Die Kontroverse über den manipulierten OPCW-Bericht zu einem angeblichen Einsatz chemischer Waffen in Douma, Syrien, April 2018

Die Kontroverse über den manipulierten OPCW-Bericht zu einem angeblichen Einsatz chemischer Waffen in Douma, Syrien, April 2018

Die Kontroverse über den manipulierten OPCW-Bericht zu einem angeblichen Einsatz chemischer Waffen in Douma, Syrien, April 2018

Karin Leukefeld
Ein Artikel von Karin Leukefeld

Hochrangige ehemalige UN-Offizielle und Wissenschaftler, die seit 2021 als „Berlin Gruppe 21“ (BG21) zusammenarbeiten, haben Abgeordneten des Europaparlaments ihre Untersuchung des OPCW-Berichts über einen angeblichen Einsatz chemischer Waffen in Douma, Syrien, im April 2018 vorgelegt. Gefunden haben sie Beweise für Manipulation, Voreingenommenheit und Zensur. Von Karin Leukefeld.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Untersuchung wurde von den beiden EP-Abgeordneten Mick Wallace und Claire Daly, Mitglieder der Partei Independents 4 Change (Unabhängige für den Wandel, Irland), in Auftrag gegeben. Im Europaparlament gehören sie zu den GUE/NGL The Left. Ziel sei, das EU-Parlament zu einer eigenständigen Überprüfung und Debatte dieser „ernstzunehmenden Kontroverse“ zu führen, heißt es in einer Notiz, die der Untersuchung vorangestellt ist. Auch die OPCW-Mitgliedsstaaten und die OPCW-Verwaltung sollten die anhaltende Kontroverse über den OPCW-Douma-Bericht „in Übereinstimmung mit der Chemiewaffenkonvention und der Charta der Vereinten Nationen“ lösen.

Gründungsmitglieder der Berlin Gruppe 21 sind der brasilianische Botschafter José Mauricio Bustani, erster Direktor der (1997 gegründeten) Organisation für das Verbot chemischer Waffen, OPCW; Richard Falk, Professor em. für Internationales Recht an der Princeton-Universität, u.a. UN-Sonderberichterstatter für die Einhaltung der Menschenrechte in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten; Dr.h.c. Hans-C. von Sponeck, 32 Jahre lang UN-Diplomat u.a. in der UNDP und als stellvertretender UN-Generalsekretär im Irak; Dr. Piers Robinson, Co-Direktor der Organisation für Propagandastudien, mit Schwerpunkt Rolle von Medien in Konflikten, Außenpolitik und Intervention an den Beispielen der Invasion in den Irak (2003) und in Syrien.

Die Vorgeschichte

Die NachDenkSeiten haben in den letzten Jahren immer wieder über die Kontroverse um den umstrittenen OPCW-Bericht zu Douma berichtet, nachdem ein OPCW-Whistleblower bei einem Panel der Courage Stiftung (Oktober 2019) über den Eingriff der Organisation in die ursprünglichen Untersuchungsergebnisse berichtet hatte.

Informationen über den angeblichen Chemiewaffeneinsatz waren am 7. April 2018 von den „Weißhelmen“ verbreitet worden. Sie schickten dramatische Bilder und Videoaufnahmen aus einem unterirdischen Krankenhaus in Douma über die sozialen Medien in alle Welt. Internationale Fernsehstationen und Agenturen sorgten für die umgehende Verbreitung. Die „Weißhelme“ behaupteten, die syrische Armee habe aus einem Hubschrauber mit Gas gefüllte Zylinder auf Wohnhäuser abgeworfen und mindestens 40 Menschen getötet. Die „Weißhelme“ verbreiteten auch Bilder von Leichen in einem Keller. USA, Großbritannien, Paris, Berlin schlossen sich den Anschuldigungen der „Weißhelme“ an.

Die syrische Armee dementierte die Angaben, die syrische Regierung bat die Organisation für das Verbot chemischer Waffen, OPCW, eine Untersuchungsmission zu senden. Der UN-Sicherheitsrat stimmte zu und die Mission, eine OPCW-Fact-Finding Mission (FFM), machte sich auf den Weg. Doch während sich die OPCW-Inspektoren in Beirut auf die Weiterfahrt nach Damaskus vorbereiteten, bombardierten die USA, Großbritannien und Frankreich in der Nacht zum 14. April 2018 Ziele in Syrien als Bestrafung für Douma. Die drei westlichen Veto-Mächte und ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat waren offensichtlich nicht an einem Ergebnis der OPCW-Mission interessiert. Die OPCW, der UN-Sicherheitsrat, die UN-Vollversammlung schwiegen.

Die OPCW-Inspektoren reisten nach Damaskus und nahmen ihre Arbeit in Douma auf. Sie sammelten Bodenproben, nahmen die Orte des Geschehens in Augenschein und sprachen mit Augenzeugen. Die auf Fotos abgebildeten Leichen in einem Keller waren nicht mehr aufzufinden. Der Ort, an dem sie beerdigt worden waren, ist unbekannt. Zurück in Den Haag – Sitz der OPCW – verfassten sie ihren ersten Zwischenbericht, der nach den OPCW-Vorschriften innerhalb von vier Wochen vorliegen muss. Dann geschah etwas Merkwürdiges. Das Douma-Inspektorenteam wurde von der Arbeit abberufen und es tauchte ein neuer Zwischenbericht auf.

„Besonders besorgniserregend“

Unter dem Betreff „Große Besorgnis über den ‚zensierten‘ Douma-Bericht“ wandte sich einer der Inspektoren des OPCW-Douma-Teams am 22. Juni 2018 mit einem Schreiben an die Vorgesetzten. „Als Mitglied des FFM Teams, das die Untersuchung über den angeblichen chemischen Angriff in Douma am 7. April durchgeführt hat, möchte ich meine große Besorgnis über die zensierte Version des FFM Berichts zum Ausdruck bringen“, heißt es in dem Schreiben. Dieses Schreiben und andere interne Dokumente in der Sache wurden zwischen 2019 und 2020 der Internetplattform WikiLeaks zugespielt und veröffentlicht. „Soviel ich weiß, geschah das im Auftrag der ODG“, das Kürzel für Office of the General Director. Und weiter heißt es:

„Nach der Lektüre dieses geänderten Berichts, wozu übrigens kein anderes Teammitglied, das in Douma im Einsatz war, die Gelegenheit hatte, war ich erstaunt, wie falsch er die Tatsachen wiedergibt. Viele der Fakten und Beobachtungen, die in der vollständigen Fassung dargestellt sind, sind untrennbar miteinander verbunden. Durch das selektive Weglassen bestimmter Informationen wurde eine unbeabsichtigte Voreingenommenheit in den Bericht eingebracht, die seine Glaubwürdigkeit untergräbt. In anderen Fällen haben sich einige entscheidende Fakten, die in der zensierten Fassung verblieben sind, in etwas ganz Anderes verwandelt als das, was ursprünglich verfasst worden war. Wenn Sie gestatten, möchte ich auf einige spezifische Aspekte des geschwärzten Berichts eingehen, die besonders besorgniserregend sind.“

Es folgt eine Aufzählung von Punkten, die dem Autor des Schreibens besonders wichtig waren. „In höchstem Maße irreführend“ sei die Schlussfolgerung, das Untersuchungsteam Douma habe genügend Beweise für den möglichen Einsatz von Chlor oder Chlorgas gefunden; für die Angabe, das Gas sei wahrscheinlich aus den gefundenen Zylindern freigesetzt worden, gebe es „ungenügende Beweise“; die Feststellungen zur Lage der Zylinder aus dem ursprünglichen Bericht fehlten, ebenso dessen umfassende Bibliographie. Der Bericht der Fact-Finding-Mission Douma solle vollständig veröffentlicht werden, da die zensierte Fassung nicht die Arbeit des Teams reflektiere, mahnte der Autor des Briefes an. Sollte die zensierte Version veröffentlicht werden, bitte er „höflich darum“, seine „abweichenden Bemerkungen gemäß Paragraph 62 von Teil II der Verifikationsanlage der Chemiewaffenkonvention beizufügen“.

Der Brief führte zu zahlreichen Reaktionen, doch die OPCW-Leitung war weder bereit, den Douma-Bericht zu veröffentlichen noch eine Stellungnahme des Briefautors dem zensierten Bericht beizufügen. Die beiden mittlerweile bekannten OPCW-Whistleblower Ian Henderson und Brendan Whelan wurden seitens der OPCW-Leitung verfolgt, unter Druck gesetzt, beleidigt und diffamiert.

Der Brief war nur der Anfang einer langen Kontroverse, die bis heute anhält. Zahlreiche Dokumente wurden WikiLeaks zugespielt, die dort nachgelesen werden können.

Die Courage Foundation organisierte ein Panel, in dem über die Unstimmigkeiten des OPCW-Douma-Berichts informiert wurde. Eine dort verabschiedete Stellungnahme lenkte internationale Öffentlichkeit auf den Fall und führte zu Appellen an den OPCW-Generaldirektor und die OPCW-Mitgliedsstaaten, den Fall neu zu untersuchen. Ohne Erfolg.

Neue Untersuchung dringend geboten

Die Autoren der nun vorgelegten Untersuchung begründen ihre Arbeit mit drei wichtigen Aspekten. Die Familien der 40 oder mehr Toten aus Douma müssten wissen, woran ihre Angehörigen tatsächlich gestorben seien. Die Glaubwürdigkeit der OPCW und das Vertrauen ihrer Mitgliedsstaaten in die Organisation müsse wiederhergestellt werden. Whistleblower, die den Mut hätten, Fehlentwicklungen aufzuzeigen, verdienten Anerkennung und Schutz. Nicht nur die OPCW habe versagt, heißt es in dem Vorwort der Autoren. Weder die UN-Generalversammlung noch der UN-Sicherheitsrat hätten zur Aufklärung der Kontroverse beigetragen. Der Umgang mit dem Bericht über einen angeblichen Einsatz chemischer Waffen in Douma und der kurz darauf erfolgte – nicht nach dem internationalen Recht autorisierte – Angriff von USA, Großbritannien und Frankreich auf Syrien gefährdeten den internationalen Frieden und die Sicherheit, wie es in der UN-Charta steht.

Die Untersuchung der Berlin Group 21 (BG21) ist in englischer Sprache verfasst. Bereits dem Titel ist zu entnehmen, was die Berlin Gruppe 21 nach jahrelangen Recherchen, Gesprächen und Untersuchungen der OPCW-Douma-Berichte gefunden hat: Beweise für Manipulation, Voreingenommenheit und Zensur. Untermauert wird das schwerwiegende Fazit mit einer Fülle von Dokumenten, Analysen aus erster Hand und von hochqualifizierten Quellen. Hinzu kommt zahlreiche interne Kommunikation der OPCW, die über die Internetplattform WikiLeaks veröffentlich wurde.

Die Untersuchung

In einem ersten Abschnitt (Section One) geht eine kurze Hintergrundinformation auf das eigentliche Geschehen in Douma, Syrien, am 7. April 2018 ein und erläutert die Einrichtung einer Fact-Finding Mission (FFM) durch die OPCW sowie die Rolle der Vereinten Nationen. Der zweite Abschnitt (Section Two) befasst sich in einer Art Chronologie mit dem angeblichen Einsatz chemischer Waffen in Douma und mit der FFM-Untersuchungsmission. Es beginnt im April 2018 und reicht über Dezember 2019 in die Zeit danach. Beim dritten Abschnitt (Section Three) schließlich handelt es sich um eine zusammenfassende Untersuchung der vier OPCW-Berichte über den angeblichen Einsatz chemischer Waffen in Douma. Dabei werden der ursprüngliche Zwischenbericht des FFM-Teams, das in Douma ermittelte (Juni 2018), der zensierte Zwischenbericht (Juni 2018), der veröffentlichte Zwischenbericht (Juli 2018) sowie der FFM-Abschlussbericht (März 2019) zusammenfassend dargestellt. In einem vierten Abschnitt (Section Four) werden schließlich Schlussfolgerungen gezogen und konkrete Handlungsvorschläge gemacht, „um das Geschehen in Douma akkurat aufzuzeigen und darüber hinaus auch die Glaubwürdigkeit der OPCW wiederherzustellen“.

Beweise für Manipulation, Voreingenommenheit und Zensur

In einem beigefügten Anhang werden Erkenntnisse der Untersuchung in den vier OPCW-Berichten konkret aufgezeigt. In Annex 1 geht es um Aussagen der toxikologischen und forensischen Pathologie, um die „ungerechtfertigte Löschung der ursprünglichen Schlussfolgerung der Toxikologie“ und um das Versäumnis, wichtige Beweise für eine andere Todesursache aufzudecken. Annex 2 befasst sich mit den Zeugenaussagen, wo und wie sie gesammelt wurden und dem Versäumnis, „ungewöhnliche Zeugenaussagen aufzuklären“. Außerdem geht es um analytische Fehler bei der Darstellung von Mustern, wie Gas sich ausbreitet. Annex 3 untersucht die „ungenügenden chemischen Analysen“, bei denen Fehler aufgetreten sind und „wichtige Hinweise auf alternative Erklärungen“ nicht untersucht wurden. Annex 4 schließlich zeigt unzulängliche Informationen bei den ballistischen Fragen auf. Dabei geht es insbesondere um die auffällige und merkwürdige Platzierung von zwei Gaszylindern sowie die Erklärung für ein Loch im Dach, durch die einer der Gaszylinder gefallen sein soll.

Die Untersuchung wurde an alle Abgeordneten des Europaparlaments, an die Leitung und Mitgliedsstaaten der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, an den UN-Generalsekretär, die UN-Mitgliedsstaaten und an den UN-Sicherheitsrat geschickt. Auch das deutsche Außenministerium hat eine Kopie erhalten. Alle Empfänger der Untersuchung sind aufgefordert, „die anhaltende Kontroverse entsprechend der Chemiewaffenkonvention und der Charta der Vereinten Nationen zu klären“.

„Zutiefst beunruhigend“

„Dieses Dokument sollte jeden zutiefst beunruhigen, der glaubt, dass die UNO die Achtung des Völkerrechts als Mittel zur Verringerung der weltweiten Gewalt fördern sollte.“ Das schreibt Professor Theodore Postol in seinem Vorwort zu der Untersuchung der Berlin Gruppe 21. Postol ist Professor für Physik em., und hat am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gelehrt. Das Geschehen um den OPCW-Bericht zu Douma bezeichnet er als „Angriff auf die Zukunft des Internationalen Rechts und der Chemiewaffenkonvention“. Sollte die Art von „offenkundig unprofessionellen und amateurhaften Analysen“ Bestand haben, ohne korrigiert zu werden, bedeute das für die Vereinten Nationen und die OPCW, dass diese als „Vollstrecker internationalen Rechts einfach aufhören zu existieren.“ Das werde dann ein „bedauerliches Erbe sein, das der Welt von denen hinterlassen wird, die heute den Anspruch erheben, die Hüter der Wahrheit zu sein.“

Titelbild: 7th Sun / Shutterstock

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