Gefangenenaustausch und Feuerpause: Menschlich berührend, aber sicherheitspolitisch eher unbedeutend

Gefangenenaustausch und Feuerpause: Menschlich berührend, aber sicherheitspolitisch eher unbedeutend

Gefangenenaustausch und Feuerpause: Menschlich berührend, aber sicherheitspolitisch eher unbedeutend

Ein Artikel von Jürgen Hübschen

Am 24., 25. und 26. November wurden von der Hamas die ersten der am 7. Oktober genommenen Geiseln im Austausch gegen die Freilassung palästinensischer Gefangener dem Roten Kreuz übergeben. Gleichzeitig zum Gefangenenaustausch wurde eine viertägige Feuerpause vereinbart. Sie wurde in der Hauptsache damit begründet, humanitäre Hilfe für die Palästinenser zu ermöglichen. Bei den Gefangenen handelte es sich – nach den vorliegenden Meldungen – auf beiden Seiten in der Hauptsache um junge Menschen und Frauen, und auch asiatische Gastarbeiter befanden sich unter den freigelassenen Geiseln. Von Jürgen Hübschen.

Mit dieser „Auswahl“ sollte wohl der menschliche Aspekt besonders betont werden, was aber von der Sache her eher ohne Bedeutung ist. Jede freigelassene Geisel und jeder aus dem Gefängnis befreite Palästinenser, der vielleicht sogar ohne Gerichtsurteil festgehalten wurde, ist unter dem menschlichen Aspekt etwas Gutes. Zu ergänzen ist noch, dass sich die Geiseln nach israelischen Angaben in einem guten körperlichen Gesundheitszustand befinden. Damit ist aber leider die Haben-Seite der gesamten Aktion auch fast schon dargestellt.

Nach wie vor befindet sich die Mehrzahl der von der Hamas genommenen Geiseln in den Händen oder sagt man besser in den Tunneln der Hamas, und in israelischen Gefängnissen sitzen immer noch Tausende Gefangene, zum Teil jünger als 14 Jahre und nicht wenige ohne ein Gerichtsurteil.

Zwar wird jetzt von selbst ernannten Experten vollmundig angekündigt, dass dieser Gefangenenaustausch erst ein Anfang sei, aber wissen tut das niemand. Außerdem muss man darauf hinweisen, dass sich unter den weiterhin festgehaltenen Geiseln auch israelische Soldaten befinden, für deren Freilassung die Hamas sicherlich einen ganz anderen Preis verlangen wird. Vor zwölf Jahren waren für den Austausch des israelischen Soldaten Gilad Schalid – nach annähernd vier Jahren Verhandlungen – im Gegenzug mehr als 1.000 palästinensische Gefangene auf freien Fuß gesetzt worden.

Positiv ist sicherlich noch festzustellen, dass es sich offensichtlich auszahlt, die Gesprächskanäle zur Hamas offen zu halten. Dafür ist vor allem Katar zu danken, weil das Emirat an seinen Beziehungen festgehalten hat, obwohl das kleine Land im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft für die Verletzung der Menschenrechte besonders vom „Westen“ an den Pranger gestellt wurde und aktuell immer wieder übel als ein Hort für Terroristen beschimpft wurde, weil sich u.a. der Hamas-Führer Hanija in Doha aufhält.

Die humanitäre Hilfe, die während der Feuerpause ermöglicht werden soll, gilt vor allem den mehr als 1,5 Millionen Palästinensern, die im Süden des Gaza-Streifens zusammengepfercht wurden, ohne feste Unterkünfte und jede Privatsphäre, ohne regelmäßige Verpflegung und medizinische Versorgung, vor allem aber ohne jede Hoffnung, weil ihre Heimat im Norden des Gaza-Streifens durch das israelische Bombardement völlig zerstört ist. Dort fehlen sämtliche Lebensgrundlagen, um dorthin zurückzukehren. Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer, überhaupt noch von humanitären Maßnahmen für die Palästinenser zu sprechen, die unter unmenschlichen Bedingungen praktisch ein trauriges Dasein fristen. Anders kann man die Lage im Süden des Gazastreifens wohl nicht mehr beschreiben. Nicht wenige bezeichnen das, was mit den Palästinensern geschieht, mittlerweile als Massenmord, andere sprechen schon von Genozid.

Aber, so beruhigen sich die Politiker, es gibt ja wenigstens eine Feuerpause, wozu auch immer diese von der Hamas und den israelischen Streitkräften genutzt wird.

Die vereinbarte viertägige Feuerpause

Wenn man sich an seine Schulzeit erinnert, waren doch Pausen lediglich Unterbrechungen des Unterrichts. Und analog dazu ist eine Feuerpause lediglich eine Unterbrechung des Feuers, im konkreten Fall des Bombardements der israelischen Luftwaffe, der israelischen Artillerieangriffe, des Raketenbeschusses der Hamas auf Israel und der Kämpfe am Boden zwischen der Hamas und den israelischen Streitkräften – und damit auch nur eine Unterbrechung des Tötens, Verletzens und Vertreibens. Deshalb bin ich schon unter diesem Aspekt nicht in der Lage, einer Feuerpause etwas Gutes abzugewinnen. Wenn ich eine solche Pause militärisch und sicherheitspolitisch bewerte, ist sie eine zynische Maßnahme ohne jeden sicherheitspolitischen Wert, weil damit überhaupt kein Konzept verbunden ist, wie man ein dauerhaftes Cease Fire, geschweige denn ein Ende dieses sinnlosen Krieges erreichen kann. Ministerpräsident Netanjahu hat ja bereits vor der Feuerpause öffentlich verkündet, dass Israel danach weitermachen wird, die Hamas zu vernichten. Dass es dabei bislang überhaupt keine konkreten Ergebnisse gibt, lässt er dabei unerwähnt.

Er wird den Kampf fortsetzen und weiterhin versuchen, die 40.000 Hamas-Kämpfer zu liquidieren und dabei billigend in Kauf nehmen, dass weiterhin zwei Millionen Palästinenser den Preis für die Vernichtung dieser zwei Prozent der Gesamtbevölkerung bezahlen. Netanjahu hatte sich ja lange geweigert, auch nur einer kurzen Feuerpause zuzustimmen, und ist letztlich nur darauf eingegangen, weil der innenpolitische Druck durch die Angehörigen der Geiseln zu groß geworden war. Für ihn hat die Vernichtung der Hamas eindeutig Vorrang vor der Befreiung der Geiseln, obwohl auch er eigentlich wissen müsste, dass er zwar einige Kämpfer der Hamas töten kann, aber die Ideologie weiterleben wird. Sie wird nicht nur weiterleben, sondern durch die unverhältnismäßige militärische Reaktion Israels auf den Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 weitere Anhänger gefunden haben. Eine Ideologie kann man nämlich nur dann zerstören, wenn man ihren Anhängern eine bessere Alternative bietet, und davon kann ja nur immer weniger die Rede sein.

Nach vier Tagen wird also der Kampf zwischen den israelischen Streitkräften und der Hamas fortgesetzt werden, wobei Netanjahu vielleicht darauf setzt, dass ihm die Vertreibung der Palästinenser auf die Sinai-Halbinsel doch noch gelingt. Wer weiß schon, ober er nicht bereits den Plan seines Parteikollegen Omer Distri verfolgt. Distri ist ein ehemaliger Funktionär von Netanjahus Likud-Partei, der jetzt als Sicherheitsstratege am Jerusalemer „Institute for Security and Strategy“ arbeitet und zusätzlich als Rechercheur am „Israel Defense and Security Forum“ tätig ist. Distri schreibt in seinem Plan u.a. wörtlich:

„Unter dem Sicherheitsaspekt ist es am besten für Israel, den Gazastreifen zu besetzen und auf Dauer militärisch dort präsent zu bleiben… Eine robuste Bodenoffensive, verbunden mit der Besetzung des eroberten Geländes, die Errichtung neuer israelischer Siedlungen und die freiwillige Umsiedlung von Hunderttausenden Palästinensern nach Ägypten, ohne Rückkehroption, wird die Abschreckungsfähigkeit Israels entscheidend stärken, verbunden mit Einflussnahme auf den gesamten Mittleren Osten.“

Etwas Ähnliches hatte Netanjahu zu einem früheren Zeitpunkt ja selbst auch schon gesagt.

So weit die lokale militärische und sicherheitspolitische Lage, die de facto nach der Feuerpause unverändert sein wird. Anders verhält es sich in der Region. Die jordanische Botschafterin in den USA hat gerade davon berichtet, dass die israelische Luftwaffe vor einigen Tagen auch ein Feldlazarett bombardiert hat, das die jordanischen Streitkräfte im Süden des Gazastreifens aufgebaut hatten. Diese und andere Völkerrechtsverletzungen Israels erhöhen den innenpolitischen Druck auf die Regierungen in der Region jeden Tag mehr, und es besteht die konkrete Gefahr, dass andere arabische Regierungen sich zu einem militärischen Eingreifen gezwungen sehen, um den Druck aus dem Kessel zu nehmen. Das gilt besonders für Jordanien und Syrien, wo die US-Luftwaffe mehrfach angebliche Stellungen iranischer Milizen angegriffen und Israel mindestens zwei Mal die zivilen Flughäfen von Damaskus und Aleppo bombardiert hat. Auch im Irak wird die Lage immer instabiler. Fast täglich werden US-Militäreinrichtungen, die seitens der USA genauso völkerrechtswidrig wie in Syrien unterhalten werden, von irgendwelchen Milizen angegriffen, sodass die USA Anfang dieser Woche erstmalig auch im Irak Stellungen von Milizen bombardiert haben. Die Huthis im Jemen attackieren Israel immer wieder mit Raketen und haben jetzt sogar ein ausländisches Schiff interniert, das angeblich Rüstungsgüter für Israel geladen hatte.

Ein besonderer Fall für die weitere militärische Entwicklung und sicherheitspolitische Gesamtlage ist die Hisbollah. Diese Organisation agiert völlig unabhängig von der „Interimsregierung“ des Libanon und in enger Abstimmung mit dem Iran. Seit dem 7. Oktober steigert die Hisbollah ihre Angriffe auf den Norden Israels und eskaliert sozusagen horizontal. Das hat u.a. dazu geführt, dass Israel mehr als 30.000 Bürger aus diesem Bereich evakuiert, die jetzt seit Wochen mit weiteren fast 50.000 oder sogar mehr Israelis in Hotels weiter entfernt von der Grenze untergebracht sind. Sollte Israel, wie von Netanjahu angekündigt, nach der Feuerpause weitermachen wie bisher, kann ein härteres militärisches Vorgehen der Hisbollah nicht ausgeschlossen werden.

Vorläufiges Fazit mit einem Hinweis auf den aktuellen Besuch des Bundespräsidenten in Israel

Nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen waren der Austausch der Gefangenen und die zeitgleich vereinbarte Feuerpause leider nicht Teil eines sicherheitspolitischen Konzeptes, sondern der untaugliche Versuch, mit Hilfe medienwirksamer Aktionen der Gesamtentwicklung ein wenig Brisanz zu nehmen, aber nicht, diese zu stoppen.

Da niemand bislang eine echte Initiative gestartet hat, den Krieg zu beenden, und mittlerweile offensichtlich ist, dass sich Präsident Biden gegen die jüdische Lobby und auch den Kongress, der mit großer Mehrheit hinter der israelischen Vorgehensweise steht, nicht durchsetzen kann, muss man wohl davon ausgehen, dass die Feuerpause tatsächlich nur eine Pause war. Das lässt befürchten, dass sich der gerade stattfindende Ablauf für eine unbestimmte Zeit wiederholt: Hamas-Raketen auf Israel, israelisches Bombardement des Gazastreifens, dann Gefangenenaustausch in Verbindung mit einer Feuerpause, dann wieder Krieg mit der Hamas, unterbrochen von einer Feuerpause mit einem Gefangenenaustausch usw.

Dieser fatale Kreislauf könnte allerdings dazu führen, dass sich diese Art von Krieg nicht mehr lokal begrenzen lässt, sondern zu einer regionalen Ausweitung der Kampfhandlungen führt und, falls der Iran auf Seiten der Hisbollah eingreift, sogar zu einem Krieg über die Nahmittelost-Region hinaus. Dann stände letztlich wohl die Existenz Israels auf dem Spiel.

Vor diesem Hintergrund könnte und sollte der Bundespräsident bei seinem anstehenden Besuch in Israel eine neue Art von deutscher Solidarität definieren und versprechen, weg von dieser phrasenhaft formulierten Beteuerung des israelischen Rechts auf Selbstverteidigung, aber natürlich nur unter Einhaltung des Völkerrechts. Man weiß doch auch in Berlin ganz genau, dass nicht nur die Hamas, sondern in zunehmendem Maße auch Israel das Völkerrecht bricht. Die jüdische deutsch-amerikanische Schriftstellerin Deborah Feldmann hat zum Vorgehen Israels gegen die Palästinenser im Gazastreifen aktuell in einem Interview mit der SZ u.a. gesagt:

„Es gibt so viele Stimmen in Israel, die diese Gewalt für exzessiv und unverhältnismäßig halten. Der Entzug von Wasser ist völkerrechtswidrig. Die Vertreibung ist völkerrechtswidrig. Die Inkaufnahme ziviler Opfer ist völkerrechtswidrig.“

Und sie fügt hinzu: „Ich weiß nicht, welche Völkerrechtler Olaf Scholz konsultiert hat.“ In diesem Zusammenhang erklärt Deborah Feldmann weiter:

„Deutschland sollte seine bedingungslose Solidarität zur israelischen Regierung überdenken und darüber, dass die offiziellen Institutionen in diesem Land – jüdische wie nichtjüdische – bisher nur eine Art von Juden unterstützen, zu denen ich aber nicht gehöre und die durch Diskreditierung zum Schweigen gebracht werden soll.“

Dann berichtet sie von einem Angehörigen, dessen zwei Geschwister am 7. Oktober 2023 von der Hamas verschleppt wurden. Dieser Mann habe in der Knesset den Politikern vorgeworfen, dass sie Worte wie „ausrotten“, „vernichten“ und „tilgen“ benutzen. Wörtlich habe er gesagt: „Es ist meine Familie, da sind Menschen in Gaza, das ist Leben.“ Ihre Forderung, dass Solidarität gegenüber Israel viel differenzierter gesehen werden muss, unterstreicht sie mit der Aussage:

„Die Rechtsradikalen in Israel wollen den Krieg von Gog und Magog, diese eschatologischen Prophezeiungen, einen Krieg, um alle Kriege zu beenden, einen Krieg, der alle fremden Völker vernichten wird, Libanon, Iran. Aber noch sind sie nicht die Mehrheit. Wir als freie Welt müssen das verhindern. Wir müssen die Demokratie in Israel unterstützen, den Palästinensern eine Perspektive geben und den Opfern beistehen. Es ist unsere letzte Chance.“

Bundespräsident Steinmeier wird sich für seinen Besuch mit Hilfe von Sprechzetteln, die sein Stab verfasst hat, vorbereiten. Es ist allerdings zu befürchten, dass die Gedanken von Deborah Feldmann darin nicht enthalten sind. Steinmeier hat in seinen Gesprächen mit dem israelischen Staatspräsidenten Jitzchak Herzog die Chance, eine neue, ehrliche und zukunftsweisende deutsche Solidarität mit Israel zu definieren mit dem Ziel, einer Zweistaatenlösung eine Chance zu geben, obwohl diese von Premierminister Netanjahu de facto abgelehnt wird.

Deborah Feldmann schreibt diesbezüglich:

„Mein eigener Lösungsansatz lautet wie der von vielen Menschen in Israel und in der Diaspora: Lasst uns die Stimmen lauter machen, die nicht von ‚tilgen‘ reden. Sie sind die Einzigen, die eine Lösung herbeiführen können.“

Unser Präsident hat bei seinem Besuch in Israel dazu die Chance.

Titelbild: Shutterstock/ Below the Sky

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