Viel wurde in den vergangenen Tagen über „konfessionelle Konflikte in Südsyrien“ geschrieben und geredet. Die „vom schiitischen Islam abstammenden“ Drusen würden von „sunnitischen beduinischen Stämmen“ bekämpft, wurde über Medien verbreitet. Allerdings ist die ethnische und religiöse Vielfalt Syriens und der gesamten Region nicht der Grund, warum dort Kriege geführt werden. Die großartige kulturelle und soziale Vielfalt zwischen dem östlichen Mittelmeer und der Persischen Golfregion – und darüber hinaus – ist eine Waffe, mit der verschiedene Akteure die Gesellschaft Syriens und der gesamten Region spalten und für eigene Interessen nutzen wollen. Von Karin Leukefeld.
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Seit mehr als 100 Jahren – mit der Zerteilung der Region durch das britisch-französische Sykes-Picot-Abkommen (1916) und die anschließende britisch-imperiale Balfour-Erklärung (1917) – intervenieren Großbritannien, Frankreich, Deutschland (E3) und die USA in die Angelegenheiten souveräner Staaten Westasiens. Ihr Statthalter ist Israel, das sie aufrüsten und finanzieren, um ganz in imperial-kolonialer Tradition die Region zu zerteilen und zu beherrschen.
Wie damals geht es um die Kontrolle von See- und Transportwegen zwischen Ost und West, es geht um Gas, Öl und andere Rohstoffe, und es geht um Land; um Land, das die Menschen der Region seit Generationen bewohnt, bearbeitet und entwickelt haben und das die USA, die E3 und Israel sich aneignen wollen.
Südsyrien – Sweida, Qunaitra, Deraa
In den südsyrischen Provinzen Sweida, Deraa und Qunaitra leben arabische und Beduinenstämme, Christen, sunnitische und schiitische Muslime, Drusen und Tscherkessen. Seit der Unabhängigkeit Syriens vom französischen Mandat (April 1946) sind sie alle Bürger der Syrischen Arabischen Republik. Syrien ist ein säkularer Staat, wie die Verfassung festlegt (die aktuell außer Kraft gesetzt ist). „Religion ist zwischen mir und Gott, der Staat ist für uns alle“, ist ein bekannter Satz in Syrien. Die drei Provinzen sind Zeugnis der gesellschaftlichen Vielfalt. Kirchen, Moscheen, Gotteshäuser der Drusen wechseln sich ab. Als der Krieg 2011 begann, suchten Tausende Muslime aus der Provinz Deraa Zuflucht in den Kirchen von Kharaba, einem christlichen Dorf in Sweida.
Das Zusammenleben war nie konfliktfrei, doch kennen die alten Volksgruppen und Kulturen der Region Mechanismen, die helfen, Konflikte zu lösen oder sich zu versöhnen. So gibt es seit Jahrhunderten Konflikte der sesshaften Bevölkerung mit Beduinenstämmen, und zwar nicht nur in Syrien und nicht nur in Sweida. Es ist kein religiöser Konflikt, sondern es ist ein Konflikt um Land, der vor allem auf völlig verschiedenen Lebensweisen basiert.
Beduinen leben in Stämmen und ziehen mit ihren Herden (Schafen, Ziegen, Kamelen) quer über die arabische Halbinsel, sie respektieren keine Regierungen, da sie mit ihren Herden und Zelten in vielen Staaten zu Hause sind. Konflikte treten mit Sesshaften auf, wenn Beduinen mit ihren Herden quer durch deren Ansiedlungen, Felder und Plantagen ziehen, weil es ihre uralten Wanderrouten sind. Die Tiere fressen die Pflanzen, zertrampeln neue Aussaaten und ziehen durch Wasserbecken, die für die Bewässerung der Landwirtschaft angelegt wurden. In Kriegs- und Krisenzeiten werden die Beduinenstämme gegen gutes Geld zu Trägern von Nachrichten über Grenzen. Sie helfen, Waffen und Kämpfer ebenso wie Flüchtlinge zu schmuggeln. Sie transportieren Waren aller Art über beliebige Grenzen. Jenseits ihrer Stammesverbände kennen sie keine Loyalitäten und haben daher viele Auftraggeber.
Was hat den aktuellen Konflikt ausgelöst?
Am Wochenende des 12./13. Juli wird ein drusischer Kaufmann auf dem Weg von Sweida nach Damaskus von Beduinen entführt, er wird ausgeraubt und geschlagen. Eigentlich ist das nichts Ungewöhnliches in der Region, das mal mehr, mal weniger häufig geschieht und normalerweise mit Verhandlungen und Geldzahlungen gelöst wird. Drusenmilizen werden alarmiert, um zu verhandeln und den Mann zu befreien. Doch an diesem Tag werden sie von einer großen „Streitmacht“ verschiedener Beduinenstämme erwartet. Es wird nicht verhandelt, es wird gekämpft, der Kampf eskaliert.
Die Eskalation
Am 14. Juli berichtet die „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ mit Sitz in London über „Schnell-Hinrichtungen“.
Als Opfer werden „mehrheitlich“ Angehörige der syrischen Sicherheitskräfte genannt, auch Beduinen und Drusen seien getötet worden. Die Machthaber in Damaskus schicken bewaffnete Truppen des Verteidigungs- und Innenministeriums, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, wie es in einer Erklärung heißt. Ob absichtlich oder aus Versehen ziehen Teile der Truppen aus Damaskus allerdings nach Sweida, in die Stadt hinein und greifen Häuser von Drusen an.
Der israelische Verteidigungsminister Israel Katz erklärt, Israel werde die Drusen „nicht im Stich lassen“, beschuldigt die syrischen Regierungstruppen, die Drusen anzugreifen, und fordert deren Abzug.
Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, werden Panzer der syrischen Armee zerstört, die vor Sweida Stellung bezogen haben. Die Zahl der Toten steigt rapide an. Auch eine Kirche in der Ortschaft Al Soura wird in Brand gesetzt, der Priester mit seiner Familie wird getötet, Häuser von Christen in dem Ort gehen in Flammen auf. Ahmed al-Sharaa, Interimspräsident und Oberkommandierender der syrischen Armee, ordnet den Rückzug der syrischen Truppen aus Sweida an, der offensichtlich nicht eingehalten wird. Die Kämpfe gehen weiter.
Videoaufnahmen (die der Autorin vorliegen) zirkulieren, auf denen bewaffnete Männer auf den Straßen von Sweida zu sehen sind, die offensichtlich zu Einheiten der aus Damaskus entsandten syrischen Armee gehören. Ihre Parolen richten sich gegen die Drusen, gegen „Ungläubige“. Andere Videoaufnahmen, die teilweise mit Kameras aufgenommen sind, die die Täter am Leib oder auf dem Kopf tragen, zeigen, wie bereits am Boden liegenden Männern – vermutlich Drusen – mit langen Messern die Kehle durchstochen, der Kopf abgeschnitten wird. Andere Aufnahmen zeigen Männer, die Häuser und offizielle Gebäude in Brand setzen und sich stolz vor der Zerstörung selbst filmen. Vorgehen und Taten erinnern an die Massaker an Alawiten im syrischen Küstengebiet Anfang März 2025 und an die Angriffe auf Drusen in den zwei Damaszener Vororten Jaramana und Sehnaya Ende April, Anfang Mai 2025. In beiden Fällen werden als Täter die extremistischen-dschihadistischen Kämpfer von Hay’at Tahrir al-Scham (HTS) genannt, die heute Einheiten innerhalb der syrischen Armee bilden.
Am 16. Juli 2025 bombardieren israelische Kampfjets/Drohnen das Verteidigungsministerium in Damaskus am Umayyaden-Platz im Zentrum der Stadt.
Ahmed al-Sharaa ordnet erneut den Rückzug der syrischen Truppen aus Sweida an. Gleichzeitig mobilisieren arabische und Beduinenstämme aus der Provinz Deraa und aus Hama ihre jungen Männer, um die Beduinen in Sweida zu unterstützen. Die Kämpfe gehen weiter, die Zahl der Toten steigt täglich um weitere 100 an.
Am gleichen Tag beginnen in Damaskus Oppositionelle einen „Schweigeprotest“ gegen das Geschehen in Sweida. Sie versammeln sich unter dem Motto „Heute und jeden Tag: Syrisches Blut ist heilig”, was so viel heißt wie: Syrer dürfen Syrer nicht töten. Das Motto steht auf einem schwarzen Transparent, das die Demonstranten am Zaun des syrischen Parlaments in Damaskus aufgehängt haben. Daneben steht: „Gewalt ist keine Antwort, die Antwort ist Dialog.“ Seit der Machtübernahme von Ahmed al-Sharaa und Hay’at Tahrir al Sham im Dezember 2024 ist das Parlament aufgelöst und steht leer. Auf Schildern fordern die Demonstranten einen „nationalen Dialog“ und ein Ende der Gewalt im ganzen Land. Syrien benötige dringend „Gerechtigkeit, Frieden und politische Lösungen“. Als die Demonstranten am nächsten Tag ihren Protest fortsetzen wollen, werden sie von Anhängern des Machthabers Al Sharaa beschimpft, sie seien Verräter und werden mit Holzknüppeln bedroht.
Die Waffen schweigen
Am 19. Juli wird zum dritten Mal seit Beginn der Kämpfe von US-Außenminister Marco Rubio eine Waffenruhe verkündet. Ausgehandelt wird das von Tom Barrack, dem US-Botschafter in der Türkei, der auch US-Sonderbeauftragter für Syrien und Libanon ist.
Er erklärt, der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der syrische „Interimspräsident“ Ahmed al Sharaa hätten sich geeinigt, die Waffen schweigen zu lassen. Die USA, die Türkei und Jordanien unterstützten die Vereinbarung, auch Paris und London stimmten zu, berichten die Medien. Per X (vormals Twitter) ruft Barrack alle bewaffneten Gruppen, „Drusen, Beduinen und Sunniten“ auf, ihre Waffen niederzulegen und „gemeinsam mit den anderen Minderheiten eine neue, geeinte syrische Identität in Frieden und Wohlstand aufzubauen.“
Der Plan sieht vor, dass der Militärrat von Sweida als bewaffnete Gruppe in die syrische Armee integriert und anschließend in Sweida als offizielle Ordnungsmacht eingesetzt werden soll. Damit die verschiedenen Parteien ihr Gesicht wahren können, sollen sowohl die Fahne der Drusen als auch die neue syrische Fahne gehisst werden. In den einwöchigen Kämpfen werden mehr als 1.000 Menschen getötet. Die Berichterstattung variiert je nach Perspektive.
Nachbetrachtung
Die intensive Berichterstattung über das Geschehen in Sweida macht deutlich, wie viele Staaten und Akteure die Zukunft Syriens zu beeinflussen versuchen. Die syrische Gesellschaft bleibt mit ihren Forderungen – auch in der Berichterstattung – außen vor.
Der Waffenstillstandsplan, der von dem US-Beauftragten Barrack am 19. Juli 2025 bekannt gegeben wird, war tatsächlich im Grundsatz bereits eine Woche zuvor bei einem Geheimtreffen zwischen Syrien und Israel in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku ausgehandelt worden. Das Treffen, das von den USA vermittelt worden war, hatte im Schatten eines offiziellen Besuchs von Ahmed al-Sharaa in Baku stattgefunden, bei dem dieser mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev über Gaslieferungen an Syrien verhandelt hatte. Bei dem Geheimtreffen waren von syrischer Seite das Außenministerium (Al Shibani) und Geheimdienstvertreter anwesend, Israel war durch eine Geheimdienstdelegation vertreten.
Israel forderte Berichten zufolge Damaskus auf, die drei südsyrischen Provinzen zu entmilitarisieren. Damaskus stimmte zu und forderte im Gegenzug von Israel, die Führung in Damaskus zu stabilisieren. Israel stimmte zu, dass syrische Truppen nach Sweida marschieren und die dort als Militärrat von Sweida bekannte drusische Miliz entwaffnen sollten. Allerdings wurde Damaskus gewarnt, dass es dabei nicht zu Massakern wie an den Alawiten Anfang März im syrischen Küstengebiet kommen sollte.
Ob aus Absicht oder wegen chaotischer Befehlsstrukturen in der syrischen Armee ist der Plan gründlich schiefgegangen. Mehr als 1.000 Tote sind zu beklagen, aber letztlich haben sich die USA und Israel durchgesetzt. Die USA wollen das Anliegen Israels stärken, den Süden Syriens zu entmilitarisieren und damit de facto unter israelische Kontrolle zu bringen. So will Washington Israel zumindest vorerst daran hindern, gegen die Türkei, die ihren Einfluss im Norden Syriens ausgebaut hat, eine neue Front zu eröffnen. Für Israel ist das ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Umsetzung von „Davids Korridor“, der die Kontrolle Israels vom besetzten und annektierten Golan bis zum Euphrat und in den Nordirak ausdehnen soll, auf dem Weg zu „Groß-Israel“.
Syrien geht weiter geschwächt aus dem einwöchigen Kampf um Sweida hervor. Die USA und Israel gehen als Sieger vom Platz, dschihadistische Kräfte werden ihre Kräfte neu sammeln, während die Spaltung der syrischen Gesellschaft sich weiter vertieft hat.
Weitere Informationen zu den Ereignissen siehe auch hier.
Titelbild: Steve Mann/shutterstock.com