Arbeit macht glücklich und frei. Mehr davon, finden Union und SPD und holen zum Schlag gegen den Acht-Stunden-Tag aus. Drin sein sollen künftig bis zu 13 Stunden. Carpe diem – für Deinen Boss? Ach was, es geht darum, Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Steht so im Koalitionsvertrag. Dumm nur, dass Soziologen, Ökonomen und Mediziner etwas anderes wissen, nämlich: Mit der Plackerei nehmen Krankheiten und Unfälle zu und die Produktivität ab. Schwamm drüber, denkt der Kanzler, und lässt die Putzfrau antanzen. Von Ralf Wurzbacher.
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Manchmal wird aus heißer Luft eine heiße Schlagzeile. „Exklusiv. Die internationale Fleiß-Tabelle“, titelte vor knapp drei Wochen die Zeitung mit den vier großen Buchstaben. Der Beitrag behandelte eine „Analyse“ des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zum Umfang der hierzulande geleisteten Arbeitsstunden im Vergleich mit 26 anderen Industrienationen. Ergebnis: Die BRD rangiert an drittletzter Stelle. Die Botschaft: Die Deutschen sind faul. Die sogenannte Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Blätterwald, sämtliche namhaften Medien griffen sie auf. Nur eines erfuhr das Publikum nicht: Die ganze Aufregung entbehrt jeder Grundlage.
Für die nötige Aufklärung hat die „Aktion gegen Arbeitsunrecht“ gesorgt. Dabei musste sie gar nicht lange recherchieren, um herauszufinden: Die viel zitierte Studie „existiert überhaupt nicht“. Auf Anfrage erfuhren die Aktivisten beim IW: „Von uns kam am Sonntag nur eine Pressemeldung. In der Berichterstattung wurde daraus eine Studie. Nun ja.“ Auch das stimmt nicht. Denn es gab nicht einmal eine Pressemitteilung, sondern bloß eine „IW-Nachricht“ vom 18. Mai mit der schneidigen Überschrift: „Arbeitszeiten: Griechen arbeiten 135 Stunden im Jahr mehr als Deutsche.“ Wenn schon die hitzegepeinigten Helenen fester ranklotzen als der deutsche Michel …
Zahlensalat
Jedenfalls nahmen die Dinge ihren Lauf, wie die Initiative auf ihrer Webseite schildert: „Die Nachrichtenagentur AFP machte aus der an sich belanglosen wie substanzlosen IW-Nachricht dann eine ‚Studie‘ und deutsche Leitmedien übernahmen das Gebräu offensichtlich ungeprüft – die meisten bis heute –, um eine Fleißdebatte zu entfachen, die auf längere Arbeitszeiten und einseitige Flexibilität zu Lasten von Lohnabhängigen und ihren Familien zielt.“ So funktioniert Kampagnenjournalismus. Nur fünf Tage davor hatte der Bundeskanzler das Thema beim CDU-Wirtschaftstag gesetzt: „Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, polterte da Friedrich Merz (CDU). Die vermeintliche Expertise aus Köln kam da gerade recht, wenngleich sie nichts beweist. Grundlage ist ein Zahlensalat der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Daten zu Voll- und Teilzeit, Überstunden, Schwarzarbeit und Selbstständigkeit vermengt und daraus einen Pro-Kopf-Wert an Arbeitspensum herleitet.
Die OECD weist selbst auf die Limitierung des Materials hin, wobei gerade im Fall Deutschlands eine gewaltige Unwucht wirkt. Die hohe Teilzeitquote – am Montag vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fürs erste Quartal mit knapp 40 Prozent beziffert – reißt den Durchschnitt nach unten. Svenja Flechtner, Juniorprofessorin für Plurale Ökonomik an der Universität Siegen, wittert Täuschung. Die Fokussierung auf ein sinkendes Stundenmittel sei „irreführend, denn sie suggeriert, dass die Deutschen fauler geworden seien und fleißiger werden müssten“, befand sie gegenüber den NachDenkSeiten und fügte hinzu: „Insgesamt arbeiteten die Deutschen vor zwei Jahren mit 55 Milliarden Stunden so viel wie nie zuvor.“
Zwölf Stunden malochen
Die NachDenkSeiten hatten schon einmal vor einer Woche im Beitrag „Denkfaule Politiker. Knickt die Wirtschaft ein, muss der Deutsche arbeitsmüde sein“ aufgezeigt, wie haltlos das Narrativ von den „arbeitsscheuen Deutschen“ ist. In Kürze: Es wird hierzulande mehr gearbeitet denn je. Es gab nie mehr Erwerbspersonen. Jährlich werden in Massen Überstunden geleistet, davon mehr als die Hälfte unbezahlt. Die Wirtschaftskraft bemisst sich an der Produktivität, den Lohnstückkosten, nicht an Arbeitszeiten. Studien belegen eine Kausalität zwischen Arbeitszeitverkürzung und höherer Produktivität bei mehr Wohlbefinden und besserer Gesundheit der Beschäftigten. Die fortschreitende Rationalisierung (Digitalisierung, KI) ersetzt sukzessive die menschliche Arbeitskraft. Bei wachsender Arbeitslosigkeit (offiziell fast drei Millionen Betroffene) wäre eigentlich eine gerechtere Verteilung von Arbeit geboten, etwa in Gestalt einer geregelten Vier-Tage-Woche.
Alles egal. Die Bundesregierung verfolgt einen Plan. Sie will laut Koalitionsvertrag den Acht-Stunden-Tag kippen und durch „eine wöchentliche Höchstarbeitszeit“ nach dem Muster der EU-Arbeitszeitrichtlinie ersetzen. Danach darf die durchschnittliche Arbeitszeit für einen Sieben-Tage-Zeitraum die Marke von 48 Stunden einschließlich Überstunden nicht überschreiten. Ihre Begründung einer „besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ muss man Union und SPD nicht abnehmen. Tatsächlich erlaubt schon die bestehende Rechtslage „eine erhebliche Flexibilität“, wie es in einer aktuellen Kurzstudie des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung heißt. So könne die Arbeitszeit „ohne Rechtfertigung auf bis zu zehn Stunden täglich ausgeweitet werden, wenn innerhalb von sechs Monaten ein Ausgleich erfolgt“. Außerdem bestünden zahlreiche tarifvertraglich festgelegte branchen- und tätigkeitsbezogene „Abweichungen und Ausnahmen“. Zum Beispiel sind deshalb in Krankenhäusern längere Arbeitszeiten als acht beziehungsweise zehn Stunden gang und gäbe.
Zum Verbiegen flexibel
Aber das reicht der Regierung nicht, so wenig wie den sie treibenden Kapitallobbyisten. Sie wollen die Menschen praktisch allzeit und nahezu unbegrenzt disponibel machen. Nach den Befunden der HSI-Forscher würde die Einführung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit „faktisch nach Abzug der Mindestruhezeit von elf Stunden und der entsprechenden Ruhepause von 45 Minuten eine tägliche Höchstarbeitszeit von zwölf Stunden und 15 Minuten ermöglichen“. Dabei sei längst erwiesen, „dass Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden die Gesundheit gefährden“. Langfristig komme es häufiger zu „stressbedingten Erkrankungen, sowohl zu psychischen Leiden wie vermehrtes Auftreten von Burn-out-Symptomatik, physischen und psychischen Erschöpfungszuständen, als auch zu körperlichen Erkrankungen, etwa Schlaganfälle, Diabetes und erhöhtes Krebsrisiko“. Zudem steige das Unfallrisiko ab der achten Arbeitsstunde „exponentiell“ an und seien Einsatzzeiten von über zehn Stunden „hoch riskant“.
Man müsse „genau hinschauen, was mit ‚Flexibilisierung‘ gemeint ist“, bemerkte die Ökonomin Flechtner. „Für die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit, Familie und Freizeit ist flexible Arbeitszeiteinteilung besonders dann hilfreich, wenn man selbst beeinflussen und einteilen kann, wann Arbeitszeit erbracht wird.“ Davon sei im Koalitionsvertrag aber keine Rede. Die Abschaffung der täglichen Höchstarbeitszeit schaffe „eine andere Flexibilität, nämlich Schichten von bis zu zwölf Stunden“. Das könne für Betriebe attraktiv, „dürfte aber selten im Interesse der Beschäftigten sein“. Im Blick hat Flechtner auch die Situation von Eltern, Alleinerzieherinnen und Personen, die sich um Angehörige kümmern. Angesichts des bereits hohen Arbeitspensums von Menschen mit Betreuungs- und Pflegeverantwortung könne eine Erhöhung der Arbeitszeit „nur zulasten von Gesundheit, Kindern und Familien, partnerschaftlicher Arbeitsteilung und gesellschaftlichem Engagement gehen“.
Jetzt schlägt‘s dreizehn
Bezeichnend ist, dass ausgerechnet die SPD einmal mehr die Axt an eine zentrale Errungenschaft der Arbeiterklasse anlegt. Dabei schrecken deren Führer auch nicht vor grober Täuschung zurück. In der ARD sagte der designierte Generalsekretär Tim Klüssendorf am 18. Mai, es gehe um Flexibilität, die sich auch die Arbeitnehmer wünschten, um zum Beispiel „vier mal zehn Stunden zu arbeiten, dann habe ich den Freitag frei“. Vorsicht Falle! Denn derlei ist schon auf Basis des geltenden Rechts möglich. Taro Tatura vom Hamburger Landesverband der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di stellte dazu in einem Gastbeitrag für neues deutschland (nd) fest: „Man will also mit Fällen, für die eine Änderung gar nicht notwendig ist, Akzeptanz für das Vorhaben schaffen.“
Tatsächlich greife die Koalition nicht den Acht-Stunden-Tag an, der sowieso keine Verbindlichkeit hat, sondern die schon heute möglichen zehn Stunden. Daraus drohten, so Tatura, demnächst bis zu 13 Stunden zu werden. Für manche Branchen wäre das natürlich attraktiv. Der Gewerkschafter macht das an Beispielen fest: So könnte im Einzelhandel künftig eine einzige Schicht eine komplette Öffnungszeit abdecken und eine Fabrik in nur zwei statt drei Schichten auf 24 Stunden kommen. Oder in der Gastronomie werde in der Hauptsaison zwei Monate lang 13 Stunden täglich geschuftet, in der Nebensaison dann zwei Monate lang 6,2 Stunden pro Tag. Am Ende stehe trotzdem ein Schnitt von 48 Stunden. Damit werde in Kombination mit der geplanten Steuerbefreiung von Mehrarbeitszuschlägen, gerade im Niedriglohnsektor, „eine über das gesunde Maß hinausgehende Ausbeutung befördert“, warnt Tatura.
Auf dem Holzweg
Aber selbst jene, die sich „Standortrettung“ mit sozialer Eiseskälte durch Mehrarbeit und Lohndrückerei erhoffen, sind auf dem Holzweg. „Eine Arbeitszeitderegulierung, die Erkenntnisse von Arbeitsmedizin und Arbeitsforschung ausblendet und an der sozialen Realität vorbeigeht, dürfte wirtschaftlich sogar kontraproduktiv wirken“, meint WSI-Fachfrau Amélie Sutterer-Kipping.
Abseits der „fatalen Folgen“ für Arbeitnehmer stelle dies langfristig auch das Gesundheitssystem und Arbeitgeber „vor enorme Herausforderungen“. Obendrein wären weitere Rückschritte in puncto Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu befürchten. „Die Vorhersehbarkeit und Planbarkeit von Arbeitszeiten“ stellten hierbei wichtige Schlüsselfaktoren dar, und „es droht der Effekt einer weiteren Verringerung der Erwerbsarbeit gerade bei Frauen“.
Feline Tecklenburg, Co-Vorstandsmitglied der Initiative „Wirtschaft ist Care“ (WiC), denkt einen Schritt weiter: „Die Annahme, dass Wohlstand auf bezahlter Arbeit beruht, ist so verkürzt wie altmodisch und führt zu dem Eindruck, soziale Tätigkeiten wären ein Luxus, der freundlicherweise von der Industrie mitfinanziert würde“, sagte sie den NachDenkSeiten. Es verhalte sich genau umgekehrt: „Nur durch die Unmengen an unbezahlt geleisteter Sorgearbeit kann in Deutschland gewirtschaftet werden.“ Das anzuerkennen, wäre angebracht, „aber nicht die arrogante Herablassung eines männlichen Millionärs, der im Zweifel noch nie viele Wochen am Bett einer Angehörigen verbracht hat und sicher nicht die eigene Wohnung putzt“, so Tecklenburg. Das ging an die Adresse des Bundeskanzlers.
Endlich Klassenkampf?
Und wer kümmert sich um Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) und dessen Kabinettsgenossen? „Spätestens mit diesem Vorstoß muss Schluss sein mit falscher Nachsichtigkeit der Gewerkschaften gegenüber der ehemals sozialdemokratischen SPD“, schrieb Tatura. „Ob im Betrieb, Parlament oder auf der Straße – diesen Angriff darf unsere Klasse nicht unbeantwortet lassen. Jede und jeder Abgeordnete, die oder der für diese Gesetzesänderung stimmt, ist unser Gegner.“ Man darf gespannt sein. „SPD buckelt vor kleinem Mann!“ Das wäre eine heiße Schlagzeile.
Titelbild: Kittyfly/shutterstock.com