Das internationale Recht einer Friedensordnung und der Krieg in der Ukraine

Das internationale Recht einer Friedensordnung und der Krieg in der Ukraine

Das internationale Recht einer Friedensordnung und der Krieg in der Ukraine

Ein Artikel von Bernhard Trautvetter

Die NATO-Osterweiterung stellt einen Bruch der internationalen Vertragstexte dar. Hier wird darum auf die Schlussakte von Helsinki, den Zwei-plus-vier-Vertrag, die Charta von Paris, die NATO-Russland-Grundakte und die Europäische Sicherheitscharta verwiesen. Von Bernhard Trautvetter.

Die Bundeswehr betreibt aktuell eine Werbekampagne (kürzlich auf den NachDenkSeiten auch von Frank Blenz hier aufgegriffen), die vor allem auf junge Menschen zielt – das zeigen die Kurztexte der Werbeplakate: „Stehen unsere Werte auf dem Spiel, gewinnen wir gemeinsam“ oder „Wir bilden neue Stärken aus – unter anderem 4000 Azubis“ sowie unter Anwendung einer Liedzeile des Friedensengagierten Reinhard Mey: „Damit unsere Freiheit grenzenlos bleibt“ – „Mach, was wirklich zählt“; auf einem Plakat ist der Spruch „Was zählt, wenn wir wieder Stärke zeigen müssen?“ mit einem Foto einer jungen Frau als „Soldatin der Panzertruppe“ in Kriegsbemalung und Tarnanzug abgebildet.

Das Verständnis von Emanzipation beziehen die Militärs auch auf den Dienst mit der Waffe.

Der Spruch, den das Foto illustriert, ist in die Propaganda eingebettet, der zufolge dieser eine Krieg in der Ukraine das Alleinstellungsmerkmal aufweist, dass wir nun unsere Werte von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit gegen Russland verteidigen müssen.

Diese Darstellung als Manipulation zu enttarnen, bedeutet mitnichten, die Invasion Russlands in die Ukraine zu unterstützen. Im Gegenteil, ich verurteile sie nicht nur wegen des menschlichen Leids, sondern auch deshalb, weil Russland mit Invasion und Krieg in einem Staat mit 15 Atomreaktoren ein Risiko eingeht, das niemals jemand eingehen darf.

Gleiches gilt allerdings für die NATO, die mit ihrer Osterweiterung im Widerspruch zu internationalen Verträgen des Völkerrechts, wie darzulegen ist, Spannungen generiert hat, die das Risiko in Kauf genommen haben, dass nukleare Gefahren unverantwortlich hervorgerufen werden. Im Mai 2014 entsandte die NATO eine Expertendelegation zur Beratung der damals illegalen ‚Übergangsregierung‘ der Ukraine über den Umgang mit Atomanlagen im Krieg, was ebenfalls unverantwortlich ist. Alle Seiten wussten und wissen, welches existenzielle Risiko sie für die Menschen in Europa eingehen, und eskalieren die Gefahr dessen ungeachtet. Das hat mit Werten und Freiheit nichts zu tun.

Nun zu den Werten selbst: Das Narrativ der NATO ist, dass sie diese sowie die von ihr so genannte ‚Regelbasierte Ordnung‘ verteidigt und dass Russland mit der internationalen Friedensordnung gebrochen hat.

Das Gegenteil trifft zu – Die NATO-Osterweiterung stellt einen Bruch der internationalen Vertragstexte dar, die seit der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 in Helsinki Basis einer Friedensordnung sind; so heißt es in der Schlussakte:

„Die Teilnehmerstaaten werden ihre Zusammenarbeit miteinander und mit allen Staaten in allen Bereichen gemäß den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen entwickeln. … Sie werden sich bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit als Gleiche bemühen, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen, freundschaftliche und gutnachbarliche Beziehungen untereinander, internationalen Frieden, internationale Sicherheit und Gerechtigkeit zu fördern.

Sie werden sich gleichermaßen bemühen, bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit das Wohlergehen der Völker zu verbessern … sie werden das Interesse aller berücksichtigen, …

Sie bestätigen, daß Regierungen, Institutionen, Organisationen und Personen eine relevante und positive Rolle zukommt, zur Erreichung dieser Ziele ihrer Zusammenarbeit beizutragen. Sie werden bei der Verstärkung ihrer Zusammenarbeit wie oben dargelegt, danach streben, engere Beziehungen untereinander auf einer verbesserten und dauerhafteren Grundlage zum Nutzen der Völker zu entwickeln.“

Dementsprechend haben die DDR, die Bundesrepublik Deutschland und die vier Siegermächte des zweiten Weltkrieges in ihrem Zwei-plus-vier-Vertrag zur abschließenden Regelung in Bezug auf Deutschland und damit zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten vereinbart, auf eine Friedensordnung hinzuwirken, die „die Sicherheitsinteressen eines jeden“ berücksichtigt, wie es in der Präambel des Vertrages heißt.

Passend dazu vereinbarten die Staaten Europas ebenfalls im Jahr 1990 in der Charta von Paris:

„Zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer, umweltbezogener, kultureller und humanitärer Probleme haben wir die feste Absicht, den politischen Konsultationsprozess zu verstärken und die Zusammenarbeit zu erweitern. Diese gemeinsame Entschlossenheit und die wachsende gegenseitige Abhängigkeit werden dazu beitragen, das jahrzehntelange Misstrauen zu überwinden, die Stabilität zu festigen und ein geeintes Europa aufzubauen.“

Auch die NATO-Russland-Grundakte erlegt den beteiligten Staaten die Aufgaben auf, die sich aus der Konzeption der gemeinsamen Sicherheit ergeben:

Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Sicherheit aller Staaten in der euro-atlantischen Gemeinschaft unteilbar ist, werden die NATO und Russland zusammenarbeiten, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass in Europa gemeinsame und umfassende Sicherheit auf der Grundlage des Bekenntnisses zu gemeinsamen Werten, Verpflichtungen und Verhaltensnormen im Interesse aller Staaten geschaffen wird.

Die NATO und Russland werden zur Stärkung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beitragen, darunter auch zur Weiterentwicklung ihrer Rolle als eines der Hauptinstrumente für präventive Diplomatie, Konfliktverhütung, Krisenbewältigung, Normalisierungsmaßnahmen nach einem Konflikt und regionale Sicherheitszusammenarbeit, und die Verbesserung ihrer operationellen Fähigkeiten zur Durchführung dieser Aufgaben unterstützen. Der OSZE als einziger gesamteuropäischer Sicherheitsorganisation kommt eine Schlüsselrolle für Frieden und Stabilität in Europa zu. Im Zuge der Stärkung der OSZE werden die NATO und Russland zusammenarbeiten, um jede Möglichkeit einer Rückkehr zu einem Europa der Spaltung und Konfrontation oder der Isolierung irgendeines Staates auszuschließen.“

Als letztes Dokument mit Bezug auf die Konzeption der gegenseitigen Sicherheit entstand 1999 die Europäische Sicherheitscharta, in der es heißt:

„Wir sind übereingekommen,

  • die Plattform für kooperative Sicherheit zu verabschieden, um die Zusammenarbeit zwischen der OSZE und anderen internationalen Organisationen und Institutionen zu stärken und auf diese Weise die Ressourcen der internationalen Gemeinschaft besser zu nutzen;
  • die Rolle der OSZE in der Friedenserhaltung auszubauen und damit den umfassenden Sicherheitsbegriff der Organisation deutlicher zu machen…“

Dies stellt den Rahmen dafür dar, dass die Staaten übereingekommen sind, dass jeder Staat das souveräne Recht hat, „seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern. Jeder Staat hat auch das Recht auf Neutralität.“ Die NATO greift sich alleine diese Stelle aus den internationalen Verträgen heraus, um ihre NATO-Ost-Expansion und die Militarisierung in den Teilnehmerstaaten als rechtlich abgesichert darzustellen; sie übergeht dabei die Basis, in deren Zusammenhang dieser Satz steht.

Als die USA nuklearfähige Abwehrraketen-Systeme, die leicht in Offensivwaffen umzurüsten sind, nach der von den USA 2002 vorgenommenen einseitigen Kündigung des ABM-Vertrags in Polen und Rumänien – wie es offiziell hieß – ‚gegen den Iran‘ aufstellte, brach die NATO die europäische Friedensordnung erneut, diesmal direkt militärisch. Natürlich hat Russland diese Systeme als eigene Bedrohung wahrgenommen, und die Iran-Rechtfertigung änderte das nicht. Diese Systeme sind in besonderem Maße destabilisierend, da sie im Offensivfall wegen ihrer extrem kurzen Flugzeit auch bis zu möglichen militärischen Zielen in Russland der jeweiligen Gegenseite nur wenige Minuten Zeit lassen, über militärische Reaktionen zu entscheiden. Sie machen den Atomkrieg aus Versehen entsprechend wahrscheinlicher, führen die Menschheit also näher an den Rand des Abgrunds.

Genau dies war ein zentraler Grund für den Aufstieg der Friedensbewegung in der Zeit, als sie gegen die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa vorging: Zwar besaß auch Russland, wie Frankreich und Großbritannien, solche Waffensysteme, aber vor allem in der Enthauptungsschlagwaffe ‚Pershing II‘ sahen die Friedenskräfte eine nicht zu verantwortende Gefahr:

„Die Pershing II … hat Anflugzeiten … zwischen 4 und 6 Minuten… . Dieses Waffensystem zwingt ein Land, zu dessen Bedrohung es installiert wird, eine sozusagen automatische Reaktion auf. … Wird auf den entsprechenden Radarschirmen der Start einer ‚Pershing‘ sichtbar, zwingt dies die verantwortlichen Militärs der Gegenseite dazu, unverzüglich den Startbefehl zum Vergeltungsschlag zu geben. Neben der Gefahr eines bewusst ausgelösten Atomkriegs wächst auch die eines nuklearen Infernos durch simples technisches Versagen oder menschliches Fehlverhalten in einer Gefahrensituation mit einem Zeitdruck, der keinen Raum mehr für eine umfassende Überprüfung der Datenlage bietet.“ (Zitat: G. Kade, in: Sagt Nein!, Blätter für Deutsche und internationale Politik 9/1983, Köln, S. 1219).

Diese Gefahr steht mit NATO-Arsenalen in Minuten-Entfernung zur russischen Westgrenze wie einst erneut im Raum.

Die NATO führte dieses Risiko sehenden Auges herbei. Im Herbst 2014 schrieb die NATO-Strategieschmiede JAPCC in ihrem Tagungsmaterial „Future Vector“, die Annahme, es gäbe keinen großen Krieg mehr in Europa, sei anzuzweifeln; als mögliche Ausgangspunkte für dieses Inferno machten die Militärs Staaten vor der russischen Westgrenze aus (S.141). die Antwort der Militärs war ein ‚angemessener‘ (appropriate) Mix nuklearer und konventioneller Arsenale (S. 70).

Seither haben allein die USA die Ukraine mit Milliarden Dollar aufgerüstet und die Spannungen weiter geschürt; dazu hat auch der ehemalige US-Präsident Trump beigetragen. Vor seinem Amtsantritt fand die bereits erwähnte Entsendung von NATO-Nuklear-Experten zur Beratung der nach der Absetzung von Janukowitsch pro-westlichen Kiewer Regierung statt.

Die Scheinheiligkeit der NATO-Propaganda mit ihren doppelten Standards und Halbwahrheiten spitzt sich darin zu, dass sie korrekterweise Russland Desinformation vorwirft, wenn von dort Kriegsverbrechen in Abrede gestellt werden. Allerdings hat die NATO mit Desinformation eine reichhaltige Erfahrung, wie wir in ihrem Umgang mit dem internationalen Recht und der Zerstörung des Europäischen Hauses mit einer gemeinsamen Sicherheit von Lissabon bis zum Ural oder gar bis Wladiwostok gesehen haben.

Was US-Außenminister Baker und der Deutsche Außenminister dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow 1990 versprachen, nämlich dass sich die NATO keinen Zentimeter nach Osten ausdehnt, mündete in den hier erwähnten Texten zur europäischen Friedensordnung ab 1990. Dazu schrieb Michail Gorbatschow 2019: Das „gegenseitige Vertrauen, das mit dem Ende des Kalten Krieges gewachsen war, wurde dann einige Jahre später schwer erschüttert – durch die Entscheidung der NATO, sich nach Osten auszudehnen. Und Russland konnte darauf keine Antwort finden.“ (Was jetzt auf dem Spiel steht, München, S. 14)

Das auch im Westen von Diplomaten wie J. Matlock, Geheimdienst-Experten wie Ex-CIA-Chef Burns, Führungspolitikern wie Ex-US-Verteidigungsminister Gates oder dem Strategen des Kalten Krieges George F. Kennan befürchtete Eskalationsrisiko bis hin zu einem Krieg ging die NATO sehenden Auges ein.

Dies zu konstatieren stellt – wie bereits dargelegt – keine Parteinahme für die Invasion Russlands in die Ukraine dar, sie beweist allerdings, wie gefährlich die Schwarz-Weiß-Propaganda der NATO und der sie unterstützenden Kräfte am Rande des nuklearen Abgrunds ist. Ein dritter Weltkrieg wäre der letzte.

Ein erster Schritt für die Zeit vor dem nächsten NATO-Gipfel in Vilnius Mitte Juni könnte ein solcher breit getragener Appell sein:

„Wir fordern die Bundesregierung auf, den Zwei-plus-vier-Vertrag zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten einzuhalten, auf eine Friedensordnung der gegenseitigen und dadurch gemeinsamen Sicherheit in Europa hinzuwirken, die ‚die Sicherheitsinteressen eines jeden‘ berücksichtigt, die mit Rüstungskontrolle und Abrüstung in eine zukunftsfähige Zeitenwende mündet. Die NATO-Expansion in Osteuropa bricht mit internationalen Verträgen, und die Bundesregierung darf dies nicht weiter unterstützen.“

Titelbild: Alisusha / Shutterstock

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