DIE RUSSEN KOMMEN. Eine Glosse zum „Zeitgeschehen“ von Jürgen Scherer
Der neualte Slogan, der uns derzeit tagtäglich in unsere Köpfe und Herzen gehämmert wird, heißt mehr oder weniger unterschwellig: DIE RUSSEN KOMMEN. Zieht Euch warm an. Seid gerüstet. Seid abwehrbereit. Bereit, präventiv zurückzuschlagen. – Zu welchem Behufe schrillen diese Glocken, fragt sich der erstaunte Friedensfreund und sucht verzweifelt nach Gründen für die gezielte Unterstützung dieser Propagandaoffensive der BRD-PolitikerInnen und des verbündeten Westens in allen Gazetten und auf allen Kanälen des Mainstreams.
Vielleicht hilft ja zum Verständnis ein Blick zurück.
Zu einer der Gründungsgegebenheiten der alten Bundesrepublik gehört die Angst vor den Russen, sprich die Angst vor den Bolschewisten viceversa Kommunisten, wie das Weihwasser zur katholischen Kirche. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges sollte die BRD zum Frontstaat des Westens gegen die vorgeblich jeden Tag einmarschierwilligen Sowjets, sprich Russen, werden. Waren die doch schon im „Bruderland DDR“ und bedrohten von dort aus die BRD und den ganzen Westen.
Die Geschichte ist bekannt: erfolgreiche Wahlkämpfe des antikommunistisch sozialisierten und überzeugten Adenauer und seiner erzkonservativen CDU, Wiederbewaffnung der damaligen BRD, Verbot der KPD, Verfolgung und Desavouierung ehemaliger Widerstandskämpfer, die nicht ins Bild passten usw. usf. Unsere BRD wurde zum Musterknaben im Kampf gegen den Feind hinter dem „Eisernen Vorhang“. Die Angstmache hatte Erfolg.
Aber dann kam Brandt: Mit nimmermüder Tatkraft gelang es ihm und seinen Mitstreitern, Vorurteile abzubauen, neue politische Wege zu gehen und einer der ewigen Bedrohungsszenarien müde gewordenen Bevölkerung Hoffnung auf Wandel zu machen. „Wandel durch Annäherung“ nannte man das damals. Sogar die „bösen Soffjets“ ließen sich darauf ein. Die Zeichen standen auf Verständigung statt auf Verächtlichmachung, auf Kooperation statt Konfrontation, auf Begegnung statt Abschottung. Es wurde schwerer, mit antirussischen Ressentiments in Deutschland Wahlen zu gewinnen. Der Russe kam einfach nicht so, wie er angekündigt worden war. Es war sogar möglich, mit ihm solide, entspannungsgeladene Verträge zu schließen. Der Russe kam anders als immer herausposaunt. Angstabbau, der Erste.
Weltpolitisch wurde zudem immer deutlicher, dass die Bedrohung durch die damalige UdSSR tatsächlich sowohl rüstungspolitisch als auch ideologisch für die Entwicklung derselben eher kontraproduktiv war. Verständigung konnte für alle Seiten wahrscheinlich mehr Friedensdividende bringen als kräftezehrende Konfrontation. Da aber politische Tanker sehr schwerfällig sind, sich Kurskorrekturen oft nur äußerst langsam ins Werk setzen lassen, bedurfte es in der BRD u.a. der Brandbeschleunigung durch die Friedensbewegung, die sich die alltäglichen Ammenmärchen und Lügen über das „Reich des Bösen“ nicht mehr zu eigen machen wollte, ein nicht mehr von Angst und politischer Scheinheiligkeit geprägtes Leben führen wollte. Angstabbau, der Zweite.
Im Zuge dieses Kampfes für ein freieres, nicht durch hirnrissige Bedrohungsszenarien der westlichen Wertegemeinschaft bestimmtes Leben entstanden die GRÜNEN, eine Partei, in die viel Hoffnung gesetzt wurde im Hinblick auf „Friede, Freude, Eierkuchen“. Der Weg durch die Institutionen kam in eine neue Phase und aus östlicher Sicht wurde offenbar, dass von einer solchen, vermutlich friedfertigen BRD keine substantielle Bedrohung mehr ausgehen musste. Die seit Brandt immer wieder erprobte „gute Nachbarschaft“ schien wohl möglich und erstrebenswert, zumindest immer wahrscheinlicher. Der „Eiserne Vorhang“ war zu diesem Zeitpunkt schon recht fadenscheinig. Angstabbau, der Dritte.
Und dann kam auch noch Gorbi! Wer hätte das gedacht? Die Russen marschierten gar nicht ein, wie immer wieder im Hinterkopf vieler WESTDEUTSCHER, sie kamen mit einer Charmeoffensive, der sich niemand erwehren konnte. Die lief aus realsozialistischer Sicht leider aus dem Ruder und ging deshalb so weit, dass sogar die „realsozialistischen“ „Brüder und Schwestern“ dran glauben mussten, dank „Glasnost“ und „Perestroika“. Sie wurden „kapitalistisch und frei“. Ein westlicher Wunschtraum erfüllte sich. So durfte der Russe kommen! Angst, was war das nochmal?
Und für die Deutschen wurde ein Märchen wahr: ein einig Volk von Brüdern und Schwestern. Bereit zu neuen Taten. Bereit für das nächste Kapitel unter dem Slogan „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“. Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende aller Tage, wie es in Märchenenden des Öfteren heißt.
Aber wie es nunmal so ist: Märchen sind das eine, Realitäten das andere.
Nach kurzer Verschnaufpause erwachte der bis dato im Halbschlaf lauernde „Drache Kapitalismus“ vollends und schlug unerbittlich zu. Er sprengte mit Hilfe der glücksbesoffenen deutschen Elite seine Fesseln und zeigte innerhalb kürzester Zeit seine zuvor systemkonkurrenzbedingt gezähmte, alles vernichtende Gewalt. Es kam zu wahrlich unschönen Szenen im Familienleben der nunmehr grenzenlosen Brüder und Schwestern. Die einen wollten teilhaben am Konsumismus des Westens, die anderen waren scharf auf Tafelsilber im Osten. Die einen glaubten zu wissen, wie Kapitalismus geht, die anderen waren froh, ihren Ismus los zu sein. Heute erleben beide Seiten, dass der entfesselte Drache ihrer aller Leben tagtäglich ruiniert – bis in die coronaüberbelegten Krankenhäuser hinein.
Im Laufe der Zeit wandelte sich auch wieder das Verhältnis der ehemals „Großen Brüder“ zueinander. Schauten sie anfangs noch wohlwollend auf die sich entspannende Weltlage, schien dieses Wohlwollen auf Dauer für den westlich kapitalistischen Drachen eher nachteilig. Er wollte das ehedem gezähmte Streben nach Welteroberung wieder aufnehmen. Allerdings bedurfte es dazu, bei aller ihm innewohnenden Skrupellosigkeit, einer auf den „westlichen Regeln“ basierenden Grundlage. Die schuf sich die Obama-Administration auf dem Weg der Herabstufung des ehemaligen Augenhöhegegners zur Regionalmacht, fortan quasi reif für einen Regimechange. Dieses von systemgewinnlerischer Sicht geprägte Handeln, gepaart mit wertebasierter westlicher Überheblichkeit unterschätzte allerdings die nach wie vor geopolitischen Interessen der GUS, insbesondere Russlands. Dieses wollte sich nicht durch den Kapitalismus sturmreif schießen lassen und zog die überlebenswichtige Notbremse, blieb aber dennoch gesprächsbereit.
Die USA-geführte westliche Seite benötigte aber einen Grund, die Daumenschrauben anzuziehen. Der ergab sich, als der „Westen“ und hier vor allem die USA den Regimechange in der Ukraine massiv und völkerrechtsfragwürdig unterstützte, ohne Rücksicht auf die geopolitischen Interessen Russlands. Da man mit einer „Regionalmacht“ nicht spricht, sah sich Russland in Bezug auf die russischen Minderheiten in der Ukraine herausgefordert und fühlte sich auch durch die Sezessionsbestrebungen der „Krimrussen“ in der Pflicht. Verhandlungslösungen waren zu diesem Zeitpunkt vom Westen nicht erwünscht, die Sprache der Gewalt übernahm die Herrschaft und der heutige Schlamassel wird Russland in die Schuhe geschoben. Einem Staat, der sich geopolitisch berappelt hat und an dem konstruktive Lösungen nicht vorbeiführen, bei aller Kritik an seinem autoritären Regime. Genau hier kommt der alte, schon in der Mottenkiste vergammelt geglaubte „Systemstreit“ ins Spiel. Allerdings in neuem Gewande: Guter Kapitalismus versus schlechter Kapitalismus. Die einstmals bewährte Propaganda-Angstparole konnte wieder aufleben: DIE RUSSEN KOMMEN!
Jetzt kann sich der „Gute Westen“ wieder einmal unter der Fahne der Freiheit versammeln und gegen das autoritäre russische Regime Flagge zeigen – ohne Wenn und Aber, notfalls auch kriegstreiberisch. Aber wie soll das gelingen mit einer deutschen Bevölkerung, die einfach nicht so richtig wahrhaben will, dass der RUSSE wieder jeden Tag VOR DER TÜR stehen kann, wo wir doch letztlich diesem Russen die Wiedervereinigung zu verdanken haben? Deshalb ist es höchste Zeit, dem Hohelied der Dankbarkeit ein Ende zu bereiten. Es müsste doch mit dem Drachen zugehen, wenn es nicht gelänge, die Deutschen mürbe zu machen, verständnisbereit für Aufrüstung und neue Kriegslust. Und siehe da: Es gibt willige HelferInnen!
Die neue PolitikerInnengarde und die ihr zugetanen Mainstreammedien singen fröhlich das Lied der alten BRD und der weltweiten Kalten Krieger: Der Russe ist gefährlich, der Russe ist ein gefräßiger Bär, der Russe wird bald vor unserer Tür stehen. Da hilft nur noch Helm auf zum Gebet, Augen geradeaus und losmarschiert. Mit Augenmaß selbstverständlich. Erstmal drohen, dann nochmal drohen. Schon mal den Säbel ziehen und glänzen lassen. Der Russe wird, davon geblendet, schon klein beigeben. Soweit die derzeitigen Illusionen des sich wertebasiert hochrüstenden Westens.
Der verdutzte Friedensfreund ist ob dieses Schlachtengetümmels betroffen und erinnert sich, wie es dazumal zu dem „Märchen der Wiedervereinigung“ gekommen war. Wenn er es recht bedenkt, hatte es auf dem Weg dahin nicht misstrauens-, sondern vertrauensbildende Maßnahmen gegeben, nicht Drohgebärden, sondern Gesprächsangebote, nicht weltmachtansprüchiges Gehabe, sondern geopolitisch realistische Einschätzung, nicht Egoshooterverhalten, sondern Koexistenzangebote, nicht Dunklemächtegeraune, sondern Offenheitsgestik, nicht Dominanzverhalten, sondern Teamplayerangebote, alles in allem eigentlich das, was es braucht, um eine einigermaßen lebbare gute Nachbarschaft auf die Beine zu stellen oder wie gerne gesungen wurde „Ein bißchen Frieden…“
Allerdings hatte damals der kapitalistische Drache dank des roten Lindwurmgegenübers weniger scharfe Zähne. Momentan scheint es höchste Zeit, ihm wenigstens einige zu ziehen, solange noch kein Siegfried in Sicht ist. Denn den Popanz von den Russen, die bald kommen, kann kein welt- und rüstungspolitisch informierter Mensch ernst nehmen. Die sind im Laufe der jüngeren Geschichte eigentlich immer erst gekommen, nachdem sie herausgefordert worden waren. Genau eine solche den Russen unterstellte Angriffslust aber ist der erste Zahn, der vor allem dem militärisch-industriellen Komplex des Westens umgehend gezogen werden muss, damit DIE RUSSEN nicht dazu gezwungen werden, zu KOMMEN. Auch wenn mit dieser altbewährten ANGSTPAROLE unsere Herzen und Hirne wieder einmal vernebelt werden sollen, sollten wir uns dem Drachen, der bereit ist, einen für uns lebensgefährlichen Weg einzuschlagen, mutig entgegenstellen. Immer eingedenk der überlieferten Erfahrung: Jeder Drache ist noch irgendwann getötet worden, nachdem die Angst besiegt worden war.
Lassen wir uns also unsere Herzen und Hirne nicht länger vernebeln.