Auf geht’s! Tschaikowsky, Tolstoi und Co. ausmerzen!

Auf geht’s! Tschaikowsky, Tolstoi und Co. ausmerzen!

Auf geht’s! Tschaikowsky, Tolstoi und Co. ausmerzen!

Ein Artikel von Rupert Koppold

Der ukrainische Kulturkampf wird als Exorzismus geführt und richtet sich gegen alles Russische. Er ist längst nach Deutschland übergeschwappt und hat dort willfährige Mitkämpfer in Kultureinrichtungen und Feuilletons gefunden. Von Rupert Koppold.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

“Ich glaube, wir dürfen nicht vergessen, dass, auch wenn Russen europäisch aussehen, dass es keine Europäer sind – im kulturellen Sinne.” (Florence Gaub, Transatlantik-Think-Tank-Expertin, bei Markus Lanz)


Wobei ich sagen muss, dass die großen Printmedien bei uns wunderbar über die Ukraine berichten…“ (Die Grünen-Politikerin Marieluise Beck vom Zentrum Liberale Moderne im Gespräch mit dem Autor Serhij Zhadan, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels)

„Wir müssen unseren Kindern das Wichtigste weitergeben: unsere Kultur und unsere Waffen“, so spricht im Oktober 2022 der mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete Serhij Zhadan. Auch die ukrainischen Künstler hätten nun die Pflicht, für ihr Land zu kämpfen. Den Preis erhält Zhadan, so die Jury, „für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung“. In seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche lobt der Geehrte die ukrainischen Kämpfer in einem Jargon, bei dem in Deutschland alle Alarmglocken schellen müssten („Die Soldaten sind wie innerlich erleuchteter Stahl: zornig, stark, bissig“), in Russen dagegen sieht er „das totale, enthemmte Böse“, sieht in ihnen nur Verbrecher, Barbaren, Abschaum und Unrat – Letzteres laut leicht irritierter, aber verständnisvoller Frankfurter Rundschau vom 17. Oktober 2022 sogar dreimal. Das aufgeklärte, gebildete und antirassistische Publikum verlässt daraufhin geschlossen den Saal. Stopp! Der letzte Satz stimmt nicht. Tatsächlich erhält Zhadan standing ovations!

Könnte man diese Veranstaltung als kulturelle Zeitenwende bezeichnen? So als habe Zhadan in der Paulskirche durch die Hirne der deutschen intellektuellen Elite gepustet, die sich nun wie erwacht vorkommt und als „genesen“ sieht, so als habe sie allzu lange an Krankheiten wie Toleranz, Völkerverständigungswillen und Entspannungsfantasien gelitten. Unser Kulturmilieu tut jetzt tatsächlich so, als habe es endlich (wieder) begriffen, was und wie der Russe ist. Denn die Rede Zhadans war ja auch, so Jens Uthoff am 24. Oktober 2022 in der taz, „eine Reaktion darauf, was Ukrainer:innen (wie ihm) beschämenderweise noch immer im Westen begegnet – etwa das Unverständnis darüber, dass sie mit einer Sprache des Hasses auf alles Russische reagierten.“

Jawohl, wir sollen uns alle schämen, wenn wir bei ethnischen Pauschalzuschreibungen, genauer: wenn wir bei hasserfüllter rassistischer Völkerkunde zusammenzucken, obwohl sie doch von Ukrainern gelehrt wird!

Der Kampf und Hass gegen alles Russische

In der Ukraine selbst ist diese Lehre, die mit extremer Selbstüberhöhung einhergeht, allerdings nicht neu. Der Kampf gegen alles Russische wurde schon lange vor dem Krieg geführt – und nach dem Maidan-Putsch von einem westukrainisch dominierten Regime auch mit Waffen gegen die russischsprachige Bevölkerung im Osten. Unter der Überschrift „Kulturpolitik in der Ukraine: Der Trend zum Verbot“ schreibt etwa Der Standard am 8. Januar 2015:

„In der Ukraine sind seit November 69 russische Kinofilme und Fernsehserien verboten worden. Kulturministerium, Geheimdienst SBU und der Verband der Filmschaffenden hatten sich zuvor mit einer dementsprechenden Bitte an die staatliche Filmagentur der Ukraine gewandt, die unverzüglich zur Tat schritt und allen Werken die Vorführerlaubnis entzog.“

Die Beschlüsse des Filmagenturchefs Pylyp Illenko, Ex-Politiker der Swoboda-Partei, stünden, so Der Standard, „in der Tradition der umstrittenen ‚Nationalen Expertenkommission für Fragen der gesellschaftlichen Moral‘… Unter dem damaligen Premierminister Wiktor Janukowitsch im November 2004 installiert, wacht dieses rechtskonservativ orientierte Beratergremium im Auftrag des Staates über die “gesellschaftliche Moral”.

In ukrainischen Geschichtsbüchern werden die dunkleren Seiten der eigenen Historie marginalisiert oder ausgelassen. Stefan Korinth schreibt am 7. August 2015 in Telepolis:

„In drei der vier zugelassenen Lehrbücher für ukrainische Geschichte wird zur Judenvernichtung durch die Deutschen nicht mal angedeutet, dass Ukrainer Mittäter bei diesem Verbrechen waren. In einem Buch immerhin, wird in einem Nebensatz erwähnt, dass auch Einheimische sich an den Morden der Nazis beteiligten. Von den Pogromen findet sich in keinem der Lehrbücher ein Wort. Das pädagogische Ziel ist eben nicht die Aufarbeitung von Geschichte, sondern das Nationalbewusstsein zu stärken‘, erklärt Ukraine-Experte Frank Golczewski. Nach neuesten Parlamentsbeschlüssen, ist es heute in der Ukraine strafbar, die UPA für Massaker zu beschuldigen, sagt Osteuropa-Fachmann Golczewski. ,Das ist eine fatale Entwicklung und das Gegenteil von dem, was man als Angleichung an mittel- und westeuropäische Standards sehen kann.‘“

Was mittel- und westeuropäische Standards betrifft: Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka lehnt bei uns Willkommensklassen für geflüchtete Kinder ab und fordert stattdessen von der deutschen Kultusministerkonferenz laut Tagesspiegel vom 16. März 2022 „Unterricht auf Ukrainisch nach ukrainischen Rahmenplänen“. Sie fürchtet in Integrationsklassen um die nationale Identität. Die Ukraine, so Tybinka, sei „mit ihrer ,jahrtausendalten Geschichte‘ und von ihrem Territorium her das größte Land Europas, komme aber in den deutschen Schulbüchern kaum vor. Stattdessen dominiere in Deutschlands Lehrplänen und Richtlinien, nach wie vor Russland und russischer Imperialismus‘. Daher stammten auch „die Neigungen und das Bestreben vieler Menschen in Deutschland, Russland zu verstehen, Russlands Verbrechen zu rechtfertigen.“

Für die ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk – und für viele ihrer Kollegen und Kolleginnen – sind das Volk und die Regierung eins: „Das ist so!“ Sie schließt also jede Opposition aus „ihrem“ Volk aus, nicht nur die in der Ostukraine. In einem Gespräch mit Jakob Augstein (Leipziger Zeitung, 20. Oktober 2022) zieht sie den Putin-Hitler-Vergleich und erklärt, sie kenne auch keine Menschen, die verhandeln wollten. Schon acht Jahre früher hat sich Maljartschuk in der FAZ direkt an Russland gewandt:

„Ich muss dir ehrlich sagen, Russland, mein Leben lang habe ich dich gehasst. Ich war eine fundamentalistische Antirussin, wobei ich deine Literatur las und deine Sprache als zweite Muttersprache spreche.“

Diese verhassten Russen, dieses verhasste Russisch! Schon lange läuft in der Ukraine nicht nur ein Kampf gegen diese Sprache, sondern unter dem Rubrum Dekolonisation oder Entrussifizierung auch eine Säuberungsaktion, welche die gesamte russische Kultur ausmerzen will. Puschkin-Statuen werden niedergerissen, Dostojewski- oder Tolstoi-Straßen umbenannt – und ersetzt werden sie durch die Ehrung faschistischer Nazi-Kollaborateure wie Stepan Bandera und seinen mörderischen Mitstreitern.

Und was ist mit Tschaikowski, Puschkin und Co.?

„Das Abspielen russischer Musik an öffentlichen Orten, die Einfuhr von Büchern in großen Mengen aus Russland und Belarus: Das alles ist in der Ukraine nun gesetzlich untersagt“, so vermeldet die Deutsche Welle (DW) am 27. Juni 2022. „Das vom Parlament in Kiew beschlossene Verbot umfasst ,Produkte von Künstlern oder Autoren, die Bürger des Aggressorstaates waren oder sind‘. Der ukrainische Fernsehmoderator und Produzent Ihor Kondratjuk hatte noch vor Beginn der Invasion Russlands über 25.000 Unterschriften unter einer Petition zum Verbot von Konzerten russischer Künstler in der Ukraine gesammelt. Für ihn ist das neue Gesetz ein logischer Schritt zum Schutz des Landes.“

Die Frankfurter Rundschau schreibt am 8. März 2023 über eine Reportage der „Tagesthemen“ aus Kiew: „Vor allem ältere Menschen tragen Pakete und Bündel in eine Buchhandlung, weil sie sich von russischer Literatur befreien wollen. Hinter dem Laden werden diese Bündel auf einen Lkw geworfen, der das ,Altpapier‘ zu einer Sammelstelle fahren wird. Der Ertrag soll der Finanzierung von Kriegsgerät dienen. Auf dem Index der Lehrpläne von Schulen stehen neben Tolstoi die Namen von Alexander Puschkin, Anton Tschechow oder Anna Achmatowa. Auch Bibliotheken entsorgen tonnenweise russische Literatur, weil laut Anordnung des Ministeriums für Kultur und Informationspolitik Propagandaliteratur (!) aus ukrainischen Bibliotheken zu entfernen sei.“

Sogar Nikolai Gogol und Michail Bulgakow, diese beiden großen russischschreibenden Schriftsteller ukrainischer Herkunft, sind vom kulturpolitischen Exorzismus bedroht. Erik Zielke nennt das „die Selbstkastration einer Nation“. In der Stadt Luzk übrigens, siehe taz vom 23. November 2022, wird Tolstoi zu Klopapier verarbeitet.

Solche Nachrichten sind in unseren Medien, denen zufolge die Ukraine auch für unsere Freiheit und Demokratie kämpft, eher selten zu lesen. An die Nazi-Bücherverbrennung im Mai vor neunzig Jahren aber wurde pflichtgemäß erinnert, jedoch so, als wäre es ein völlig anderes und singuläres Ereignis. Auch bei der oscarprämierten Neuverfilmung des Remarque-Romans „Im Westen nichts Neues“ dürfen auf keinen Fall Parallelen zum Heute gezogen werden. Im Stern warnt zum Beispiel Christian Mölling, eine der regelmäßig nach Waffen rufenden NATO-Schranzen von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), scharf davor, „aus dem Film-Gemetzel Lehren für den Ukraine-Krieg zu ziehen“. Auch der Remarque-Roman wurde damals von den Nazis verbrannt, in ihm fragt der Frontsoldat Tjaden: „Weshalb ist dann überhaupt Krieg?“ Der illusionslose Pragmatiker Kat antwortet: „Es muss Leute geben, denen der Krieg nützt.“ Und ja, da fallen einem viele Namen ein.

Warum sanktioniert man nicht die russische Kultur?“

Der Erich-Maria-Remarque Friedenspreis 2023 geht dieses Jahr übrigens an die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, den Sonderpreis erhält der ukrainische Zeichner Sergiy Maidukov. Man müsse aber akzeptieren, so die Jury, dass, solange der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine nicht beendet sei, die Preise nicht für beide gleichzeitig verliehen werden könnten. Weil sich nämlich Majdukov weigert, mit einer Russin, und sei sie noch so sehr gegen den Krieg, auf einem Podium zu erscheinen. Nein, dieser Kulturboykott alles Russischen ist keine Ausnahme, sondern offizielle ukrainische Politik. Dieser „Quarantäne“-Politik müsse sich auch Deutschland anschließen, fordert der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko in einem Interview mit der Zeit:

„Russischen TV-Sendern wurden in Deutschland die Lizenzen entzogen, warum sanktioniert man nicht die russische Kultur?“

Der ukrainische Wunsch wird in Deutschland gern erfüllt. Unsere blaugelb durchflaggten Kultureinrichtungen laden aus und werfen raus, ändern ihre Programme – weg mit Tschaikowsky! – und werden dabei unterstützt von Kulturjournalisten, die mit inquisitorischem Eifer von russischen Künstlern Reuebekenntnisse, Rücktritte und größtmögliche Putin-Distanzierung einfordern. (Kleiner Einschub zum Russen-Künstler-Canceln: „Wenn jemand in einem solchen Fall zur Begründung direkt an das Russische anknüpft, ist das ganz klar ein Verstoß gegen das Antidiskriminierungsrecht“, sagt der Rechtsanwalt Viktor Winkler am 22. März 2022 in SWR 2.) Als der Baden-Badener Intendant trotz allem darauf beharrt, Teodor Currentzis dirigieren zu lassen („Es darf niemand gezwungen werden, eine Meinung zu äußern. Und in der Demokratie müssen wir Meinungen aushalten, die von den unseren abweichen.“), stellt das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung am 6. November 2022 die denkwürdige Frage:

„Fällt die Haltung zu einem Krieg, in dem Tausende Menschen sterben, aber tatsächlich noch unter den Begriff Meinungsfreiheit?“

Wenn damals, wir sprechen von der deutschen Nazizeit (die freilich nicht mit dem heutigen Russland verglichen werden soll!), die US-Kulturpolitik gegen alles Deutsche gekämpft und Exilautoren wie Thomas Mann oder Stefan Zweig als Aussätzige behandelt hätte, wäre auch da größtes Verständnis angebracht gewesen? Aber es wird ja sogar die Verleihung des Friedensnobelpreises 2022 an Menschenrechtler aus der Ukraine, Belarus und Russland in der Ukraine scharf kritisiert, zum Beispiel, so der Spiegel (8. Oktober 2022), von Selenskis Berater Mychajlo Podoljak: Das Nobelpreiskomitee habe eine interessante Auffassung des Wortes „Frieden“, wenn den Friedensnobelpreis zusammen „Vertreter zweier Länder erhalten, die ein Drittes überfallen haben“.

Die Berlinale aber macht es laut Selenski richtig, in seiner zugeschalteten Video-Rede sagt er unter großem Applaus:

„Die Berlinale hat ihre Wahl getroffen, indem sie den Dialog ohne Grenzen hochhält. Das Kino aus der ganzen Welt ist zu Gast. Dass Filme, die mit russischer Unterstützung gemacht wurden, dieses Jahr nicht im Festival vertreten sind – das wissen wir zu schätzen, dafür sind wir dankbar.“

Offene Grenzen und gleichzeitig Zensur? Selenski sieht darin keinen Widerspruch. Und die Berlinale offenbar auch nicht.

Sollte die Kultur nicht eigentlich einstehen für Verständnis und Toleranz, ist sie nicht unter anderem dazu da, Brücken zu bauen statt Gräben aufzureißen? Georg Seeßlen schreibt in der taz vom 4. Mai 2022:

„Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist Kultur dafür zuständig, Menschen und Gesellschaften den Umgang mit der Kompliziertheit von Welt und Geschichte zu ermöglichen. Kein Wunder also, dass sie von bestimmten Menschen und Institutionen so gehasst wird. Umgekehrt nämlich ist Politik offenbar nie zu denken ohne das Versprechen der großen Vereinfachung. Der politische Druck auf Kultur wächst in Zeiten der Krise. Doch es gibt einen Punkt der freiwilligen wie der erzwungenen Vereinfachung, an dem wir nicht mehr von Kultur, sondern von Propaganda sprechen sollten.“

Wie willfährig sich unsere Kultur zum Propagandainstrument machen ließ, schlimmer noch: wie schnell sie sich selber zu einem solchen gemacht hat, ist ebenso erstaunlich wie erschreckend.

Und noch einmal: Diese Selbstverständlichkeit, mit der die ukrainischen Positionen toleriert und propagiert werden! Der Jurist und Autor Thomas Fischer konstatiert am 30. September 2022 im Spiegel:

„Was immer an rassistischen Stereotypen und Verdammungen in den letzten 75 Jahren unter der Decke geblieben ist, ist wieder da und salonfähig.“

Kein Platz mehr für Ambivalenzen“

Als der Friedenspreisträger Serhij Zhadan auch im Stuttgarter Literaturhaus seine martialischen Bekenntnisse verbreitet – er hat den Entsicherungsring einer Handgranate mitgebracht! – schreibt die Stuttgarter Zeitung (11. Oktober 2022), es sei in der aktuellen Situation eben „kein Platz mehr für Ambivalenzen“, auch sei ein „unterhinterfragter Pazifismus“ zu kritisieren, und wer „unbehaglich zusammenzucke“, wenn in einem Literaturhaus nach Waffen gerufen werde, dem sei zu empfehlen: „Wir sollten weniger sprechen, sondern zuhören, was die Ukrainer zu sagen haben.“ Aber das ist eben das Problem: Je mehr wir diesen Ukrainern zuhören (und andere dürfen bei uns nicht sprechen), desto unheimlicher wird die Sache.

Im Bundeskanzleramt etwa erklärt die ukrainische Sängerin Marina Sadovska: „Wenn die Welt untergeht, wenn wir der Ukraine helfen, dann soll es halt so sein.“ Noch einmal Thomas Fischer, der am 1. April 2022 die vom Weltuntergangsfuror „tief beeindruckte“ FAZ zitiert: „Wir müssen ertragen, dass sie (die Sängerin) mit keinem Wort an unser Mitleid appellierte, sondern Forderungen der Gerechtigkeit aufstellte, also in unserem eigenen Interesse sprach.“ Fischer dazu: „Die Frage sei gestattet: Ist das noch Unsinn oder schon religiöser Wahn?“ Im Tagesspiegel vom 4. Oktober 2022 schreibt Nadiia Kulish zum Thema „Aufnahme von Flüchtlingen beziehungsweise von Kriegsdienstverweigerern aus Russland“: „Ich möchte nicht mit russischen Männern in Berlin in der U-Bahn fahren.“

Die taz berichtet am 2. August 2022 von einem Treffen zwischen fünf deutschen und 17 ukrainischen Journalisten, bei dem Letztere unisono erklären: „Ein Dialog mit Russ*innen, ja allein der Umstand, ihnen ein Forum zu bieten, sei inakzeptabel und komme einer Zumutung gleich. Schließlich sei ein/e jede/r von ihnen schuld an diesem Krieg. Schon eine Getränkekarte, die in dem Raum auf den Tischen liegt, wird als Provokation gewertet. Denn auch der russische Wodka „Moskowskaja“ ist im Angebot.“

Russland als Reich des absolut Bösen

Schauen wir auch mal rein in die zu Propaganda-Sendungen verkommenen Kulturmagazine des öffentlich-rechtlichen Fernsehens! Etwa in „Aspekte“, wo schon lange vor dem Krieg die als Frage verkleidete Forderung „Kulturaustausch mit Russland beenden?“ auftaucht. Oder in „Kulturzeit“ auf 3Sat, wo Transatlantik-„Experten“ das Ende von Österreichs Neutralität fordern, den Verhandlungsaufruf von Wagenknecht und Schwarzer als „intellektuelles und moralisches Debakel“ denunzieren oder die Sportpalast-Rede Goebbels’ in direkten Zusammenhang mit Putin stellen. Immer wieder wird Russland als Reich des absolut Bösen bezeichnet, immer wieder sind alle, aber wirklich alle Russen verabscheuenswert, immer wieder tritt ein offener Rassismus und ein Denunziationswille zutage, die einem den Atem rauben.

In der Süddeutschen Zeitung vom 14. Februar 2023 darf Jürgen Habermas noch ein „Plädoyer für Verhandlungen“ halten. Er schreibt: „Angetrieben durch den bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung, in der das Zögern und die Reflexion der Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht zu Worte kommen.“ Zwei Tage später schreibt der Ukraine-Propagandist Peter Neumann in der Zeit eine vernichtende Replik, die den ersten Teil des Habermas-Zitats als Überschrift verwendet.

Moment! Kann das sein? Die Zeit hat das Zitat gefälscht und ins Gegenteil verkehrt, aus der „geballten veröffentlichten Meinung“ macht sie eine „geballte öffentliche Meinung“ – und lässt die Fortführung des Satzes weg. Ist das Schludrigkeit? Oder ist es Absicht? Aber das hieße dann, dass dieses Zentralorgan des kultivierten Bürgertums alle journalistischen Grundsätze aufgegeben hätte und, nun ja, zu einem Drecksblatt mutiert wäre…

Apropos Mutation: Es war einmal ein Mitglied des moskautreuen Studentenverbands Spartakus namens Stephan Wackwitz. Er heißt immer noch so, aber er ist jetzt ein schriftstellernder Kriegseuphoriker, der in Lemberg, diesem Hort der ukrainischen Rechten, nur progressive europäische Kultur wahrnimmt, aber keine faschistischen Aufmärsche und keine Bandera-Statuen. In der taz lobt er 2019, dass der Krieg im Donbass „ein Volkskrieg“ sei, „für den in Lemberg auf den Straßen Geld gesammelt und für den Freiwillige ihr Studium an den Nagel hängen“. (Und sich, muss man hinzufügen, wahrscheinlich den Asow-Nazis anschließen.) Am 3. März 2022 und wieder in der taz taumelt Wackwitz dann in eine Euphorie hinein, wie man sie von deutschen Autoren vorher nur beim kanonendonnernden Applaus für deutsche Kriege gekannt hat:

„Der angegriffenen Ukraine wurden mit Verweis auf Artikel 51 der UN-Charta Panzerfäuste und Stinger-Raketen geliefert. Und für Sonntagvormittag war der Bundestag einberufen. Es war tatsächlich ein Glücksgefühl, das mich am folgenden Morgen gegen 11 vor meinem Fernsehgerät übermannte. Auch die Seitenstraßen waren fast lückenlos angefüllt mit Menschenmassen, ukrainischen Fahnen, Parolen, Blumenkränzen, blaugelben Garderoben und Gesichtsbemalungen, selbst gebastelten Transparenten – vor allem aber mit jenem diffusen Aufgeregt- und Glücklichsein. Es schien plötzlich außer und in mir zugleich zu herrschen.“

In der ARD-Sendung „Hart aber Fair“ wurde im April dieses Jahres die besorgte Frage gestellt: „Kann Deutschland Krieg?“. Nun, die deutsche Stahlhelm-Fraktion in den Feuilletons jedenfalls, die kann das.

Titelbild: Shutterstock / Valentie_Tokyo

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