolanisches Symptom?

Für den Aktivisten der venezolanischen Pobladores-Bewegung und Vertreter von Alba Movimentos, Hernán Vargas, stellt die von den USA und der EU verhängte Wirtschaftsblockade den Hauptgrund für das schlechte Wahlergebnis dar. „Stimmenthaltung ist eine Auswirkung der Blockade, da sie zweifellos zu materiellen Abnutzungserscheinungen im Land geführt hat. Die Politik der Blockade sollte einen Aufruhr, das heißt einen Umbruch und einen Verstoß gegen die Ordnung des Landes hervorrufen, der zu einem Aufruhr führt. In der Praxis ist dies aber nicht der Fall, im Gegenteil“, erklärte Vargas in einem Gespräch mit Brasil de Fato, der Wochenzeitung der brasilianischen Bewegung der Landlosen/MST.

Die Erklärung greift einen entscheidenden Aspekt auf, macht es sich aber zu einfach. Mitentscheidende Gründe für die von Vargas erwähnten Abnutzungserscheinungen ist die erratische Wirtschaftspolitik Nicolás Maduros seit 2013, insbesondere die zögernde Initiative, sich vom Erdöl als einziger Einnahmequelle zu befreien und vor allem eine nationale Nahrungsmittelindustrie mit produktiver und nachhaltiger Landwirtschaft als Lieferanten aufzubauen, die die Versorgung gesichert, die schwindelerregende Auslandsverschuldung von 136 Milliarden US-Dollar und die öffentliche Verschuldung mit 289 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) verhindert hätten. Doch ebenso wenig bestehen Zweifel daran, dass die politischen Sanktionen dramatische ökonomische und soziale Schäden verursacht haben, bei denen das Volk der Hauptleidtragende ist und die sich nach Regierungsangaben auf mindestens 116 Milliarden US-Dollar summieren.

Die extrem hohe Stimmenthaltung ist also auch Ausdruck politischer Enttäuschungen über nicht eingehaltene Versprechungen des demokratischen Vertretungssystems. Und damit steht Venezuela nicht allein da, wie der Fall Chile mit seiner ultraliberalen Regierung Sebastián Piñera deutlich macht. Am vergangenen 7. Dezember präsentierte zum Beispiel das Zentrum für Querschnittsuntersuchungen der Katholischen Universität (PUC Chile) unter Verwendung der von der Wahlbehörde (Servel) zur Verfügung gestellten Statistik eine Analyse individueller Wählerdaten, die an den zwischen 2012 und 2017 durchgeführten Wahlen teilgenommen hatten. Obwohl sich die Untersuchung auf diesen Zeitraum konzentrierte, umfasste sie auch frühere Daten, die allesamt einen klaren Trend zum Rückgang der Wahlbeteiligung attestieren, deren niedrigsten Indikatoren bei den Kommunalwahlen von 2012 mit 43,2 Prozent und 2016 mit 34,9 Prozent registriert wurden. Piñera wurde 2018 mit gerade einmal 3,8 Millionen Stimmen von insgesamt 14.796.244 Stimmberechtigten gewählt und hält sich Ende 2020 mit lächerlichen 7 Prozent Wählerzustimmung an der Macht. „Chile ist als eines der Länder mit der niedrigsten Wahlbeteiligung der Welt bekannt … Diese Statistiken sind für eine Demokratie und in einem OECD-Land schockierend“, erklärte Simone Reperger, Vertreterin der SPD-eigenen Friedrich-Ebert-Stiftung in Chile, gegenüber der Deutschen Welle.

Die Parlamentswahl als letzter Hebel zum wirtschaftlichen Wiederaufbau

Der 6. Dezember war für Präsident Maduro und den Chavismo eine Win/Win-Wette, sie brauchten unbedingt die jüngste Parlamentswahl und -mehrheit. Diese Mehrheit soll neue Investitions-Gesetzesregelungen im Parlament verabschieden, die milliardenschwere Investitionen aus Russland, China, Iran und der Türkei beschleunigen und den wirtschaftlichen Wiederaufbau fördern können. Das Stichwort dazu heißt „Ley Antibloqueo/Antiblockade-Gesetz“ und wurde bereits im Oktober 2020 von der chavistisch dominierten Verfassungsgebenden Versammlung verabschiedet; ein Schritt, der offenbar den Schlüssel-Investoren als nicht ausreichend erschien und daher erweiterter Legitimation bedurfte.

Das Gesetz bietet der Regierung die Nutzung rechtlich institutioneller Mittel, vor allem die US-Sanktionen „durch einen flexiblen Schutz und, gesetzt der Fall, mit einem rigorosen Gegenangriff zu konfrontieren“, so der Wortlaut des Gesetzes. „Wir müssen Formeln finden, um frei und legal mit der Welt handeln zu können, ohne Angst vor Repressalien aus den USA. Wir müssen das Landeseinkommen zurückgewinnen, indem wir uns auf unsere Stärken und Fähigkeiten verlassen, um unser Volk vor den schrecklichen Auswirkungen der Blockade schützen zu können“, begründete Nicolás Maduro die Initiative. Gemäß Artikel 19 des Anti-Blockade-Gesetzes wird die Regierung „in bestimmten Fällen Normen von rechtlichem oder sublegalem Rang zurücknehmen, deren Anwendung unmöglich oder kontraproduktiv ist“. Darüber hinaus wird der Exekutive erlaubt, Änderungen in der Eigentumsstruktur bestimmter Unternehmen, sowohl des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA wie auch privater Unternehmen, vorzunehmen.

Schlüsselfunktion im Gesetz haben Artikel 6 und 9, die zum einen das Vorrecht des staatlichen Besitzes am PDVSA-Konzern und zum anderen den Schutz ausländischer Investitionen sichern. „Die Befugnis zur Ausübung von Geschäften und damit verbundenen Lizenzen beschränkt sich darauf, niemals zu Lasten von Artikel 303 der venezolanischen Verfassung zu handeln, der den Staat dazu auffordert, alle Anteile der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA zu behalten“, und „das Gesetz sieht ´Investitionsgarantien´ vor, mit denen die Regierung versucht, ausländisches Kapital anzuziehen. Dies tut sie mit der Versicherung, Klauseln zum Schutz der Investitionen anzubieten, um Vertrauen und Stabilität zu schaffen. Die Exekutive darf ebenso ´jeden Finanzmechanismus´ nutzen, um den Zweck dieser Gesetzgebung zu erfüllen“, heißt es im Wortlaut des Gesetzes.

Hatte die von der Opposition kontrollierte Nationalversammlung im Oktober 2020 noch die Verabschiedung des Antiblockade-Gesetzes als für null und nichtig erklärt, so ist damit zu rechnen, dass die seit dem 6. Dezember mit Regierungsmehrheit dominierte Nationalversammlung das Gesetz mit großer Mehrheit durchpeitscht. Doch wird auch dieser neue Umstand jene Länder, wie die USA und den EU-Block, überzeugen, die die Chavismo-Behörden nicht für legitim halten und seinen Zugang zu den internationalen Finanzierungs- und Ölhandelsmärkten blockieren?

Titelbild: Humberto Matheus / shutterstock.com