Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang

Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang

Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang

Ein Artikel von Emmanuel Todd

Der prominente französische Historiker Emmanuel Todd sagte bereits 1976 das Ende der Sowjetunion voraus. In seinem neuen Buch „Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“ wagt er wieder den Blick in die Zukunft: Er prognostiziert den endgültigen Niedergang der westlichen Welt. Es sei unvermeidlich, dass es zu einem Einfrieren des Konfliktes zwischen der Europäischen Union und Russland komme. Ein Europa befreit von US-amerikanischem Einfluss könnte das Ergebnis sein. Deutschland komme dabei eine Schlüsselrolle zu, und diese Rolle sollte es selbstbewusst einnehmen – das ist Todds Appell in diesem Buch. Hier folgt ein Auszug. Von Redaktion.

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Dieses Buch wurde in den Monaten Juli, August und September 2023 geschrieben, dem Sommer der ukrainischen Gegenoffensive. Es handelte sich damals um ein in die Zukunft blickendes Buch. Der Fall der Ukraine ist heute offensichtlich und das Buch ist also de facto zu einer eher klassischen historischen Erklärung geworden. Zugegeben, die im Vergleich zu Russland geringe Größe der Ukraine und die militärisch-industrielle Unzulänglichkeit der USA machten die Vorhersage leicht. Man musste nur verstehen, dass die Langsamkeit des russischen Vorgehens nicht auf eine besondere Unfähigkeit zurückzuführen war, sondern auf den Willen, Menschen zu sparen, ganz im Gegensatz zu dem, was uns die westlichen Medien unermüdlich erzählten. Presse und Fernsehen schilderten uns Tag für Tag eine russische Strategie, die wie zu Stalins Zeiten auf den massiven Einsatz von Kanonenfutter setzte. Während ich diese Zeilen schreibe, Anfang Juli 2024, ist das Gegenteil der Fall und die Analyse in diesem Buch bleibt gültig: Die russische Armee rückt entlang der gesamten Front vor, langsam, aber mit einer ganz allmählichen Beschleunigung. Ihr unmittelbares Ziel ist nicht die Eroberung von Territorien, sondern die materielle und menschliche Zerstörung der ukrainischen Armee, die ihrerseits zu wenige Soldaten hat und von der NATO nicht ausreichend mit Waffen versorgt wird. Da sie das russische Spiel mitspielt, opfert die weitgehend vom Pentagon gesteuerte ukrainische Armee bei ihren Verteidigungsanstrengungen frisch rekrutierte und schlecht ausgebildete Wehrpflichtige. Eines Tages, so das russische Kalkül, wird sie zusammenbrechen und mit ihr das Regime in Kiew.

All dies ist nicht schwer zu verstehen. Die Hypothese eines militärisch-industriellen Neustarts der USA ist aufgrund ihrer Armut an Ingenieuren und ihrer unüberwindbaren Vorliebe für die Produktion von Geld statt von Maschinen ausgeschlossen. Selbst wenn sich ein leichter Fortschritt bei der Waffenproduktion abzeichnete, würde sich dann natürlich China, das immer noch die offizielle Zielscheibe der USA ist, industriell an der Seite Russlands engagieren, um die westlichen Bemühungen zunichtezumachen. Aber auf eine allgemeinere Art und Weise sorgen der moralische und soziale Zusammenbruch, der aus dem Nullzustand des Protestantismus resultiert – welcher den theoretischen Kern dieses Essays ausmacht – dafür, dass der amerikanische Niedergang unumkehrbar ist. Dieses Buch wurde von einem Leser von Marx und Weber geschrieben, nicht von Clausewitz oder Sun Tzu.

Der »Rest der Welt« zieht Russland vor, das wird immer deutlicher. Seine Gleichgültigkeit gegenüber den Anliegen des Westens hat dazu geführt, dass die russische Wirtschaft dem Schock der Wirtschaftssanktionen standhalten konnte. In jüngster Zeit hat die Unmoral des Westens in Bezug auf das Palästinenserproblem diesen Rest der Welt in seiner Feindseligkeit nur noch bestärkt. Die blutige Strafexpedition des Staates Israel in Gaza, die von Europa und den USA akzeptiert und vor allem mit amerikanischen Waffen durchgeführt wurde, hat die gesamte muslimische Welt auf die Seite Russlands getrieben. Die militärische Schwäche der arabischen Welt und die pathologische Feindseligkeit der USA gegenüber dem Iran haben dazu beigetragen, dass sich Russland in der Praxis ohne besondere diplomatische Bemühungen zu einer Art Schutzschild des Islams entwickeln konnte.

Russland wurde keineswegs an den Rand gedrängt, sondern ist wieder zu einem zentralen Akteur in der Welt geworden.

Die Ukraine konnte also ihr Ziel, alle ihre Gebiete zurückerobern (unter der technischen Leitung des Pentagons), einschließlich der Bevölkerung auf der Krim und im Donbass, die nicht nur russischsprachig ist, sondern sich auch als russisch betrachtet, nicht erreichen. Die Historiker der Zukunft werden dieses Projekt der Unterwerfung russischer Bevölkerungsgruppen durch das Kiewer Regime als Marker für einen westlichen Angriffskrieg in Erinnerung behalten. All diese Elemente wurden in diesem Buch, das in gewissem Sinne bereits ein Geschichtsbuch ist, eingehend analysiert.

In diesem Postskriptum möchte ich jedoch eine neue, zukunftsgerichtete Frage stellen: Warum akzeptiert der Westen seine Niederlage nicht? Warum scheint er, während ich dies schreibe, bereit zu sein, auch den letzten Ukrainer zu opfern und vor allem durch seine Pläne, mit Langstreckenraketen russisches Territorium anzugreifen, das Risiko eines thermonuklearen Schlagabtauschs mit Russland einzugehen?

Die russische Militärdoktrin ist explizit geboren aus der massiven demografischen Überlegenheit des Westens seit dem Zerfall der UdSSR: Im Falle einer Bedrohung für Nation und Staat wird sich Russland taktische Nuklearschläge, das heißt auf dem Schlachtfeld, erlauben. Mein Eindruck ist, dass dieses doktrinäre Element in erster Linie auf die Polen abzielt, die an der russischen Grenze traditionell sehr unruhig sind. Die Leichtfertigkeit, mit der westliche Politiker und Journalisten mit dieser Doktrin umgehen, macht mir Angst.

Die Blindheit gegenüber dem nuklearen Risiko ist nicht die einzige. Es gibt noch eine andere, die im Grunde noch seltsamer ist und die nihilistische Komponente der westlichen Haltung noch mehr offenbart. Diese zweite und erstaunliche Blindheit kann man so formulieren: Die Möglichkeit des Friedens wird von unseren Politikern verneint, als ob er, mehr noch als ein thermonuklearer Austausch, eine Bedrohung wäre. Die Russen wiederholen nämlich immer wieder, dass sie nicht die Absicht haben, ihre Armee über die Ukraine hinaus zu führen. Für einen Historiker oder Demografen ist das eine Tatsache. Ich hatte übrigens die Gelegenheit, in einem französischen Fernsehsender europäische Politiker, Journalisten und Akademiker als geistig »gestört« zu beschreiben, die glauben, dass Russland mit seiner schrumpfenden Bevölkerung von 144 Millionen Menschen, das Mühe hat, seine 17 Millionen Quadratkilometer zu besetzen, sich nach Westen ausdehnen will. Dieselben Eliten, die gestern nicht in der Lage waren, vorherzusehen, dass Russland Krieg führen würde (Moskau hatte immerhin angekündigt, dass es die Aufnahme der Ukraine in die NATO nicht akzeptiert werden würde), sind heute nicht fähig, sich vorzustellen, dass Russland danach Frieden will, nicht aus Gutmütigkeit, sondern weil es in seinem Interesse liegt.

Russland wird in der Ukraine nicht nachgeben. Europa ist in keiner Weise bedroht. Frieden sollte möglich sein.

Buchtipp: Emmanuel Todd: „Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“, aus dem Französischen von Tabea A. Rotter, 350 Seiten, Westend Verlag

Titelbild: Oestani, CC BY-SA 4.0 creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons