Perspektivwechsel als Voraussetzung für Friedensfähigkeit – Das Verhältnis des Westens zu Russland

Perspektivwechsel als Voraussetzung für Friedensfähigkeit – Das Verhältnis des Westens zu Russland

Perspektivwechsel als Voraussetzung für Friedensfähigkeit – Das Verhältnis des Westens zu Russland

Ein Artikel von Axel Schmidt-Gödelitz

In der letzten Woche wies NachDenkSeiten-Herausgeber Albrecht Müller darauf hin, wie weitverbreitet und dabei falsch die Erzählung ist, Russland und die USA seien in gleichem Maße für die Spannungen im Ost-West-Verhältnis verantwortlich. Wer diese Erzählung verbreitet, vergisst dabei nicht nur, wie vor allem USA und NATO ihre Versprechen gegenüber Russland gebrochen haben, sondern hat auch Lehren aus der erfolgreichen Ostpolitik der Bundesregierung unter Willy Brandt nicht verstanden. Der Gründer des ost-west-forums, Axel Schmidt-Gödelitz, zeichnet für die NachDenkSeiten in einem lesenswerten Essay die geschichtliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte nach und widerlegt dabei die falschen Erzählungen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Entspannungspolitik nach der Kuba-Krise

Nach der Kuba-Krise, die die beiden Weltmächte USA und Sowjetunion an den Rand eines neuerlichen Weltkrieges brachten, trat kurzfristig Vernunft ein: Beide Seiten erkannten, dass die Rüstungsanstrengungen zu einem „Gleichgewicht des Schreckens“ geführt hatten. Eine Phase der Entspannungspolitik trat ein, ein rotes Telefon zwischen den Präsidenten beider Weltmächte wurde installiert und zahlreiche Verträge sicherten diese Entspannungspolitik auf höchster Ebene ab.

In der Bundesrepublik Deutschland wurde mit der neuen Bundesregierung Brandt-Scheel ebenfalls eine neue Ostpolitik unter dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“ auf den Weg gebracht. Es war vor allem der außenpolitische Berater Brandts, Egon Bahr, der das entsprechende Strategiepapier erarbeitete und schließlich in monatelangen Verhandlungen mit Moskau, dann mit Polen und schließlich mit der DDR umsetzte. In seinem engeren Beraterkreis wiederholte er immer wieder seinen Leitgedanken: Verhandlungen zwischen Staaten basieren auf Vertrauen. Und das bedeutet: Die Interessen des jeweiligen Partners, dessen emotionale Lage – vor allem seine Ängste – und schließlich die Vorgeschichte des Landes in den Verhandlungen zu berücksichtigen. Nur auf dieser Basis ist ein tragfähiger Kompromiss möglich. Kurz und bündig: Wer dazu nicht fähig ist, ist nicht friedensfähig.

In seinen Verhandlungen mit Moskau – von Washington mitgetragen – hat Bahr diese Erkenntnis in die Praxis umgesetzt. Ihm war klar, dass der Kreis von sowjetisch besetzten Satelliten-Staaten nicht nur imperialer Machtpolitik entsprang, sondern auch mit den Einkreisungsängsten der Russen zu tun hat. Hitler und Napoleon sind tief im kollektiven Gedächtnis der Russen verankert. Dass die mit den USA verbündete und von ihr militärisch beschützte Bundesrepublik die bestehenden Grenzen Europas nunmehr erstmals anerkannte – mit dem Zusatz, dass eine Veränderung nur im beiderseitigen Einvernehmen möglich ist – war für die sowjetische Regierung ein wichtiger Durchbruch.

Die danach folgenden Verträge mit der Sowjetunion, mit Polen, der DDR und schließlich das Viermächteabkommen über Berlin – waren allesamt wichtige Marksteine auf dem Weg zu einem insgesamt regulierten und friedlichen Nebeneinander, was schließlich den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands ebnete.

Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums. Hoffnungen auf ein neues Kapitel in der Geschichte Europas

Gorbatschow, seit 1985 Staatspräsident der UdSSR und Generalsekretär der KPdSU, leitete ein neues Kapitel in den internationalen Beziehungen ein. In dieser Zeit erkannte die Sowjetunion, dass sie mit der Dynamik der marktradikal-kapitalistischen Staaten des Westens wirtschaftlich und damit auch rüstungspolitisch nicht mehr mithalten konnte. Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) sollten durch mehr Demokratie und einer begrenzten „marktwirtschaftlichen Umgestaltung“ einen lebensfähigen Sozialismus ermöglichen. Das alles sollte auch anderen osteuropäischen Ländern erlaubt sein.

Was die einen als Zusammenbruch empfanden, war für Gorbatschow und für weite Teile der Weltbevölkerung ein geschichtlicher Neuanfang. In der Charta von Paris, mit der die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa am 21. November 1990 endete, erklärten die Staats- und Sicherheitschefs der Sowjetunion, der USA, Kanada und 32 europäischer Staaten die Spaltung Europas für beendet, verpflichteten sich zur Demokratie als einzige legitime Regierungsform und sicherten ihren Völkern die Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu. Mehr noch: Ein neues europäisches Sicherheitssystem sollten die NATO und den Warschauer Pakt ersetzen. Gorbatschow sprach von einem gemeinsamen europäischen Haus, in dem auch die Sowjetunion Wohnrecht erhalten sollte.

Im Februar 1990 verhandelten der US-Außenminister James Baker, Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher in Moskau. Es ging um die Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung Deutschlands und um die Ausdehnung der NATO auf das Gebiet der ehemaligen DDR. Dabei sei der Verzicht auf jegliche weitere Ausdehnung der NATO nach Osten – allerdings nur mündlich – zugesagt worden. Da der Warschauer Pakt noch existierte und eine Atmosphäre des Vertrauens und des Neuanfangs zwischen Ost und West herrschte, ist das nachvollziehbar. Aber im Nachhinein erwies sich dies als schwerer Fehler.

Kaum eine andere Frage hat das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen in der Folge so belastet, wie die Osterweiterung der NATO.

Im Juli 1991 wurde der Warschauer Pakt, das Freundschafts- und Verteidigungsbündnis der Sowjetunion aufgelöst. Die Sowjetunion zog überall ihre Besatzungstruppen ab – auch aus Deutschland.

Von einer Auflösung der NATO und einem neuen, gemeinsamen europäischen Sicherheitssystem war nicht mehr die Rede.

Enttäuschungen und Demütigungen

Während der Westen triumphierte und sich die USA als einzig verbliebene Weltmacht sah, zerbrach die Sowjetunion. Am 25. Dezember 1991 kündigte Staatspräsident Gorbatschow in einer kurzen Fernsehansprache seinen Rücktritt an und damit das Ende der Sowjetunion. Die ehemaligen Mitgliedsstaaten traten reihenweise aus. Der neue Präsident Russlands, Jelzin, versuchte fünf Tage später mit der Gründung einer „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) zu retten, was noch zu retten war.

Aber das war nur der Anfang. Russland, wie auch ein Großteil seiner ehemaligen Partnerstaaten, stürzte in eine tiefe Wirtschaftskrise. Das gesamte System der sozialen Sicherung brach zusammen, einschließlich der Renten. Das Gesundheits- und Bildungssystem waren nur noch begrenzt funktionsfähig. Während die Armut rasant stieg – Ende der 90er Jahre lebten zwischen 30 und 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze – sank die durchschnittliche Lebenserwartung von 68 auf 65 Jahre. Neoliberale, auf Privatisierung und Liberalisierung der Märkte pochende US-Wirtschaftsberater, wie auch die Habgier weniger Oligarchen, die sich der reichen Bodenschätze und großer Industrien bemächtigten, verschlimmerten die Lage.

Das vor wenigen Jahren noch unbesiegbare sowjetische Weltreich war ein Trümmerhaufen geworden. Immer mehr Menschen sehnten sich nach den alten Zeiten zurück.

Die Erfolge des russischen Ultranationalisten Wladimir Schirinowski bei den folgenden Wahlen verstärkten in Polen und anderen osteuropäischen Staaten die Bedrohungsängste vor Russland. Sie drängten auf Aufnahme in die NATO. Die Regierung Clinton spürte den Druck – von ihren aus Osteuropa stammenden Wählern, aber auch von der US-amerikanischen Rüstungsindustrie, die auf milliardenschwere Geschäfte bei der Ausrüstung der Armeen künftiger Mitgliederstaaten hoffte.

Kurzum: 1996 gab Clinton Grünes Licht für die Osterweiterung der NATO. Im März 1999 wurden Polen, Tschechien und Ungarn aufgenommen.

Der neue Präsident Russlands, Wladimir Putin, versuchte mit einer Charmeoffensive gegenzuhalten. In seiner in deutscher Sprache gehaltenen Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001 betonte er die geschichtlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten beider Länder und verwies auf die vielen politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Zusammenarbeit – auch gemeinsam in Europa. Die Bundestagsabgeordneten belohnten Putin am Ende mit stehendem Beifall. Danach geschah – nichts.

Im Gegenteil: Im März 2004 wurden Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen Rumänien, die Slowakei und Slowenien in die NATO aufgenommen, eine weitere Demütigung durch den Westen, dessen Truppen nun bis unmittelbar an die russische Grenze im Baltikum vorrückten.

Auf der 43. Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007 hatte Putin genau das in einer scharf formulierten Rede angeprangert. Abermals verwies er auf das gebrochene Versprechen des Westens, auf eine Osterweiterung der NATO zu verzichten. Von den Vertretern des Westens war es geradezu fahrlässig, die Rede nicht ernst genommen zu haben.

Putins Gegenoffensive

Vor allem die USA und einige osteuropäische Staaten hatten bereits den nächsten Schritt im Auge: Die Aufnahme der Ukraine in die NATO. Das machte der scheidende Präsident der USA, George W. Bush klar, als er 2008 während der NATO-Konferenz in Bukarest offiziell verkündete: Es liegt im Interesse der USA, die Ukraine in die NATO aufzunehmen.

Während Polen und die drei baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland die USA unterstützten, lehnten die meisten westeuropäischen Länder den sofortigen Beitritt ab. Vor allem Deutschland mit Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier wiesen darauf hin, dass in Umfragen um die 70 Prozent der Ukrainer einen Beitritt ihres Landes in die NATO ablehnten. Man müsse auch auf die Einkreisungsängste der Russen Rücksicht nehmen.

Dennoch konnte sich der US-Präsident im Schlusskommuniqué gesichtswahrend durchsetzen: Der Beitritt zur NATO sei entschieden, es sei eine Frage der Zeit. Dem Westen hätte von diesem Augenblick klar sein müssen, dass damit gegenüber Russland eine rote Linie überschritten wurde.

Die Ukraine ist mit Russland politisch, wirtschaftlich und kulturell eng verbunden. Hinzu kommt eine große russischsprachige Minderheit. Seit der Unabhängigkeit sichern Pachtverträge der russischen Schwarzmeerflotte und ihrem Hauptstützpunkt Sewastopol ein Existenzrecht auf fremdem Boden. Auch die Nutzung des Asowschen Meeres und das Durchfahrtsrecht auf der Straße von Kertsch ist in einem Kooperationsvertrag zwischen beiden Ländern geregelt. Was wird sich ändern, sollte die Ukraine Mitglied der NATO werden?

Russland wollte nicht warten, das herauszufinden, sondern schaffte Fakten – zum Schutz der eigenen geostrategischen Position.

Anfang 2014 ermöglichte Russland durch militärische Intervention die Sezession der Krim durch Volksentscheid und anschließend den Eintritt der Krim-Republik in die Russische Föderation.

Die westliche Welt bezeichnete dies als eine Annexion, eine Verletzung des Völkerrechts und der UNO-Charta. Dass Putin die Interessen seines Landes auf diese Weise durchsetzt, ist nach allem, was zuvor geschah, nachvollziehbar. Die USA hätten in einem solchen Fall vermutlich nicht anders reagiert. Das Versprechen, eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa aufzubauen, die sowohl Russland als auch die osteuropäischen Staaten einbezogen hätte, wurde nicht einmal angedacht. Die NATO wurde stattdessen ausgebaut und wider aller Zusicherungen systematisch bis an die russischen Grenzen vorgeschoben.

Nichts begriffen, nichts gelernt

Als Putin nicht nur die Krim annektierte, sondern mit dem Bürgerkrieg im Donbass auch dafür sorgte, dass die Ukraine schon aus diesem Grund nicht in die NATO aufgenommen werden kann, war er endgültig der Böse, der Gesetzlose, der Killer geworden. Richtig: Vieles von dem, was er seither in Gang gebracht hat, ist widerwärtig und völkerrechtswidrig. Aber es ist auch eine Re-Aktion auf die zahlreichen, die Interessen Russlands und seiner Bevölkerung verletzenden Entscheidungen des Westens. Wer darauf hinweist, ist ein Putin-Versteher. Dümmer kann man die ungemein erfolgreiche Friedenspolitik der Ära Brandt/Bahr nicht mehr interpretieren. Für sie war das Verstehen die Voraussetzung für Friedensfähigkeit. Der Perspektivwechsel – das sich auf die Seite des Anderen zu stellen und von dort aus das Problemfeld zu analysieren – warum ist das bei der heutigen Generation von Politikerinnen und Politikern verloren gegangen? Warum sind sie so geschichtsvergessen? Muss man die Erfahrung eines Krieges erlitten haben, um das zu begreifen?

Titelbild: zef art/shutterstock.com


Informationen zum Autor: Axel Schmidt-Gödelitz, geboren 1942 auf Gut Gödelitz in Sachsen, flüchtete 1946 mit seiner Familie in den Westen. Nach dem Studium der Politologie und Volkswirtschaft an der FU Berlin folgten Forschungsaufenthalte in Marokko und Frankreich. Nach seiner Tätigkeit als freier Journalist war er von 1976 bis 1982 Referent an der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR. Anschließend war Schmidt-Gödelitz für verschiedene Projekte der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Kairo und Peking tätig. Von 1990 bis 2003 war er Leiter des Berliner Büros der FES. 1998 gründete er das ost-west-forum Gut Gödelitz und ist seit 2003 dessen Vorsitzender. Er ist Mitglied des Willy-Brandt-Kreises. 2010 erhielt Schmidt-Gödelitz das Bundesverdienstkreuz für seine Verdienste um den Ost-West-Dialog.