Verfassungsgericht: „Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten“

Verfassungsgericht: „Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten“

Verfassungsgericht: „Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten“

Ein Artikel von: Tobias Riegel

Das Bundesverfassungsgericht hat einen Versuch der Bundesregierung zurückgewiesen, sich von polemischen Äußerungen abzuschirmen, die durch Meinungsfreiheit gedeckt seien. Julian Reichelt hatte eine Verfassungsbeschwerde eingelegt. In einer Entscheidung, die über den konkreten Fall hinaus Wirkung entfalten könnte, wurde festgestellt: „Dem Staat kommt kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zu.“ Auch wenn diese Aussage eigentlich selbstverständlich sein sollte, so war es doch wichtig, diese Feststellung zu erzwingen. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Journalist Julian Reichelt hat sich vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gegen Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze im Streit um Reichelts „Taliban-Tweet“ durchgesetzt, wie etwa das Medienportal Turi2 berichtet. Zitate aus der Begründung des BVerfG folgen weiter unten im Text.

Der frühere „Bild“-Chefredakteur Reichelt ist Chef des Online-Portals Nius und er hatte auf X unter anderem geschrieben, dass Deutschland „in den letzten zwei Jahren 370 Millionen Euro (!!!) Entwicklungshilfe an die Taliban (!!!!!!)“ gezahlt habe. Schulze war vor dem Kammergericht Berlin zunächst erfolgreich gegen den Tweet vorgegangen. Reichelt hatte wiederum dagegen Verfassungsbeschwerde eingelegt. Nach der Entscheidung des BVerfG müsse sich das Kammergericht mit dem Fall nun erneut befassen, so der Bericht.

Auf Antrag der Bundesregierung hatte das Kammergericht Berlin Reichelt die Verbreitung der Kurznachricht auf X untersagt, mit der Begründung: Sie sei eine unwahre Tatsachenbehauptung. Sie stelle auch keine Meinungsäußerung dar, die von der im Grundgesetz geschützten Meinungsfreiheit gedeckt sei, wie die Tagesschau berichtet. Laut BVerfG argumentierte das Ministerium, Reichelts Tweet sei geeignet, „das Vertrauen der Bevölkerung in die Tätigkeit der Bundesregierung zu gefährden“.

Im Rechtsstreit gegen Reichelts Tweet hat das Ministerium von Schulze 20.000 Euro für externe Rechtsberatung ausgegeben, berichtet der Tagesspiegel laut Turi2. Das Ministerium wolle den Rechtsstreit nicht weiter verfolgen.

Guter Schritt für die Debattenkultur

Der Inhalt des Tweets von Reichelt ist in diesem Artikel nicht Gegenstand und soll nicht bewertet werden – hier es geht nur um die prinzipiellen Aussagen des Gerichts zur Meinungsfreiheit. Dass Julian Reichelt seine Beschwerde beim Verfassungsgericht durchgefochten hat, ist wegen der über den Fall hinausreichenden Wirkung ein guter Schritt.

Auch wenn man politisch oft nicht Reichelts Meinung sein mag, möglicherweise auch im Falle des konkreten Tweets nicht: Die Entscheidung des BVerfG kann Regierungskritikern jeder Couleur helfen. Das Bundesverfassungsgericht hat damit einen Versuch der Bundesregierung, sich über Gebühr von Kritik abzuschirmen, prinzipiell zurückgewiesen und den hohen Stellenwert der Meinungsfreiheit endlich mal wieder in der öffentlichen Debatte betont – das könnte auch für andere Fälle Gewicht haben und damit für die Debattenkultur allgemein.

Ihr Schutz darf indessen nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik (…) abzuschirmen“

In seiner Pressemitteilung vom 16. April schreibt das Bundesverfassungsgericht:

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG. (…)

Dem Staat kommt kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zu. Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Zwar dürfen grundsätzlich auch staatliche Einrichtungen vor verbalen Angriffen geschützt werden, da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht zu erfüllen vermögen. Ihr Schutz darf indessen nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik – unter Umständen auch in scharfer Form – abzuschirmen, die von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll, und der zudem das Recht des Staates gegenübersteht, fehlerhafte Sachdarstellungen oder diskriminierende Werturteile klar und unmissverständlich zurückzuweisen.

Das Gewicht des für die freiheitlich-demokratische Ordnung schlechthin konstituierenden Grundrechts der Meinungsfreiheit ist dann besonders hoch zu veranschlagen, da es gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet. (…)

Die Regierung ist nicht „die Demokratie“

Kritik daran, dass das BVerfG der Beschwerde Reichelts stattgegeben hat, obwohl dieser nach der Niederlage vor dem Kammergericht in Berlin kein Hauptsacheverfahren geführt habe, formuliert die Legal Tribune Online in diesem Artikel.

Meiner Meinung nach ist die Entscheidung des Verfassungsgerichts trotz möglicherweise berechtigter formaler Einwände wichtig: Es steht unter anderem den aktuellen Bestrebungen entgegen, neue Tatbestände wie „Delegitimierung des Staates“ zu schaffen. Indirekt wird auch der Versuch geschwächt, durch extra unscharfe Begriffe die Grenze zwischen legaler Polemik und eindeutig (und zu Recht) verbotenen Handlungen wie persönlicher Beleidigung oder Volksverhetzung zu verwischen.

Das Urteil wendet sich in seiner Wirkung gegen die aktuellen Versuche, die Debattenräume zu verkleinern. In Zeiten, in denen sich Regierungen teils indirekt mit „der Demokratie“ gleichsetzen und Kritik an ihrer mangelhaften Arbeit als eine „Verhöhnung des Staates“ diffamieren wollen, ist es wichtig, dass das Verfassungsgericht auch ganz einfache Dinge noch einmal feststellt, die einst als selbstverständlich galten, wie etwa dieser Satz:

„Dem Staat kommt kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zu.“

Titelbild: Respiro / Shutterstock

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