Die aktuellen Anerkennungen Palästinas – Symbolpolitik oder Wendepunkt?

Die aktuellen Anerkennungen Palästinas – Symbolpolitik oder Wendepunkt?

Die aktuellen Anerkennungen Palästinas – Symbolpolitik oder Wendepunkt?

Maike Gosch
Ein Artikel von: Maike Gosch

Am Wochenende haben Großbritannien, Kanada, Australien und Portugal Palästina als Staat völkerrechtlich anerkannt. Am Montag folgten Frankreich, Belgien[*], Luxemburg, Malta, Andorra, San Marino und Monaco während der Sitzung der Vereinten Nationen in New York. Damit folgen sie Spanien, Irland, Norwegen, Slowenien und Armenien, die dies 2024 getan hatten. Während die israelische Regierung empört auf diese Schritte reagiert, zeigen sich viele pro-palästinensische Kommentatoren enttäuscht von etwas, das sie als reine Symbolpolitik bezeichnen, und fordern konkretere und praktischere Schritte, um Israels kriegsverbrecherisches Vorgehen in Gaza und dem Westjordanland zu beenden. Was ist die Bedeutung dieser neuesten Entwicklung für die Palästinenser, und was wird Deutschland tun? Ein Artikel von Maike Gosch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Auch vorher waren es schon mehr als drei Viertel der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, die Palästina als unabhängigen Staat anerkannt haben – bis zu diesem Wochenende waren es 147 von 193 Mitgliedstaaten, jetzt sind es bereits 156 von 193 (Stand 23. September). Aber mit Großbritannien, Frankreich und Kanada erkennen zum ersten Mal mächtige westliche G7-Nationen einen palästinensischen Staat an. Und nach der jüngsten Entwicklung sind vier der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates dabei (Russland, China, Frankreich, Vereinigtes Königreich). Nur die USA verweigern sich weiterhin.

Deutschland steht mit seiner Position zunehmend alleine da. Bundesaußenminister Wadephul kritisiert in seiner Reaktion zwar die israelische Vorgehensweise im Gazastreifen, erklärte aber gleichzeitig vor der UN-Debatte, dass die Anerkennung eines palästinensischen Staates für Deutschland erst am Ende des Friedensprozesses stehe. Von welchem Friedensprozess er da spricht, ist nicht unmittelbar erkennbar.

Was ist die Bedeutung der Anerkennung?

In dem NachDenkSeiten-Artikel „Stimmen aus Palästina: Kann Diplomatie den Völkermord stoppen? Der Westen und die Anerkennung des palästinensischen Staates“ vom 11. September 2025 haben bereits fünf palästinensische Analystinnen und Analysten ausführlich Hintergründe und Erwägungen hierzu geteilt. Hier folgen einige aktuelle und juristische Ergänzungen:

Benjamin Netanjahu verurteilte die Anerkennungen als „Belohnungen für Terrorismus“, kündigte an, dass es keinen palästinensischen Staat geben werde und drohte den anerkennenden Staaten mit Konsequenzen nach seiner Rückkehr aus den USA, wo er sich zurzeit auf Staatsbesuch befindet. Interessanterweise erklärte er in derselben Stellungnahme noch, dass er seit Jahren gegen erheblichen Widerstand gegen die Etablierung eines solchen Staates gearbeitet habe – was zeigt, dass Israel nie zu einer Zweistaatenlösung bereit gewesen ist.

Die Reaktionen auf diese Welle der Anerkennungen auf der Seite der Befürworter eines palästinensischen Staates waren weniger freudig als skeptisch. Viele befürchten, dass es sich hierbei eher um Augenwischerei und Symbolpolitik handele. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Regierungschefs mit ihren Entscheidungen zumindest auch auf den „Druck von der Straße“ durch die teils massiven Proteste ihrer Bevölkerung reagieren.

Zunächst einmal nützt die Anerkennung den Palästinensern praktisch wenig. Am selben Tag, an dem die Anerkennung durch Großbritannien, Kanada, Australien und Portugal bekannt gegeben wurde, wurden mindestens 55 Palästinenser bei israelischen Angriffen auf Gaza getötet – ebenso wie an jedem Tag seit ca. zwei Jahren. Israel zerstört weiter Menschen und Gebäude in Gaza City mit tödlicher Konsequenz. Gaza City wäre aber vermutlich eines der politischen und gesellschaftlichen Zentren eines zukünftigen palästinensischen Staats. Kommentatoren sprachen daher auch von der „Anerkennung eines Phantoms“. Während Teile der internationalen Gemeinschaft eine juristische Entität anerkennen, werden das tatsächliche Land und das tatsächliche Staatsvolk immer weiter zerstört.

Auch im Westjordanland ist inzwischen jede Stadt von Siedler-Milizen, dem Militär und Straßensperren umringt, sodass sie effektiv zu Gefängnisarealen unter freiem Himmel geworden sind. Über 1.000 Menschen sind dort in letzter Zeit durch israelische Siedler und das israelische Militär getötet worden. Das Knesset-Mitglied Gila Gamliel (Likud) erklärte das Ziel der israelischen Politik so:

„Wir werden Gaza für Menschen unbewohnbar machen, bis die Bevölkerung das Gebiet verlässt, und dann werden wir dasselbe mit dem Westjordanland tun.“

Es ist schwer, darin nicht den Plan einer vollständigen Vertreibung des palästinensischen Volkes und damit einer ethnischen Säuberung zu sehen. Zwei israelische Minister der Regierungskoalition, Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, forderten nach der Anerkennung eines palästinensischen Staates durch Großbritannien, Kanada und Australien die Annexion des von Israel besetzten Westjordanlands.

Handelt es sich bei der Anerkennung Palästinas also um reine Symbolpolitik, die ergriffen wurde, um die immer aufgebrachtere Bevölkerung zu beruhigen, und in gewisser Weise das „mildeste Mittel“ darstellt im Gegensatz zu Sanktionen, der Einstellung von Waffenlieferungen oder auch einer effektiven Strafverfolgung israelischer Verantwortlicher für den Völkermord und die anderen im Gazastreifen und im Westjordanland täglich begangenen Verbrechen? Oder hat die Anerkennung tatsächlichen Nutzen für die Palästinenser?

Die völkerrechtlichen Wirkungen einer Anerkennung Palästinas als Staat sind überschaubar. Die Eigenschaft als Staat hängt nicht von der Anerkennung durch andere Staaten ab. Deshalb ergibt sich die Staatlichkeit Palästinas auf der völkerrechtlichen Ebene jedenfalls nicht allein aus der möglichst hohen Zahl an Anerkennungen. Gleichwohl sind die Anerkennungen von Bedeutung:

Palästina kann sich nach der Anerkennung gegenüber den anerkennenden Staaten auf alle Rechte und Pflichten souveräner Staaten berufen, wie auf diplomatische Immunitäten und das Recht auf Teilnahme an internationalen Organisationen, ebenso die Aufnahme formellerer diplomatischer Beziehungen zu den anerkennenden Staaten.

Palästina kann sich jetzt gegenüber den anerkennenden Staaten auch noch wirksamer auf das Selbstverteidigungsrecht (Art. 51 UN-Charta) berufen, was in Bezug auf die rechtliche Einordnung der kriegerischen Handlungen gegen Israel relevant werden könnte.

Wenn Palästina als Staat anerkannt ist, ist der aktuelle Krieg Israels gegen Gaza und die militärische Besatzung des Westjordanlands formal als Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat einzustufen. Nach dem Völkerstrafrecht (z.B. Verbot von Aggressionsverbrechen nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs) und dem nationalem Recht vieler Staaten (auch Deutschlands) kann die Teilnahme eigener Staatsbürger an solchen Streitkräften strafbar sein. Das ist vielleicht auch einer der vielen Gründe, warum Deutschland hier so auffällig zögert. Auch der britische Foreign Enlistment Act (1870) untersagt es britischen Staatsbürgern, in den Streitkräften einer Macht zu dienen, die Krieg gegen einen Staat führt, mit dem das Vereinigte Königreich befreundet oder zu dem es neutral ist. Solange Palästina nicht anerkannt war, griff das Argument nicht. Mit der Anerkennung könnte London den Dienst britischer Bürger in der israelischen Armee als strafbare Handlung verfolgen.

Anerkennende Staaten müssten nach Art. 2 (4) UN-Charta jetzt auch die territoriale Integrität Palästinas achten. Daraus folgt, dass sie keine Unterstützung für israelische Angriffe oder Besatzungshandlungen auf dem Territorium Palästinas leisten dürften. Praktisch heißt das: Waffenlieferungen an Israel könnten völkerrechtlich als Beihilfe zu einem Angriffskrieg (nicht nur zu Kriegsverbrechen wie bisher schon) gewertet werden.

Anerkennende Staaten sind weiter nach internationalem Recht verpflichtet, Annexionen nicht anzuerkennen und keine wirtschaftliche Unterstützung für illegale Siedlungen zu leisten. Dadurch wäre es dann verboten, z.B. Güter aus den illegal durch Israel besetzten Gebieten einzuführen. Das ist zwar schon jetzt rechtlich problematisch, aber nach der Anerkennung sind es nicht mehr nur „illegal besetzte Gebiete“, sondern „illegal besetztes palästinensisches Staatsgebiet“, sodass die Rechtslage noch eindeutiger ist. Auch Banken und Unternehmen, die in Siedlungen investieren oder dort tätig sind, könnten nun in den anerkennenden Staaten wegen Beihilfe zur völkerrechtswidrigen Annexion verklagt werden. Mit jeder weiteren Anerkennung durch europäische Staaten wird es also rechtlich und politisch schwieriger, Israels Handeln als „innere Sicherheitsmaßnahme“ oder „Anti-Terror-Einsatz“ darzustellen. Stattdessen wird es klarer als Angriffskrieg, Besatzung und mögliche Völkermordhandlung gegen einen anerkannten Nachbarstaat gesehen – mit Folgen für die rechtliche und politische Einschätzung zu Waffenexporten, Handel und die Strafverfolgung nach internationalem Recht.

Die Anerkennungen haben aber auch einen starken symbolischen Wert: Sie verstärken das Gefühl, an einem Wende- oder Kipppunkt zu stehen, was die internationale Beurteilung des Konfliktes angeht. Es scheint ein Dominoeffekt in Gang zu kommen: Je mehr Staaten Palästina anerkennen, desto schwieriger wird es für die restlichen (z.B. Deutschland, Italien, Niederlande), die alte Linie aufrechtzuerhalten. Wenn die Mehrzahl der EU-Staaten Palästina anerkennt, könnte Israel perspektivisch in einer ähnlichen Lage sein wie Apartheid-Südafrika in den 1980ern, in denen sich dessen internationale Isolation, die Boykotte und internationale Sanktionen häuften.

Deutschland und die EU

Es wird oft von europäischen Politikern und Kommentatoren vorgebracht oder angedeutet, dass die EU wenig Einfluss auf Israels Verhalten hat und es letztlich nur auf die Position der US-amerikanischen Regierung ankommt, die bisher keinerlei Anzeichen macht, Israel in irgendeiner Weise auf den rechten Weg zurück zu bringen. Dies stellt aber die Bedeutung der EU und auch Deutschlands in Bezug auf Israel falsch dar.

Denn die EU, und hier insbesondere Deutschland, haben deutlich mehr Hebel, als viele Politiker gern zugeben. Sie ist Israels wichtigster Handelspartner, der Warenhandel (2024) lag bei rund 42,6 Milliarden Euro (Exporte der EU nach Israel rund 26,7 Milliarden, Importe aus Israel rund 15,9 Milliarden). Das macht die EU zu einem wirtschaftlichen Machtfaktor, dessen Maßnahmen Israel spürbar treffen würden. Sie ist zudem Israels zentrale Forschungspartnerin, wichtige Quelle für Investitionen und ein bedeutender Markt für Technologie und Dienstleistungen. Auch der Waffenhandel mit Israel ist ein wichtiger Hebel.

Aber diese Mittel werden bislang auf EU-Ebene noch sehr zögerlich und nur teilweise ergriffen, obwohl sie wesentlich effektiver wären als eine formal-juristische Anerkennung. Wie lange Deutschland dem internationalen und innenpolitischen Druck noch standhält, ist unklar. Die Kommentierungen in den Medien, die nicht zum Axel Springer Verlag gehören, scheinen sich aber langsam auch für eine Anerkennung Palästinas zu öffnen. Es könnte also diesbezüglich bald zu einem Kurswechsel hier kommen (wie schon bei den Waffenlieferungen). Aber die Zeit läuft leider davon.

Im ursprünglichen Artikel war nicht erwähnt, dass die vollständige rechtliche Anerkennung durch Belgien unter Bedingungen gestellt wurde. Wir danken unserem Leser Patrick Janssens für diesen Hinweis.

Titelbild: Viktor_IS / Shutterstock


[«*] Die Anerkennung durch Belgien ist zunächst nur politisch. Eine vollständige rechtliche Anerkennung wurde durch die belgische Regierung unter die Bedingung gestellt, dass vorher alle israelischen Geiseln befreit sein müssen und die Hamas nicht an der Regierung beteitligt sein darf.

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