Der Balkan im Visier geopolitischer Rivalitäten. Von Alexander Neu

Der Balkan im Visier geopolitischer Rivalitäten. Von Alexander Neu

Der Balkan im Visier geopolitischer Rivalitäten. Von Alexander Neu

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

Die geo-politischen und -ökonomischen Rivalitäten zwischen dem Westen einerseits und Russland sowie China andererseits dominieren zunehmend die internationale politische Agenda. Die Qualität dieser Rivalitäten hat mit Blick auf das Verhältnis des Westens zu Russland längst wieder die eines Kalten Krieges, Kalter Krieg 2.0, angenommen. Auch die Spannungen mit China gehen in diese Richtung:
Der Westen einerseits will die Realitäten der sich zunehmend herausbildenden multipolaren Weltordnung nicht akzeptieren und jegliche Entwicklungstendenzen unter Verwendung des gesamten – auch militärischen – Instrumentenkastens zu unterbinden versuchen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Und die beiden eurasischen Großmächte andererseits, die die westliche Dominanz bis hin zur Einmischung in innere Angelegenheiten nicht mehr widerspruchsfrei hinzunehmen bereit sind und reziprok auf die westlichen Eindämmungsmaßnahmen reagieren.

Der Kampf des Westens gegen seinen relativen Machtverlust findet auch in einem geopolitischen Dreh- und Angelpunkt Europas statt: Auf dem Balkan. Während die meisten Balkanstaaten (Slowenien, Kroatien, Montenegro, Makedonien (Korrekt muss das heißen: Nord-Makedonien, AM), Bulgarien, Rumänien, Moldawien, Ungarn, Albanien und Griechenland in den euroatlantischen Strukturen) integriert (NATO) oder zumindest assoziiert (EU) wurden, bilden die beiden ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken, die Republik Serbien und Bosnien-Herzegowina (noch) ein Loch in dem euroatlantischen Machtraum.

Trotz der massiven – auch militärischen – Interventionen des Westens in Bosnien-Herzegowina und der Verdrängung Russlands aus seinem historischen „Einflussgebiet” Balkan, insbesondere Serbien, in den 1990er und Nullerjahren, ist es dem Westen – zum Teil auch selbstverschuldet angesichts seiner Arroganz – nicht gelungen, die Region nachhaltig zu befrieden und in seinen Einflussbereich zweifelsfrei zu etablieren.

Die Wiederkehr Russlands und das Ausgreifen Chinas auf dem Balkan spitzt die geopolitische Rivalität in der Balkanregion massiv zu.

Die Republik Serbien betreibt eine, nahezu in der Tradition Jugoslawiens stehende, geschickte Neutralitätspolitik. Bosnien-Herzegowina ist entlang der ethnischen Orientierung gespalten. Während die bosnischen Kroaten nach Zagreb, Berlin, Brüssel und Washington schauen, versuchen die Bosniaken den Spagat zwischen dem Westen und der Türkei. Die Serben aus BiH hingegen schauen nach Belgrad und Moskau.

Mit dem Friedensabkommen von Dayton im Jahre 1995, welches den Krieg in Bosnien-Herzegowina beendete, wurde ein staatliches Konstrukt geschaffen, das alle Widersprüchlichkeiten westlicher Imperialpolitik reflektiert und nur aufgrund der damals absoluten Globaldominanz durchgesetzt werden konnte: Der Westen hat die Zerschlagung Jugoslawiens aktiv begleitet bzw. sogar forciert. Die territoriale Integrität und staatliche Souveränität, Grundlagen des modernen Völkerrechts, wurden seitens des Westens aus geopolitischen Machtinteressen in den 1990er Jahren mit den Füßen getreten und damit Präzedenzfälle geschaffen. Das externe Selbstbestimmungsrecht erschien den westlichen Imperialisten als vorteilhaft, um seine Einflusssphäre zu expandieren. Teile und herrsche bestimmt die westliche Balkanpolitik.

Bosnien-Herzegowina hingegen sollte, wie alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens – außer Serbien – in seiner territorialen Integrität bestehen bleiben. Von Souveränität Bosniens sollte man lieber nicht sprechen. Serbiens Souveränität und territoriale Integrität wurde hingegen genauso mit den Füßen getreten wie die Jugoslawiens. Das Kosovo wurde aus Serbien mit militärischer Gewalt der NATO 1999 herausgeschnitten. Die vom Westen selbstherrlich gezogenen neuen Staatsgrenzen gelten als unantastbar – selbst, wenn sich zwei Nachfolgesubjekte Jugoslawiens (wie im Falle Serbien und der abtrünnigen serbischen Provinz Kosovo) über einen Territorialaustausch einvernehmlich verständigen wollten, verhindern das Washington, Brüssel und insbesondere Berlin mit Argumenten, die an Verlogenheit und Heuchelei nicht zu übertreffen sind. Externes Selbstbestimmungsrecht und territoriale Integrität werden missbraucht, so wie es gerade machtpolitisch opportun erscheint:

Als in Georgien (Südossetien und Abchasien) und in der Ukraine (Krim und Teile der Ostukraine) „Minderheiten“ sich abspalteten, auch unter Verweis westlicher Praxis im ehemaligen Jugoslawien (externes Selbstbestimmungsrecht sticht territoriale Integrität und Souveränität), war und ist die Empörung des Westens über den von diesen „Minderheiten“ formulierten Anspruch auf externes Selbstbestimmungsrecht so laut, dass die NATO erst einmal Sanktionen gegen diese und die Erhöhung der Militärausgaben ihrer Mitgliedsstaaten auf 2% des BIP beschloss. Offensichtlich waren es die falschen „Minderheiten“, weil russland-nah.

Bosnien-Herzegowina und das Dayton-Abkommen

Mit Blick auf Bosnien-Herzegowina hat das Dayton-Abkommen zunächst einmal den Realitäten vor Ort Rechnung getragen. Über die Köpfe Serbiens und der bosnischen Serben hinweg konnte seinerzeit selbst der Westen nicht in Gänze entscheiden. Dayton ist somit ein Kompromiss, wenn auch ein Kompromiss, der der Staatlichkeit Bosniens aufgrund der spezifischen, die ethnischen Interessen berücksichtigenden Strukturen eine gewisse Fragilität verlieh. Aber diese Strukturen sind eben der konkrete Ausdruck des ethnischen Konfliktes, der Anfang der 1990er Jahre auch vom Westen massiv durch Unterstützung der Sezessionisten in Jugoslawien geschürt wurde.

Zwar wurde formal-juristisch (UN-Sicherheitsratsresolutionen, Dayton-Abkommen) mehr oder minder auf Ausgleich zwischen den Volksgruppen gesetzt.

Der Westen wäre aber nicht der Westen, würde er sich nur mit einem halben Sieg zufriedengeben – Bosnien ist nicht Teil der euroatlantischen Strukturen. Daher wurden im tagespolitischen Geschäft fragwürdige Interpretationen und unilaterale Ergänzungen bisweilen mit erheblichem Druck (strukturelle Gewalt) durch die westlichen Akteure formuliert, die den interethnischen Ausgleich torpedieren.

Mit Blick auf BiH sind hier einmal die sogenannten „Bonn Powers“ zu nennen, die dem „Hohen Repräsentanten“ nachträglich eine Machtfülle verleihen, die man durchaus als monarchistische Exekutivbefugnisse bezeichnen könnte. Die „Bonn Powers“ wurden 1997 eingeführt – also zwei Jahre nach Abschluss der Dayton-Verhandlungen. Sie waren mithin also kein Gegenstand der Dayton-Verhandlungen zwischen den drei Ethnien, sondern wurden nachträglich und unilateral vom sogenannten Friedensimplementierungsrat – einer internationalen, vorwiegend von westlichen Staaten plus NATO und EU geschaffenen Steuerungsgruppe, jedoch unter Beteiligung Russlands – aufgedrückt.

Zu den Kompetenzen des Hohen Repräsentanten gehören die Möglichkeiten, demokratisch gewählte Politiker abzusetzen, Gesetze außer Kraft zu setzen oder gar zu erlassen. Damit wird BiH faktisch immer noch 26 Jahre nach dem Ende des Krieges auf die Stufe einer Kolonie reduziert, obschon die Wahlen frei und fair verlaufen.[1] Der „Hohe Repräsentant“ nutzt und missbraucht sein Amt, um strukturell-administrative Machtverschiebungen im westlichen Sinne herbeizuführen.

Die bosnischen Muslime forcieren ihrerseits in enger Abstimmung mit den westlichen Akteuren (bilateral wie auch über Brüssel) den Unitarisierungsprozess in Bosnien-Herzegowina, der auf eine massive Machteinbuße der bosnischen Serben hinausliefe, so dass einem NATO-Beitritt Bosnien-Herzegowinas nichts mehr im Wege stünde. Damit untergraben die bosnischen Muslime und der Westen in enger Kooperation sukzessive das Dayton-Abkommen. Aus diesem Grunde wollen Russland und China die Funktion des „Hohen Repräsentanten“ beenden. Russland hat in der Konsequenz der Ernennung des neuen „Hohen Repräsentanten“, des Deutschen Christian Schmidt, dementsprechend widersprochen. Die russische Ablehnung wurde seitens des Westens ignoriert und der neue „Hohe Repräsentant“ erstmals nicht im Konsens eingesetzt.

Russland, Serbien und die Republika Srpska verweigern folgerichtig die Kooperation mit dem neuen „Hohen Repräsentanten“, so beispielsweise, als der „Hohe Repräsentant“ seinen Bericht vor dem UN-Sicherheitsrat vorstellen wollte. Sein Auftritt wurde durch Russland blockiert.[2]

Bosnien-Herzegowina im Fadenkreuz der Geopolitik

Die zunehmenden Spannungen in BiH sind eben nicht nur auf der innerstaatlichen Ebene zu rezipieren, sondern müssen im größeren geopolitischen Kontext betrachtet werden.

Westliche Zielsetzung ist hierbei, den postjugoslawischen Raum so zu gestalten, dass er sich ausnahmslos und unumkehrbar in die euro-atlantischen Strukturen (EU und NATO) integrieren lässt, womit nahezu ganz Osteuropa mit Ausnahme Weißrusslands und Russlands unter Kontrolle Brüssels und Washingtons stünde.

Diese westlichen unilateralen Maßnahmen in Bosnien-Herzegowina stießen in den 1990er und Nullerjahren nur auf verbale Kritik seitens Russlands und Chinas – die Republika Srpska – eine von 2 Entitäten – konnte den unilateralen Maßnahmen des Westens aufgrund ihrer Schwäche nichts entgegensetzen. Seitdem beide Großmächte auf der Weltbühne jedoch einen Mitgestaltungsanspruch auch auf operativer Ebene einfordern und praktizieren, wächst der Widerstand in der Republika Srpska gegen die westliche Selbstherrlichkeit in Bosnien-Herzegowina.

Die Republika Srpska verweigert sich zunehmend der forcierten Erosion der im Dayton-Abkommen und in der Verfassung Bosnien-Herzegowinas festgelegten Kompetenzverteilung in der Machtvertikalen zwischen dem Gesamtstaat BiH und den beiden Entitäten (Republika Srpska und Föderation von Bosnien und Herzegowina). Die Serben in Bosnien fordern sogar für sich eine Rückübertragung der Kompetenzen, so wie es im Dayton-Abkommen und der Verfassung Bosnien-Herzegowinas formuliert wurde. Sollten die Serben der Republika Srpska dies tatsächlich durchsetzen, wären zwei Jahrzehnte westlicher Anstrengungen, Bosnien-Herzegowina auf westliche Linie zu bringen, umsonst gewesen. Und genau das ist der Kern der gegenwärtigen Krise und der wachsenden Aufregung in Berlin und Brüssel. Hierdurch erklärt sich auch die Heftigkeit der verbalen Angriffe auf die Serben Bosnien-Herzegowinas.

So konstruiert die Bundesregierung, wohlwollend begleitet durch deutsche „Leit“medien, das Narrativ, die Republika Srpska und ihr prominentester Politiker Milorad Dodik strebten eine Sezession an.[3] Die ehemalige Merkel-Regierung schickte kürzlich noch ihren Staatsminister Michael Roth aus dem Auswärtigen Amt nach Bosnien-Herzegowina, um dort den prowestlichen Kurs als alternativlos zu verteidigen:

Die aktuelle Situation in Bosnien und Herzegowina ist frustrierend und gefährlich für Frieden und Stabilität in ganz Europa. Rufe nach Abspaltung sowie die Schwächung des Gesamtstaats durch Rückzug aus gesamtstaatlichen Institutionen sind verantwortungslos und inakzeptabel. Sie lenken von den eigentlichen Aufgaben der politisch Verantwortlichen ab, nämlich von der überfälligen Umsetzung der für die EU-Annäherung nötigen Reformen. Hier sind Fortschritte im Interesse der Menschen im Land und der wirtschaftlichen Entwicklung dringend erforderlich.

Deutschland steht fest an der Seite derjenigen Menschen in Bosnien und Herzegowina, die sich für eine demokratische, rechtsstaatliche und europäische Zukunft des Landes einsetzen. Diesen Bürgerinnen und Bürgern möchte ich Mut machen und den Rücken stärken.“[4]

Im Umkehrschluss bedeutet diese Aussage, dass die Menschen, die sich nicht im glorreichen Westen wähnen möchten, nicht demokratisch, nicht rechtsstaatlich und nicht europäisch gesinnt seien und auch noch den Frieden und die Stabilität gefährdeten.

Solchen Menschen kann man dann auch nicht demokratische und rechtsstaatliche Instrumente anvertrauen – „missbrauchen“ sie diese doch für ihre eigenen Zwecke. Wie gut, dass es das Amt des „Hohen Repräsentanten“ noch gibt.

Eine besondere Perle deutscher medialer Propaganda gegen die bosnischen Serben ist sicherlich jener Beitrag der Zeit-Online unter dem Titel: Barack Obama, übernehmen Sie“. Nicht nur, dass der deutsche „Hohe Repräsentant“ als politisches Leichtgewicht, was er tatsächlich auch ist, abgemeiert wird und DIE ZEIT angesichts der brenzligen Lage auf dem Balkan den ehemaligen US-Präsidenten B. Obama als neuen Statthalter des Westens in Bosnien-Herzegowina einfordert.

Nein, ganz in kolonialistischer Tradition wird auch noch mal klargestellt, wer auf dem Balkan mitmischen darf bzw. das Sagen haben muss und wer nicht:

Bosnien steht am Rande von Auflösung und Bürgerkrieg. Äußere Mächte mischen sich ein: Russland und China, Ungarn und Serbien.“[5]

Wie gut doch, so muss man ironisch anmerken, dass Deutschland, die EU, die USA und die NATO keine „äußeren Mächte“ sind und sich auch nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen, sondern ausschließlich die UN-Charta als einzige Quelle ihrer außenpolitischen Entscheidungen zu Grunde legen.

Titelbild: PredragLasica / Shutterstock


[«1] Siehe auch FAZ: faz.net/aktuell/politik/ausland/aufsichtsbehoerde-in-bosnien-ohne-demokratische-kontrolle-17451828.html#void

[«2] jungewelt.de/artikel/413827.christian-schmidt-statthalter-auf-dem-abstellgleis.html

[«3] „Außenminister Heiko Maas im Interview mit dem Internet-Portal Klix.ba“, 11.11.2021 – Interview, sarajewo.diplo.de/ba-de/aktuelles/heiko-maas-klix/2495484

[«4] „Europa-Staatsminister Roth reist zu politischen Gesprächen nach Bosnien und Herzegowina“ – 30.11.2021 – Pressemitteilung auswaertiges-amt.de/de/newsroom/roth-bih/2498450

[«5] „Barack Obama, übernehmen Sie“, zeit.de/politik/ausland/2021-11/bosnien-buergerkrieg-eu-balkan-voelkermord-republik-srpska-serbien

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