Mögen Sie Menschen?

Mögen Sie Menschen?

Mögen Sie Menschen?

Ein Artikel von Michael Fitz

Natürlich, werden Sie sofort sagen, was für eine Frage? Ich bin doch selbst ein Mensch! Aber wenn Sie das mal ganz genau betrachten, quasi vor Ihrem inneren Auge ganz ehrlich und radikal auf die Goldwaage legen, was bleibt da von diesem, so euphorisch und beinah automatisch und reflexhaft geäußerten Allgemeinplatz noch übrig? Denken Sie mal an Flughäfen, an Autobahnraststätten in der Ferienzeit. An überfüllte Frühstücksräume von gut belegten Hotels, an Shopping-Malls am verkaufsoffenen Sonntag, an Sportveranstaltungen. Da sind viele Menschen unterwegs. Welche, die Ihnen auf dem Weg zur Toilette im Weg herumstehen, umständlich nach Kleingeld kramen, so als würden sie das erste Mal feststellen, dass Pinkeln auf der Autobahn schon lange etwas kostet. Leute, die sich nicht vor dem Espressostand in die Schlange der Wartenden einreihen, sondern sich eben genau von der anderen Seite hineindrängeln. Menschen, die offensichtlich von der Annahme ausgehen, dass all der Service, der hier geboten wird, ausschließlich für Sie bereitgestellt ist. Mögen Sie das? Mögen Sie Menschen, die sich in Konzertveranstaltungen an ihrem Handy festhalten und während der laufenden Show, quasi in Echtzeit, ihre Kommentare irgendwohin ins Netz posten, immer auf der Jagd nach dem nächsten „Like“? Von Michael Fitz.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Mögen Sie das Gefühl, was einen in nicht ideologiebedingten Menschenansammlungen ergreift? Nämlich dass wir alle, ausnahmslos, auch Sie selbst, in Ihrer eigenen Blase oder Glasbox stecken, die man quasi zum Schutz um sich herum immer dabei hat. Wovor schützen wir uns denn da? Vor dem Wetter? Vor dem Fremden? Vor all dem Schlimmen, was uns passieren könnte, da draußen? Vielleicht schützen wir uns vor allem vor Menschen. Warum das denn? Oder fragen Sie doch gleich weiter! Zum Beispiel, was man denn an anderen Menschen bedrohlich finden kann, was wir da unbedingt und ständig abwehren müssen? Hellere Köpfe fragen sich vielleicht, inwieweit die Dauerberieselung mit Crime-, Kriegs- und Action-Filmen, Buch- und Streaming-Fiktionen aller Art, vollgepackt mit allerlei dystopischen Angstphantasien ihrer Schöpfer, unser Menschenbild oder besser das Bild, das wir vom Anderen, von der Gesellschaft um uns herum haben, so signifikant prägt. Was sehen wir da im Spiegel? Dann doch uns selbst? Den Grobian mit der Keule, der Konflikte grundsätzlich mit Gewalt, mit dem Recht des Stärkeren löst und vor dem wir zu Recht Angst haben?

Auch wenn unsere Zivilisation diesen inneren Kern so trefflich mit Kultur und Kultiviertheit eingekleidet hat, kommt er eben doch früher oder später, wenn es Stress gibt, mit der erforderlichen Dosis Adrenalin zum Vorschein. Flucht oder Angriff waren schon für unsere prähistorischen Altväter immer die beiden einzigen möglichen Alternativen, wenn das gejagte Mammut arg angefressen zum Gegenangriff überging. Nein, nein, natürlich mögen Sie Ihre Kinder, Ihre Frau, Ihre Familie, Ihren Hund natürlich auch und Ihre Katze, auch die Oma und die Schwiegermutter – eben alle die, die in Ihrer Blase daheim sind und Platz finden. Alles, was darin keinen Platz hat, ist unbekannt, bedrohlich und bleibt deshalb besser draußen, muss auf Abstand gehalten werden. Wie könnte es sonst geschehen, dass Leute auf der Straße sterben oder schwer verletzt herumliegen und niemand sich dafür interessiert, niemand hilft oder zumindest Hilfe anbietet? Im Gegenteil, da sind dann auch noch Gaffer, die all das Unglück für die Nachwelt als Sensationshappen auf ihr Handy bannen. Da braucht es dann eine „Gaffen-geht-gar-nicht“-Aktion vom öffentlich-rechtlichen Rechthaberadio, wo man die allseitige Empörung dann ganz elegant marketingtechnisch benützt. Übrigens, Achtung! Auf der A7 befinden sich Menschen auf der Fahrbahn. Ja, richtig und noch mehr Menschen sitzen dort in Ihren Autos und warten, bis der Arzt kommt.

Das sind dann, die humanitären Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Die eben keinen Glaskasten mit sich herumtragen, in dem man, wenn überhaupt, so gut wie nichts, außer sich selbst, spüren kann. Ärzte, Sanitäter. Profis eben, Leute, die wissen, was zu tun ist. Aber Helfen ist kein Hexenwerk, sondern unter Menschen eigentlich Normalität. CORONA hat uns einmal mehr dazu gebracht, diesen Glaskasten, unsere Box immer dabei zu haben, unter Menschen, genau wie die Maske eben auch diese Box zu gebrauchen. Ganz selbstverständlich, denn dafür gibt es ja gute Gründe. Man will sich nicht anstecken, nicht infizieren am Anderen. Der oder die Andere ist aber eben auch ein Mensch.

Nicht etwa lediglich ein Unfall, ein Kranker, ein Verletzter, den es gilt, möglichst schnell beiseitezuschaffen. Wir sind alle Individuen, Menschen eben. Vielleicht jeder ein wenig zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Damit, unsere kleine Wohlfühl-Blase am Leben zu halten und zu schützen. Uns abzuschotten gegen die anderen, gegen das Leben, das da draußen unaufhaltsam und gnadenlos tobt, als ob das wirklich möglich wäre. An Flughäfen, in Einkaufszentren, auf Autobahnraststätten, an Unfallstellen – überall da, wo Menschen sind, ist Leben. Nicht immer angenehm, dann also nicht unbedingt blasen-konform. Weil schön soll es doch sein, das Leben. Und möglichst durchgehend so angenehm wie ein Wellness-Wochenende.

Manche kriegen die eigene Erstarrung, Verkrampfung gegen das Leben da draußen, in dem es keine Sicherheiten, keinen Verlass, kein Netz und keinen doppelten Boden gibt, gar nicht mehr mit. Manche glauben, sie wüssten mehr, wüssten es besser, kennen alle Regeln, die selbstverständlich nur für die anderen gelten, dürfen die auch übertreten und sie schauen dann aus ihrer, gerne auch intellektuellen, moralinsauren Blase heraus etwas hochnäsig. Auf den Rest. So als würden Forscher nicht ganz frei von Ekel ein seltenes Insekt bestaunen. Schau, all die armen Irren, die Verlorenen, die Unwissenden, die keine Ahnung von nichts haben. In ihrem Blick liest man eine gewisse Verächtlichkeit, gerne auch heiteren Zynismus. Dabei fällt ihnen der große Bruder mit der Keule, der ihnen lauernd über die Schulter sieht und geduldig auf sein Stichwort wartet, gar nicht auf. All das prägt unsere Welt und zieht tiefe Gräben zwischen Menschen, die wir ja alle, trotz allem, noch sind. Nicht nur zwischen Philosophen und Proleten, zwischen Quer- und Geradeaus-Denkern. Zwischen Noch-, Schon- und Bald-wieder-Grobianen aus allen Schichten und sozialen Nischen.

Da mutieren Menschenrechte, die sich so schön in Sonntagsreden für alles, was sich weit weg abspielt, zitieren lassen und dann besonders gut klingen, schnell zu gefälligem Zeitgeistsprech. Auch Moral wird zur Abgrenzung gegenüber anderen gerne ins Feld geführt. Vor allem dann, wenn man zu den Guten gehört und Selbstsicherheit durch Selbstgefälligkeit ersetzt wird. Das Andere, der Andere ist so anders und abwegig, dass es kaum mehr notwendig scheint, ihm Argumente, eine eigene Meinung überhaupt zuzugestehen, ihn anzuhören oder gar Standpunkte mit ihm auszutauschen.

Da reicht ein Blick aufs Auto, die Kleidung, die Schuhe, die Hautfarbe und schon weiß man, in welche Schublade man den Anderen außerhalb der eigenen Blase einordnen muss. Da muss ich noch nicht mal mein Visier einen Spalt breit öffnen, schon kann ich es wieder zuklappen und in meiner Blase sicher sein. Ich kann in meiner Meinung, meiner sorgsam zurechtgebastelten Vorstellung von der Welt, meinen Bildern, Ideen, Konzepten Schutz suchen.

So sieht es aus. Und die Vereinzelung des Einzelnen schreitet unablässig voran. Was er weiß, das findet er im Netz, was er nicht weiß, kratzt ihn nicht und das will er auch nicht haben. Seine Wut, seine Empörung hackt er zusammen mit der Angst, die dahintersteckt, in jeden Tweet. Visier zu, Ende der Diskussion. Solidarität, Empathie, Moral und die sogenannten Werte verrosten so zu leeren und inhaltslosen Worthülsen, die den Diskussionsraum vollkommen vermüllen. Ein Schilderwald voller Denkverbote und Tabus, wo jeder scharf schießt aus seiner Ecke auf den anders Denkenden und auch trifft. Emotional, hart und unerbittlich mit sich und allen Anderen. Die Überforderung ist groß. Zuviel von allem. Informationen, Propaganda und Bilder, die uns unser Hirn ständig zuballern, uns permanente Hirnakrobatik abverlangen.

Uns zwingt, alles zu bewerten, einzuordnen, in Schubladen zu packen und hie und da bei Sekt und Fingerfood unverdaut wieder rauszuhauen. Der Krieg hat schon begonnen. Schon lange! Es bräuchte dringend, ganz dringend einen Waffenstillstand, am besten eine Verhandlungslösung.

Tja, die können Menschen nur zustande bringen, wenn sie miteinander reden. Wenn sie zuhören, den Anderen ausreden lassen, aus ihrer Box herauskommen und wahrnehmen, wie es dem Gegenüber wirklich geht und was ihn antreibt. Da braucht es aber grundsätzlichen Respekt vor dem anderen Menschen, dem anderen Leben. Es braucht Mitgefühl im wahrsten Sinn des Wortes, nicht immer nur Abgrenzung, Selbstgefälligkeit und Wokeness. Solange wir diesen Respekt nicht aufbringen können oder wollen, hört das Schlachten nicht auf, egal an welcher Front.

Vielleicht sollten wir als Erstes zumindest mal schonungslos erkennen und uns eingestehen, dass wir Menschen generell gar nicht wirklich mögen und in der Regel keinen Zugang zu ihnen finden. Einen Moment der kollektiven Einsicht bräuchte es. Ist vielleicht nicht angenehm, ist kein Pony-Hof, ist weder modern noch salonfähig und es kann gut sein, dass uns dabei ein Zacken aus der Zivilisationskrone fällt, aber … würde helfen. Solange wir ausschließlich in unserer eigenen, so schön individualisierten Blase unterwegs sind, uns immer nur um uns selbst, unsere eigenen Ängste und Ansprüche drehen und von dortaus nichts anderes gelten lassen, hört der Krieg nicht auf, im Gegenteil.

Jeder Schiedsrichter, selbst der, der ausgesprochen gerne Rote Karten verteilt, weiß: Wenn alle Spieler des Feldes verwiesen sind, ist das Spiel vorbei und die Pfeife erübrigt sich.

Titelbild: Rawpixel.com/shutterstock.com

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