Chomskys Rede in der Vollversammlung 2014 – Entwicklung des Palästina-Konflikts

Chomskys Rede in der Vollversammlung 2014 – Entwicklung des Palästina-Konflikts

Chomskys Rede in der Vollversammlung 2014 – Entwicklung des Palästina-Konflikts

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Vorbemerkung: Frieden oder Zerstörung von Leben und Zukunft. – Es stellt keine Gewaltlegitimation für kriminelle Handlungen irgendeiner Konfliktpartei dar, wenn Stimmen der Diplomatie darauf drängen, die Eskalationsspirale der Gewalt in Israel, Palästina oder andernorts zu verlassen, und sie stattdessen eine Regelung einfordern, die die Interessen aller Seiten gleichermaßen respektiert. Ohne die unbedingte Beachtung des Völkerrechts und der internationalen Verträge über gegenseitige Beziehungen wird es nirgends einen Weg zum Frieden geben. Eine Steigerung von Feindseligkeiten gefährdet den Weltfrieden in unserer atomar und ökologisch zerbrechlichen Welt. Im Fall des Palästina-Konflikts ist hierfür die Rede von Noam Chomsky in der Generalversammlung der UNO 2014 ein vorbildlicher Beitrag zur rückhaltlosen Analyse der Genesis der Spannungen.

Ohne einen solchen Klarblick kann kein Krieg, kein Konflikt überwunden und gelöst werden. Eine Lösung, die das Wort ‚Lösung‘ verdient, kann es nicht mit Gewalt geben, sie bedarf der Diplomatie und der Einhaltung des Rechts durch alle Seiten.

Den Hinweis auf dieses Dokument einschließlich der Vorbemerkung und der Übersetzung verdanken wir Bernhard Trautvetter. Großen Dank!

Noam Chomskys Rede in der UNO-Vollversammlung (14. Oktober 2014) – Entwicklung des Palästina-Konflikts

Viele Weltprobleme sind so unlösbar, dass es schwer vorstellbar ist, Wege einzuschlagen, nur um Schritte zu gehen, sie zu entschärfen.

Der Israel-Palästina-Konflikt … weist Umrisse auf, die seit mindestens 400 Jahren klar sind. Nicht das Ende der Straße ist damit gemeint, das ist es nie, aber ein bedeutsamer Schritt nach vorne.

Und die Hindernisse zu einer Lösung sind ebenfalls recht klar. Die grundlegenden Züge zu einer Lösung wurden hier in einer Resolution präsentiert, die an den Sicherheitsrat gerichtet war, im Januar 1976. Sie orientierte auf eine Zweistaatenlösung im Rahmen der international anerkannten Grenzen mit Garantien für die Rechte beider Seiten, in Sicherheit und Frieden zu existieren – innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen. Die Resolution wurde von den drei wichtigsten arabischen Staaten – Ägypten, Jordanien und Syrien, auch oft ‚Konfrontationsstaaten genannt – eingebracht; Israel blieb der Sitzung fern, die Resolution wurde von den USA mit einem Veto belegt. Das US-Veto ist ein zweifaches; die Resolution wurde nicht implementiert, und das Ereignis wird aus der Geschichte gestrichen. Man muss viel Aufwand betreiben, um sie überhaupt zu finden. Das hat Strukturen gelegt, die seither wirken. Das bislang letzte Veto war im Februar 2011, als die Obama-Administration eine Resolution mit einem Veto abwehrte, die von den USA eine Politik verlangte, die gegen die Ausdehnung von Siedlungen gerichtet sein müsse. Und es ist wichtig, klar zu haben, dass es hier nicht wirklich um die Ausdehnung von Siedlungen geht, sondern um die Siedlungen selbst, die also illegale Infrastruktur-Projekte sind.

Für eine lange Zeit gab es einen überwältigenden internationalen Konsens zugunsten einer Lösung, die sich an diesen Eckpfeilern orientierte. Die Basis (Resolution 2194), die im Dezember 1966 gelegt wurde, gilt bis heute. Israel lehnt sie[*] ab und hat sich dem Ziel gewidmet, dass sie nicht implementiert wird. Dies mit der unverrückbaren und entschiedenen Unterstützung der USA – militärisch, ökonomisch , diplomatisch und ideologisch, indem sie ihre Sicht, wie der Konflikt gesehen und interpretiert wird, in ihrer Einflusssphäre verbreiten.

Wichtig ist, darauf zu blicken, was im letzten Jahrzehnt in Gaza im Sinn der US-Sicht geschehen ist. Am 26. August dieses Jahres (2014) wurde ein Waffenstillstand zwischen Israel und der palästinensischen Autorität erreicht, … und die Frage ist, was die Aussichten für die Zukunft sind. Ein logisch verantwortlicher Weg, diese Frage zu beantworten, ist es, auf den Prozess zu schauen, und hier gibt es eine definitive Struktur: Ein Waffenstillstand wird vereinbart, Israel ignoriert ihn und fährt mit seinen ständigen Angriffen gegen Gaza fort, inklusive der ständigen Belagerung, periodischer Gewaltakte, Steigerung der Siedlungsaktivität, oft mit Gewalt in der Westbank. Hamas beobachtet den Waffenstillstand, wie ihn Israel wahrnimmt, bis es zu einer israelischen Eskalation kommt und zu – ebenfalls illegalen – Reaktionen von Hamas, die den Bogen überspannen, indem sie die Möglichkeiten, die bestehen, überreizen; jede Episode ist destruktiv, und die Serie der Eskalation war im November 2005 die Vereinbarung über Bewegung und Zugang: Sie forderte den Transit von Menschen und den Export von Waren an einem Übergang zwischen dem Gazastreifen und Ägypten sowie zwischen dem Gazastreifen und Israel, die Reduktion der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in der Westbank, Bus- und LKW-Konvois zwischen der Westbank und Gaza, einen Hafen in Gaza, die Wiedereröffnung des Flughafens in Gaza, den Israel zerstört hatte. Das sind die Essentials für einen erfolgreichen Waffenstillstand …

Die Terminierung der Vereinbarung von 2005 war der Moment von Israels Rückzug aus Gaza und dem Rückzug von mehreren Tausend Siedlern aus Gaza. Dies wird als noble Geste im Sinne von Israels Friedenshaltung und im Sinne der Entwicklung gesehen, nun, die Realität ist etwas anders.

Sie wurde von einem israelischen Offiziellen beschrieben, der für die Umsetzung und Einhaltung des Waffenstillstands verantwortlich war, ein Vertrauter des damaligen Premiers Sharon, als er der israelischen Presse erklärte, das Ziel des Rückzugs sei das Einfrieren des Friedensprozesses gewesen, um den Aufbau eines palästinensischen Staates abzuwenden und sicherzustellen, dass Diplomatie auf unbestimmte Zeit von der Agenda genommen wird.

Israels führender Spezialist für Okkupation beschreibt die Realität auf dem Boden … so: Das ruinierte Territorium … wurde vom israelischen militärischen Zugriff nicht freigestellt.

Nach seinem Rückzug hinterließ Israel zerstörten Boden und Menschen ohne Gegenwart, geschweige denn mit einer Zukunft. Die Vereinbarungen wurden in einem Zug durch einen unzugänglichen Besatzer, der das Territorium weiter kontrollierte und der mit seiner militärischen Macht Bewohner peinigte und teils tötete, umgesetzt. Die Oslo-Vereinbarungen besagten, dass Gaza und die Westbank eine unteilbare Einheit bilden. … Seit 20 Jahren haben sich die USA und Israel damit befasst, Gaza von der Westbank zu separieren. Das verletzte die Verträge, die sie angenommen hatten. Ein Blick auf die Landkarte erklärt, warum: Gaza bietet den einzigen Zugang zur äußeren Welt. Wenn Gaza von der Westbank getrennt ist, egal welche Autonomiebehörde in der Westbank herrscht, sie wäre ein Gefängnis: Israel auf der einen Seite, das gegnerische Jordanien auf der anderen Seite, was den Rest umso mehr gefangen nähme … Das ist der geostrategische Hauptgrund für die israelischen Bestrebungen, die beiden Gebiete in Verletzung des Oslo-Vertrages und der Serie von Waffenstillständen seit 2005 zu trennen. Die Vereinbarung von November 2005 – hielt ein paar Wochen. Im Januar 2006 fand ein sehr wichtiges Ereignis statt – die erste vollständig freie Wahl in der arabischen Welt, sorgfältig beobachtet, führte zum falschen Ergebnis: Hamas gewann. Die USA und Israel hatten das nicht gewollt. Der höchste Wert in den USA war die Förderung der Demokratie. Die USA und Israel entschieden, die Palästinenser für das Vergehen, falsch gewählt zu haben, zu bestrafen.

Eine Strenge Belagerung wurde eingerichtet, die Spannungen nahmen zu, die USA organisierten einen Coup, um die inakzeptable Regierung zu stürzen. Dies ist eine ziemlich vertraute Praxis.

Die EU beteiligte sich daran. Eine rasche Eskalation folgte … Das war das Ende der Vereinbarungen von November 2005.

2007 leistete sich die Hamas ein noch größeres Vergehen: Sie kamen dem Coup zuvor und übernahmen Gaza komplett. Das wurde im Westen als Hamas‘ gewaltsame Übernahme von Gaza bezeichnet. Das ist nicht falsch, aber etwas wird dabei ausgeblendet: Die Gewalt kam einer geplanten Gewalt zuvor. Schließlich kam es im Januar 2008 zu einem neuen Waffenstillstandsabkommen: Israel erklärte, es würde das Ende der Kampfhandlungen nicht umsetzen. Hamas überwachte den Waffenstillstand. Das hielt bis zum 4. November 2008. Dies war der Tag der Wahlen in den USA.

Israel vollzog eine Invasion in den Gazastreifen, tötete Hamas-Führer … darauf folgten Angriffe mit Kassam-Raketen gegen Israel. Die massive israelische Antwort mit vielen Toten, alle Palästinenser, erfolgte im Dezember 2008. Hamas offerierte eine Wiederbelebung des Waffenstillstands. Das israelische Kabinett wies dies zurück und beschloss die nächste Militäroperation. Dies war eine schreckliche Operation, die eine ernste internationale Reaktion auslöste, inklusive UN-Untersuchungen … es ergab sich, dass die Operation bis kurz vor der Amtseinführung von US-Präsident Obama terminiert war. So konnte er sagen, es sei jetzt nicht die Zeit, auf die Vergangenheit zu sehen, lasst uns in Richtung Zukunft blicken. Diplomaten wissen, dies ist ein Slogan von Kräften, die in ernsthafte Rechtsverstöße verwickelt sind … Mitten während der Angriffe beschloss der Weltsicherheitsrat eine Resolution, die zu einem unverzüglichen Waffenstillstand aufrief. Das war im Januar 2009. Die Einhaltung dieser Resolution wurde nie überprüft, und der Prozess brach komplett zusammen, nur die nächste Überreizung des Textes im November 2012 mit diesen Totenzahlen: Von 79 Toten waren 78 Palästinenser. … Danach folgte ein Waffenstillstand mit den üblichen Begriffen im Text. … Die militärischen Angriffe auf Gaza nahmen zu, parallel zu Blockaden des Ex- und Imports sowie von Ausreisegenehmigungen. Das blieb so bis 2014, als die Palästinenser ein weiteres Vergehen begangen: Die Gaza-basierte Hamas und die Palästinenser-Autorität der Westbank unterzeichneten eine Vereinbarung über eine Vereinigung. Israel war wütend, dies sogar noch mehr, als die internationale Welt dies überwiegend unterstützte, und auch die USA gaben eine schwache, aber eben doch Unterstützung bekannt.

Zu den Gründen für die israelische Reaktion zählt, dass dies die Bemühungen untergrub, die beiden Gebiete voneinander zu separieren. Ein weiterer Grund war, dass dies ein israelischer Vorwand für Israels Ablehnung von Verhandlungen war. … Zitat: ‚Wie können wir mit einer Einheit verhandeln, die intern gespalten ist?!‘ Israel lancierte größere Angriffe gegen Palästinenser auf der Westbank und gegen die Gaza-basierte Hamas. Der Vorwand war, dass drei Teenager in Israel entführt und ermordet worden waren. Israel erklärte zunächst, sie hätten gedacht, die drei seien noch am Leben und man suche sie. …

Das Muster ist klar und wird weiter verfolgt. Dem nächsten Waffenstillstandsabkommen folgte eine große israelische Landnahme: … fast 250 Hektar in der Nähe des Großraums Jerusalem – es verletzte die Resolution des Weltsicherheitsrates (gegen gewaltsame Landnahme, B,T.)

Das US-Außenministerium (unter der Leitung von John Kerry, B.T.) erklärte, die israelische Vorgehensweise untergrabe die amerikanischen Anstrengungen, Israel in der UN zu schützen, und drängte darauf, dass Israel jenen, die Israels Position als verhärtet kritisieren, keine Argumente liefert. Allerdings wurde diese Warnung bereits … im September 1967 gegeben, in der Zeit von Israels erster Kolonisierung des Gebietes. … wenig hat sich seit 47 Jahren (von 2014 aus gesehen, B.T.) … geändert, außer das Ausmaß der Verbrechen. …

Zu den Aussichten: Nun, da ist ein konventionelles Bild, das immer wieder auf allen Seiten wiederholt wird …: Entweder gibt es eine Zweistaatenvereinbarung, die sich auf einen überwältigenden internationalen Konsens bezieht, oder, sollte das scheitern, dann gibt es einen Staat, und Israel übernimmt die Westbank. … Einige Palästinenser favorisieren das, da sie dann einen Kampf um zivile Rechte aufnehmen können, der am Anti-Apartheid-Kampf in Südafrika orientiert ist. … Israelis kritisieren das unter Bezug auf ein sogenanntes demographisches Problem, da dann zu viele Nichtjuden in einem jüdischen Staat seien. Dies sind die am häufigsten präsentierten Alternativen …

Meine Überzeugung … ist, dass dies alles eine totale Illusion ist. Es gibt zwei andere Alternativen: Eine ist der internationale Konsens einer Zweistaatenlösung mit den Bezügen auf die Resolution von … 1976 … Die realistischere Option ist, dass Israel weiter tut, was es derzeit mit US-Unterstützung tut. … Israel übernimmt Jerusalem … mit vielen arabischen Dörfern, es bringt viele Siedler in die Region, all das ist doppelt illegal: als Verstoß gegen Weltsicherheitsrats-Resolutionen wie der von 1968, der die USA zustimmten … nicht nur mit illegaler Landnahme, sondern auch gegen die Veränderung des Status von Jerusalem. Aber das wird weiter betrieben … die Prozesse laufen auf eine Aufteilung der Westbank in eine Art Kantone hinaus … und auf eine langsame Übernahme des Jordantals, ungefähr ein Drittel der Westbank … kleine Schritte, Erklärung bestimmter Gebiete zu Militärzonen, aus denen dann Palästinenser verdrängt werden … dann folgen Grüne Zonen, Mauern, viele Techniken, die die Bevölkerung bereits von 300.000 im Jahr 1967 auf aktuell 60.000 reduziert haben. … In Ramallah kann sich noch eine palästinensische Elite etablieren mit netten Restaurants, Theatern usw. … Jedes Dritte-Welt-Land im Kolonialsystem hat Derartiges. Das erscheint mir als die realistische Alternative zur Zweistaatenlösung. … Das hat bislang recht glatt funktioniert. Wenn es fortgeführt wird, wird Israel kein demographisches Problem haben. … Das hat vor unseren Augen Form angenommen; es wird so lange fortgeführt, wie die USA es unterstützen. [Ende der Rede, Applaus der UN-Vollversammlung]

Quelle: youtube.com

Transkription und Übersetzung: Bernhard Trautvetter


[«1] Seit dem von einem rechten israelischen Täter ausgeführten Mord an Präsident Yitzhak

Rabin regiert die rechte und in Teilen rechtsextreme Netanjahu-Regierung Israel. Gegen sie hat es wiederholt zehntausendfache Demonstrationen gegeben. Noam Chomsky meint mit dieser Formulierung nicht die Menschen, die in Israel leben, sondern dessen Regierung.

Um die Vorgeschichte des von Noam Chomsky bearbeiteten Zeitraums zu erfassen, hilft diese ZDF-Terra X-Sendung: zdf.de/dokumentation/