Weihnachtsempfehlung: Verschenken Sie die politischen Memoiren Gerhard Schröders „Entscheidungen, Mein Leben in der Politik“ lieber nicht.

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Ich habe mir die 516 schmal bedruckten Seiten angetan: Ein so „dünnes“ Buch habe ich seit langem nicht mehr gelesen. Mit einer nicht enden wollenden Aneinanderreihung der von Schröder nachgeplapperten Leerformeln von der „Globalisierung“ oder der „demografischen Entwicklung“ wird in penetranter Selbstgerechtigkeit die Politik der rot-grünen Bundesregierung als ein „notwendiges“ „umfassendes reformerisches Programm“ zelebriert. Schröder hat es gefallen, dass ihn Erhard Eppler als „political animal“ bezeichnet hat, vielleicht hat Eppler dabei eher an das Gehabe eines Alpha-Männchens auf dem Affenfelsen gedacht. Wolfgang Lieb.

Ich habe den Wälzer – bis auf das sattsam bekannte und anbiedernde Kapitel vom Aufstieg aus einfachen Verhältnissen – deshalb so gründlich gelesen, weil ich mir wenigstens ein paar analytische Einschätzungen oder eine halbwegs plausible Diagnose der „dramatischen Neuordnung der Welt“ erhofft hatte, aus der Schröder seine „unabweisbaren“, „objektiven“, „notwendigen“ oder „erzwungenen“ „Reformen“ abgeleitet hätte. Aber nichts davon, stattdessen muss man auf hunderten Seiten den von Schröder übernommenen „Reformsprech“ über sich ergehen lassen: „Es ließ sich … nicht voraussehen, was sich seit dem Wahltag im Oktober 1998 an Veränderung und dramatischer Neuordnung herauszuschälen begann“(S.83). „Wir mussten … nachholen, was in den neunziger Jahren von den Konservativen versäumt worden war“ (S.84). Schröder übernimmt den Kampfbegriff vom „Reformstau“ (S.85), er redet von einer „sich dynamisch wandelnden Welt“ (S.86), er sagt „der demografische Wandel (war uns) nicht oder nicht ausreichend präsent“ (S.86). Er fabuliert über „die durch die Globalisierung wirksame nationale Entgrenzung der Ökonomie“ (S. 87), spricht über „die neuen weltökonomischen Bedingungen“ (S.89) und „weltwirtschaftlichen Abläufe“ (S.90).Er nennt das, „epochale Veränderungen“ (S. 180), und sieht sich als Kanzler „inmitten eines Zeitenwechsels, der viele Gewissheiten und viele Hoffnungen verblassen lässt“ (S. 235). Die Riesterrente sei „wegen der demografischen Entwicklung notwendig“ (S. 266). Er hätte „eine angemessene Antwort auf die beiden großen Herausforderungen der Zeit – demografischer Wandel und Globalisierung“ (S. 275) finden und „verkrustete Strukturen unseres Landes“ aufbrechen müssen (S. 285). Ein „Veränderungsmarathon“ (S. 285) sei ihm abverlangt worden. „Die Zeit war reif“ (S. 390) die Politik den „Bedingungen des neuen Jahrhunderts“ anzupassen (S.499), schließlich lebe man in einer „Welt, die sich ökonomisch, sozial und kulturell rasant verändert (S 513)…
Mit solchen oder ähnlichen Leerformeln (auf Wiederholungen habe ich verzichtet und irgendwann verliert man auch die Lust die hohlen Phrasen herauszuschreiben) begründet der Altkanzler mit sich immer wiederholenden Wendungen seine „Entscheidungen“.

An kaum einer Stelle wird auch nur mit einem ergänzenden Halbsatz ausgeführt, was so neu ist, was sich gewandelt hat oder was die neuen Herausforderungen waren, die die „unabweisbaren Veränderungen erzwangen“ (S.388), woraus im Einzelnen die „Reformnotwendigkeit“ (S. 275) oder die „aktuellen Erfordernisse“ (S. 515) oder der Zwang zu einem „umfassenden reformerischen Programm“ (S.266) erwuchs oder woraus sich das „Reformprogramm“ ableitete, das „wir anzupacken hatten (S. 386), das „staatspolitische ohne Alternative“ (S. 489) war, einer „historischen Pflicht“, ja sogar einer „historischen Mission“ (S. 423) geschuldet und darüber hinaus „notwendig für das Überleben der SPD“ (S. 489) war.
„Unsere gesamte Politik der Reformen und der Erneuerung war ein Reflex auf diese globale Herausforderung“, mit diesem trivialen Satz lässt sich Schröders Buch zusammenfassen.

Seien Sie versichert, sie finden im gesamten Buch keinerlei Beschreibung, noch weniger eine Analyse der ökonomischen oder politischen Situation, geschweige denn, dass etwa die Arbeitsmarkt-, Steuer-, Renten- oder die sonstigen Agendareformen daraus auch nur andeutungsweise nachvollziehbar abgeleitet worden wären. Sie waren für Schröder schlicht „objektiv notwendig“.

Das Höchstmaß an analytischer Aussagekraft, enthält noch folgender Absatz:
„ Die oberflächlich als Sieg des Kapitalismus missverstandene Überwindung des Ost-West-Gegensatzes führte zu einer ungeahnten Entfesselung des kapitalistischen Systems. Der Wegfall der Systemkonkurrenz und, an ihrer Stelle, die Globalisierung als Konkurrenzkampf international agierender Unternehmen sowie verschärfter Wettbewerb zwischen ganzen Volkswirtschaften haben dem „Rheinischen Kapitalismus“ die Basis entzogen. So gesehen waren die gesamten sieben Jahre rot-grüner Regierung ein Nachholen dessen, was uns zu Beginn unserer Arbeit nicht zur Verfügung stand – ein umfassendes reformerisches Programm.“ (S. 262)

Auf diesen Höhenflügen der „Entgrenzung“ der Ökonomie, da spielen natürlich eine reale Rezession, ein Crash des Aktienmarktes, das Platzen der Blase der „New Economy“, die Aufwertung des Euros, die Zinspolitik der Bundesbank oder der Europäischen Zentralbank oder die falsche Finanzierung der deutschen Einheit oder die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ganz allgemein keine Rolle mehr. Schröder hat es an kaum einer Stelle für nötig empfunden, seinen „Entscheidungen“ in einen realen Bezug zur ökonomischen Basis zu bringen.
Und wo ein solcher Bezug angedeutet wurde, da wird die Logik auf den Kopf gestellt: Da war es nicht etwa die Rezession, sondern da „produziert mangelhafte Ausbildung einige zehntausende künftige Arbeitslose“ (S.299).
Oder: „Da sich die Struktur unserer Sozialsysteme seit fünfzig Jahren nicht verändert hatte, waren der Umbau des Sozialstaats und seine Erneuerung unabweisbar geworden.“ (S. 392) „Durch den demografischen Wandel unserer Gesellschaft haben sich die Ausgaben kontinuierlich erhöht“ (S. 396). Als ob es in der Regierungszeit Schröders je eine „Überalterung“ gegeben hätte, also ob es nicht umgekehrt so wäre, dass die Generation der Baby-Boomer im erwerbsfähigen Alter ist, dass die Jungen zu wenig Ausbildungsplätze, die Studierenden in Praktika und die heutigen Arbeitnehmer auf der Straße landeten. Es war also nicht die Arbeitslosigkeit und die Rezession oder die falsche Finanzierung der Einheit, aus denen die Liquiditätsengpässe der Sozialkassen resultierten, nein, nach Schröder waren die Sozialsysteme schuld.

Schröder lobt sich als „Pragmatiker“. Darunter versteht man ja landläufig Menschen die von den Realitäten ausgehen und ihre Handlungsweisen nicht an einem politischen Programm, sondern an der Sache orientieren. In seinem ganzen Buch kommt jedoch leider kaum ein empirisches Faktum vor. Er orientiert seine Politik vielmehr an Leerformeln, als an der Sache. Er hat keinerlei kritische Distanz zu den von ihm ständig wiederholten Parolen und ist sich wohl bis heute der Ideologiebehaftetheit seiner Sprache und der Begründungen für seine Politik noch nicht einmal bewusst.

Dass bei solcherlei Sprücheklopferei ein „Vermittlungs-„ oder „das kommunikative Problem“ (S. 408) entstehen musste und dass die „meisten Spitzenfunktionär der SPD“ nur „widerwillig“ bereit waren, dem Bundeskanzler zu folgen und „nicht davon überzeugt (waren), dass seine Politik inhaltlich richtig war“ (S. 407), das wundert Schröder offenbar noch heute.

Dass Schröder gescheitert ist, und dass er nicht mehr Kanzler ist, daran sind natürlich alle anderen schuld nur nicht er selbst.
Oskar Lafontaines Rücktritt resultierte nach Schröders schlicht gestrickter Psychologie aus dessen „Verantwortungsscheu“ (S. 123) (Wer war eigentlich länger in einem Amt?) und dessen „Neigung zur Opposition“ und bestenfalls aus „der von dem Attentat herrührenden Furcht, sich erneut zu exponieren.“
Dass Schröder nahezu die gesamte Programmatik der SPD über Bord geworfen hat, für die er im Wahlkampf 1998 gewählt worden ist, wird mit keinem Wort erwähnt. Von den permanenten und üblen Hombachschen Intrigen aus dem Kanzleramt keine Spur.

Da waren die Gewerkschaften als „die wichtigsten gesellschaftlichen Mitspieler bei den Bemühungen, das tief greifende Reformprogramm, das wir anzupacken hatten,…vom Feld gegangen. Für eine sachliche Auseinandersetzug blieb kein Raum mehr; eine gesellschaftliche Konsolidierung (!) der Reformagenda war damit obsolet geworden“ (S. 386). Schröder musste also wie ein Junta-General aus „staatspolitischer Verantwortung“ wohl oder übel die Agenda gegen die Gesellschaft durchsetzen!
„Dem IG-Metall-Vorsitzenden Jürgen Peters und dem ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske ging es nicht mehr nur um Änderungen an Details der Agenda 2010, vielmehr wollten sie das Reformprogramm als solches und damit mich als Bundeskanzler zu Fall bringen“ (S. 415). Das musste natürlich mit allen Mitteln verhindert werden und deshalb Schröders Motto: „Wer hören wollte, konnte wohl hören. Und wer nicht gehört hat, der wollte nicht.“ (S. 392). So einfach war das bei unserem ehemaligen Basta-Kanzler.

Es war nicht der Agenda-Kurs, nein, es war „die Strategie relevanter Teile der SPD-Linken“ die dazu beitrug, „dass eine neue Linkspartei entstehen konnte.“ (S. 408). Selbst die Wahlerfolge der NPD war nach Schröders Lesart eine „Saat der Hartz-IV-Proteste“ der Gewerkschaften.
Niemals darf der immer „vehementer“ vertretene Kurs unseres Altkanzlers, Anlass und Ursache für Kritik sein, sondern uneinsichtig waren immer nur andere.

Schröder bestätigt voll und ganz, was wir auf den NachDenkSeiten hinlänglich oft beschrieben haben: Alle seine – wie er selbst sagt – „Überraschungseffekte“ (S.410), von der Abgabe des Parteivorsitzenden der SPD an Franz Müntefering bis zur Entscheidung für Neuwahlen dienten nur einem Ziel, den Druck aus der SPD auf einen Kurswechsel nach den „verheerenden Wahlniederlagen“ (S. 412) abzufangen, denn Schröder war besessen von seiner historische Mission, dass sich „der Inhalt der Politik sich aus objektiven Gründen“ nicht ändern durfte (S. 409). Denn „ein Scheitern hätte unsere (!) Politik der Reformen über Jahre diskreditiert und die Möglichkeiten verbaut, grundlegende Veränderungen in unserem Sozialstaat vorzunehmen“. (S.415)
Klarer kann man die Funktion Schröders eigentlich nicht beschreiben.

„Die Serie er Niederlagen bei den vorangegangenen Landtagswahlen, der Verlust der Unterstützung in den eigenen Reihen, gepaart mit der geschürten Abneigung der Bürger gegen unserer Reformpolitik, hatten mich zu Neuwahlen im Bund bewogen. Ich bleibe dabei – es war eine staatspolitisch notwendige Entscheidung“ (S. 487), schmiedet Schröder seine Geschichtslegende – und nicht nur wegen des Geldes, sondern vor allem deshalb hat Schröder dieses Buch geschrieben.

Dass das Wahlergebnis zu einer Großen Koalition „zwang“, ist für Schröder eine „tief empfundene Genugtuung“ (S. 504). Die Aufgabe der SPD sei es nun: „Der Kurs der Agenda 2010 muss verteidigt und konsequent umgesetzt werden“ (S. 505).

Dazu habe ich schon am 1. Juli 2005 auf den NachDenkSeiten geschrieben:
„Ich bleibe dabei, mit dem „Befreiungsschlag“ Neuwahlen, kann Schröder allenfalls einen ihm wohl schmählich erscheinenden Rücktritt oder einen seinen Stolz offenbar noch mehr kränkenden Kurswechsel weg von seinem „in der Geschichte der Bundesrepublik einmaligen“ Reformprozess vermeiden. Diese „Befreiung“ von einer persönlichen Niederlage geht aber auf Kosten vieler Menschen, die unter einer solchen Reformpolitik, unter ihrer Ungerechtigkeit und vor allem unter ihrer Erfolglosigkeit leiden. Schröders Abstimmungssieg geht natürlich auch zu Lasten „seiner“ Partei, die er absehbar in eine ihrer schlimmsten Wahlniederlagen in der Nachkriegsgeschichte führt. Und weil sich ins kollektive Gedächtnis eingraben wird, dass die SPD es war, die freiwillig das Tor für die neokonservative Machtübernahme aufgestoßen hat, dürfte sie sich davon über lange Jahre nicht mehr erholen.“
Die Lektüre des Buches von Gerhard Schröder das Wahlergebnis und die jüngsten Umfragen bestätigen meine damalige Prognose.

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