„Die Nationale Sicherheitsstrategie ist eine Unsicherheitsstrategie“ – Stellungnahme von Reiner Braun im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags

„Die Nationale Sicherheitsstrategie ist eine Unsicherheitsstrategie“ – Stellungnahme von Reiner Braun im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags

„Die Nationale Sicherheitsstrategie ist eine Unsicherheitsstrategie“ – Stellungnahme von Reiner Braun im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags

Ein Artikel von: Redaktion

Am 19. Juni gab es eine Experten-Anhörung im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages zur „Nationalen Sicherheitsstrategie“. Einer der geladenen Experten war Reiner Braun, langjähriger Präsident des International Peace Büros (IPB) und ehemaliger Geschäftsführer der IALANA (International Association of Lawyers against Nuclear Arms). Die NachDenkSeiten dokumentieren seinen Eingangsvortrag im Wortlaut. Von Redaktion.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die „Nationale Sicherheitsstrategie“ ist das Gegenteil von dem, was sie vorgibt zu sein. Es ist eine Unsicherheitsstrategie. Trotz versöhnlich klingender Sprache ist der Inhalt Konfrontation, militärische Intervention, Aufrüstung und Abschreckung. Versatzstücke zusammengefügt ergeben keine logisch konsistente Strategie, sondern sind nichts anderes als der alte Wein in einem neuen Schlauch.

Sicherheit im 21. Jahrhundert heißt vor allem Friedenspolitik und die Entwicklung diplomatischer Lösungen der 55 Konflikte, die die Welt beherrschen (siehe SIPRI-Veröffentlichung vom 13.06.2023) und die tagtäglich tausenden von Menschen das Leben kosten, hunderttausende Flüchtlinge verursachen sowie Natur und Gesellschaften dauerhaft zerstören.

Sicherheit im Atomzeitalter ist durch militärische Maßnahmen, die Militarisierung von Politik und Gesellschaft, durch Abschreckung nicht möglich, sondern nur durch eine konsequente Friedenspolitik und Abrüstung. Die vorliegenden Überlegungen zur nationalen Sicherheitsstrategie sind exakt das Gegenteil und werden zu einer weiteren Intensivierung von Konflikten und Kriegen unter aktiver deutscher Beteiligung führen.

Grundlage einer Sicherheitspolitik, die Sicherheit für Mensch und Umwelt schafft, kann nur eine aktive Friedenspolitik sein, die den Auftrag des Grundgesetzes für eine aktive Friedensgestaltung ernst nimmt. Das Völkerrecht, die UN-Charta ernst zu nehmen und nicht instrumentell zu benutzen, wäre Teil einer solchen Friedenspolitik. Basis hierfür kann nur eine Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ sein, wie sie von John F. Kennedy im Juni 1963 in seiner Rede in Washington vorgestellt und von Willy Brandt, Egon Bahr und auch Walter Scheel mit der Ostpolitik der sozial-liberalen Bundesregierung weiterentwickelt wurde und seinen politischen sowie philosophischen Niederschlag im Olof-Palme-Bericht von 1982 und seiner Fortschreibung im Olof-Palme-Bericht „Our Shared Future“ im April 2022 fand.

Der Zentrale Satz in dem Bericht, der fortan Palme-Report genannt wurde, lautet: „Beide Seiten müssen Sicherheit erlangen, nicht vor dem Gegner, sondern gemeinsam mit ihm“. Denn, so Egon Bahr, ein atomarer Krieg wäre das Ende aller Dinge. Das sei der entscheidende Qualitätsunterschied, der heute unabdingbar beachtet werden müsse. Mit anderen Worten: An die Stelle von Aufrüstung und Abschreckung müssen Abrüstung und Gemeinsame Sicherheit treten. Diese Aussage gilt angesichts der Eskalationsdynamik, die u.a. im „Ukrainekrieg“ oder in den Konfliktregionen um „Taiwan“ bzw. das Chinesische Meer besteht, heute erst recht.

Wir brauchen eine neue offensive Debatte über Gemeinsame Sicherheit, gerade angesichts der Folgen des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine.

Im Jahr 1968, nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts unter der Führung der Sowjetunion, gab der damalige Bundesaußenminister Willy Brandt im Deutschen Bundestag eine Erklärung ab, dass die Bundesregierung an der „Politik der ausgestreckten Hand“ gegenüber der Sowjetunion festhalten werde. Er erklärte, der Abbau der Spannungen erfordere, „ohne Illusionen, ehrlich den Versuch zu machen, den großen Krieg zu verhindern“. Das gilt auch heute.

Nach Egon Bahr ist gemeinsame Sicherheit das notwendige Einstein‘sche Denken im Atomzeitalter. Von Albert Einstein stammt nämlich der Satz: „Die Atombombe hat die Welt verändert, aber nicht das Denken der Menschen.“ Dieser Befund gilt auch heute in einer Zeit fundamentaler geopolitischer Umwälzungen. Tatsächlich ist es jedoch schwer, umzudenken, wie die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges zeigt. Und theoretisch ist bekannt, dass die denkbare nukleare Zerstörung eine neue Dimension von Verantwortung erfordert, aber das tatsächliche Verhalten bleibt in alten Denktraditionen. Es ist verbunden mit Überlegungen zu Erstschlag, Überraschungsangriff, Führbarkeit von Kriegen, also mit dem irrsinnigen Glauben, einen Krieg gewinnen zu können.

In einer Zeit, in der die Interdependenzen, gleich ob sozial, ökologisch, wirtschaftlich oder politisch, immer enger werden und die zusammengewachsene Welt essenziell auf Gegenseitigkeit angewiesen ist, kann eine solche Denkweise zum Wegbereiter in die eigene Vernichtung werden. Friedens- und Sicherheitspolitik auch mit Russland und China muss deshalb von einem neuen Denken ausgehen, so wie der Palme-Report und seine Fortschreibung von 2022 vorgeben. Damals stand Palme mit seinen Ideen nicht allein.

In den 1980er Jahren haben die drei unabhängigen Kommissionen versucht, Politik in der globalen Welt zu beschreiben. Das war zuerst die Nord-Süd-Kommission unter der Leitung von Willy Brandt mit dem Bericht über ein „Gemeinsames Überleben“, dann der Palme-Report und schließlich der Bericht der Brundtland-Kommission „Unsere Gemeinsame Zukunft“, der die Fragen von Umwelt und Entwicklung behandelt und eine „nachhaltige Entwicklung“ in Wirtschaft und Gesellschaft vorgeschlagen hat. Diese drei Berichte müssen in einem Zusammenhang gesehen werden. Erst dann entwickeln sie ihre ganze Kraft einer Vision für eine bessere, gerechtere und friedlichere Welt.

Wäre eine Fortschreibung hiervon nicht die Herausforderung für die nationale Sicherheitsstrategie in einer Zeit tektonischer internationaler geopolitischer Verschiebungen?

Die Welt steht an einem Scheideweg. Sie steht vor der Wahl zwischen einer Existenz auf der Grundlage von Wettbewerb und Aggression oder einer Existenz, die auf einer transformativen Friedensagenda und gemeinsamer Sicherheit beruht. Die Menschheit ist mit den existenziellen Bedrohungen eines Atomkrieges, des Klimawandels und von Pandemien konfrontiert. Hinzu kommt eine toxische Mischung aus Ungleichheit, Extremismus, Nationalismus, geschlechtsspezifischer Gewalt und schrumpfenden demokratischen Handlungsspielräumen.

Es bleibt der Kerngedanke von Olof Palme, dass Nationen und Bevölkerungen sich nur sicher fühlen können, wenn sich auch ihr Gegenüber sicher fühlt. Die nationale Sicherheitsstrategie soll in einer Zeit entwickelt werden, in der es neue große Herausforderungen gibt, die die Menschheit bedrohen, ja sogar ihre Selbstvernichtung möglich machen. Es muss die Zeit sein, in der eine werteorientierte Politik neue Antworten gibt.

Danach eröffnen sich in grundsätzlichen Umbruchzeiten, in denen die Strukturen und Mechanismen, die Stabilität und Sicherheit ermöglicht haben, immer weniger funktionieren, zwei Optionen: Die eine Variante ist der Rückfall in einen permanenten Kriegszustand, aggressiven Nationalismus, die andere eine Gestaltungsvision. Das war auch so in den 1930er Jahren nach der Weltwirtschaftskrise von 1929. In Deutschland kam es, auch gefördert durch die nicht aufgearbeiteten Ursachen und Folgen des Ersten Weltkriegs, zum Faschismus und der großdeutschen Ideologie. In den USA kam es dagegen unter Präsident Franklin Delano Roosevelt zum New Deal, der zum Wohlfahrtsstaat führte. Das waren die beiden Pole, die in der Folge das Weltgeschehen bestimmten.

Entscheidend sind sowohl die politische Kultur in der Gesellschaft als auch der Gestaltungswille der Politik. Darauf kommt es auch heute an.

Von daher ist es besorgniserregend, dass auch in unserem Land die öffentliche Debatte sehr eingeschränkt ist. Sie ist immer stärker auf das Hier und Jetzt bezogen, ein Regime der kurzen Frist, auf militärische Antworten auf globale Herausforderungen. Politik erfordert jedoch, Zusammenhänge zu erkennen und sie auch historisch einzuordnen und daraus zukunftsorientierte Antworten in einer sich rasant verändernden Welt zu entwickeln. Militarisierung ist diese Antwort nicht.

Erforderlich ist – wie es auch in den Palme-Berichten heißt – eine Weltinnenpolitik, die weit über die Fragen der militärischen Sicherheit hinausgeht. Dazu gehört auch, die Zusammenhänge zur ungelösten Klimafrage zu sehen, die ihrerseits ebenfalls zu einer massiven Verschlechterung der internationalen Beziehungen führen kann. Nicht von ungefähr wird von der Gefahr eines Klimakriegs gesprochen, denn die zunehmenden Wetterextreme werden, wenn das Ruder nicht schnell herumgerissen wird, erbitterte Verteilungskämpfe auslösen.

Eine wirkliche Sicherheitsstrategie erfordert von daher auch eine soziale und ökologische Weltinnenpolitik – erfordert Friedenslogik, um es in einem Begriff zu formulieren, der einmal zentral für die Friedens- und Konfliktforschung war.

Den Grundgedanken einer Politik der Gemeinsamen Sicherheit folgend sind heute folgende Anforderungen zu formulieren:

  1. Stärkung der globalen Architektur des Friedens: Von der Wiederaufnahme der Gespräche zur Rüstungskontrolle und Abrüstung bis zur Stärkung bestehender und Einrichtung neuer regionaler Bündnisse für Frieden und Sicherheit wie der OSZE. Dies beinhaltet auch eigene deutsche und europäische Initiativen zu Waffenstillstand und Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges.
  2. Abrüstung und Entwicklung: Einberufung einer UN-Sondervollversammlung zu Friedensfragen. Abrüstung zugunsten einer Friedensdividende. Stärkung des internationalen Rechts für Abrüstung, Rüstungskontrolle und gegen Rüstungsexporte.
  3. Wiederbelebung der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung: Wiedereinführung und Stärkung des INF-Vertrages für landgestützte Waffensysteme. Unterzeichnung des Vertrages zum Verbot von Kernwaffen (TPNW) bis zur Einrichtung atomwaffenfreier Zonen und politische Initiativen für das Inkrafttreten des weltweiten Teststoppverbotsvertrages.
  4. Kontrolle und Begrenzung neuer Militärtechnologien und Weltraumwaffen: Verbot von Cyberangriffen auf nukleare Kontrollzentren, ebenso Verbot autonomer Waffensysteme bis zur Begrenzung von Hyperschallraketen.

Diese Debatte darf nicht nur unter Politikern und Militärs geführt werden, sie ist vor allem eine Herausforderung an die Gesellschaften.

Titelbild: Quelle bmvg.de