In Berlin wurde kürzlich ein Buch vorgestellt, das Europa schonungslos den Spiegel vorhält: „Mit Russland – Für einen Politikwechsel“. Die Historiker und Politikwissenschaftler Stefan Luft und Jürgen Wendler sowie der polnische Journalist Jan Opielka diagnostizieren in ihrem Werk einen „frappierenden Wirklichkeitsverlust“ in der öffentlichen Debatte und zeichnen das Bild eines angeschlagenen, ja, „kranken“ Europas, das sich selbst ins Abseits manövriert. Zugleich fordern sie einen Politikwechsel ein, wie schon im Titel deutlich gemacht wird. Unterstützt werden sie dabei von Günter Verheugen, der das Buch vorstellte und auch das Vorwort beigesteuert hat. Der Titel wirkt in diesen Zeiten als Provokation: Das seit 2022 oft gemiedene „R-Wort“ in Begleitung der Präposition „mit“ soll zum Umdenken anregen. Ein Bericht von Éva Péli.
Russland: Der Feind vor der Tür – oder in unserem Kopf?
Stefan Luft macht gleich zu Beginn klar, wie die Lage nach Auffassung führender Militärs und Politiker aussieht: Russland ist der Feind. Der Angriff habe bereits begonnen, und Deutschland und Europa befänden sich nicht mehr im Frieden, sondern in einem gefährlichen Zwischenstadium. Russische „Einflussagenten“ sollen schon bei uns sein, um Propaganda zu streuen und Sabotageakte vorzubereiten. Die Konsequenz: Militarisierung und Aufrüstung werden massiv vorangetrieben, Deutschland soll bis 2028/2029 abwehrbereit sein.
Was Luft besonders beunruhigt: Der sogenannte „Operationsplan Deutschland“ wird seit Frühjahr 2024 genutzt, um – wie er es nennt – „politisierende Militärs“ einzusetzen, die „teilweise kontrafaktische Bedrohungsnarrative“ in die Bevölkerung tragen. Zwar wird Russland vorgeworfen, Angst und Verunsicherung zu verbreiten, doch Luft meint, dass „diese Phänomene mindestens ebenso stark aus der eigenen Propaganda resultieren“. Eine Umkehr? Kaum in Sicht.

Quelle: Tilo Gräser
Ein seltsamer Konsens und die Illusion vom „starken Europa“
Es sei doch erstaunlich, findet Luft, wie sich fast alle Bundestagsparteien (bis auf AfD, BSW und Die Linke), die Kirchen und die meisten Medien diesem Kurs angeschlossen haben. CDU, CSU und Grüne würden sich gar mit den „aggressivsten Positionen“ überbieten. Dabei werden die unvermeidlichen Opfer und Kosten eines möglichen Krieges – Tote, Verletzte, ökologische Schäden – beängstigend beiseitegeschoben; ein „frappierender Wirklichkeitsverlust“ eben.
Ein weiteres Phänomen, das der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen anprangert: Die Begriffe „Europa“ und „Europäische Union“ werden bewusst miteinander verschmolzen. Wenn man von der „stärksten konventionellen Armee Europas“ spricht, meint man in Wahrheit die EU. Der Hintergedanke sei klar: Wer nicht zur EU gehört (wie Russland und die Türkei), gehört nicht zu Europa. Das zeugt von einer „Illusion der europäischen Verteidigungsidentität“, die für Verheugen weder wünschenswert noch erreichbar ist. Schließlich sei über die Hälfte der EU-Länder eng an die USA gebunden. Die Vorstellung, französische Atomwaffen könnten zum europäischen Schutzschild werden, hält er für abwegig.
Der Westen am Scheideweg: Eine unbequeme Wahrheit
Jürgen Wendler, einer der Autoren, sieht den „Westen am Scheideweg“ und fordert einen Perspektivwechsel. Er kritisierte bei der Buchvorstellung die Fixierung auf Russland im Diskurs und forderte eine Selbstreflexion des Westens. Die einstigen Säulen westlicher Dominanz – Industrieproduktion, militärische Stärke, die globale Rolle des US-Dollars – zeigen Risse, wie er feststellt. Die USA hätten ihre Industriemacht weitgehend eingebüßt, traditionelle Militärmittel wie Flugzeugträger seien durch neue Waffensysteme bedroht, und die Bestrebungen der BRICS-Staaten, den Dollar zu umgehen, gefährdeten dessen Dominanz.
Er sieht die inneren Probleme des Westens, wie die Polarisierung und die Verengung des Meinungskorridors, als Spiegelbild der äußeren Krise. Wendler plädiert für eine Rückbesinnung auf westliche Werte wie Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit. Er verwies auf Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“, der die Grenzen westlicher Hegemonie früh erkannt habe, und forderte, die Lehren aus der Geschichte, wie dem Westfälischen Frieden 1648 und dem Wiener Kongress 1815, für die Gestaltung eines friedlichen Miteinanders zu nutzen. Die UN-Charta bleibe der Schlüssel für ein umfassendes Sicherheitssystem „von Vancouver bis Wladiwostok“.
Mitteleuropa: Brücke oder Festung der Angst?
Jan Opielka, der polnische Journalist und Co-Autor, widmete sich in seinem Beitrag der Rolle Mitteleuropas. Er kritisierte, wie die ehemaligen Ostblockstaaten ihre Chance auf eine Brückenfunktion verspielen und stattdessen zu „gefährlichen Kriegstreibern“ werden, die eine Festung aus Panzern und Raketen errichten. In Polen werde sogar die slawische Herkunft geleugnet, um keine Berührungspunkte mit Russland zu haben. Opielka erinnerte daran, dass das gewaltlose Ende des Kalten Krieges in Polen und anderen Ländern in Vergessenheit geraten ist – ein Erbe, das auch Gorbatschows Politik zu verdanken war.
Diese selektive Erinnerung führe zu einer tief verwurzelten „Russland-Aversion“ und einer fast bedingungslosen „Amerika-Gläubigkeit“, die die Interessen der USA unkritisch übernehme und zu einer gefährlichen „Kriegsmentalität“ führe. Opielka forderte, sich der „vollständigen Geschichte“ zu erinnern und gewaltlose Lösungen – wie die Teilung der Tschechoslowakei 1992 – als Inspiration zu nutzen, allerdings nicht als Blaupause, betonte er.

Quelle: Tilo Gräser
Kooperation statt Konfrontation: Die Überlebenschance
Günter Verheugen fasste die Botschaft des Buches zusammen: Die heutige Situation birgt das Potenzial für einen ganz, ganz großen Konflikt. Er, der die Kuba-Krise miterlebt hat, empfindet die aktuelle Lage als gefährlichste Situation seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wie er bei der Buchvorstellung erklärte. Die unberechenbare US-Politik unter Donald Trump mache es nicht leichter. Die westliche Strategie, Russland zu ruinieren, sei „ruhmlos gescheitert“. Er kritisierte die Logik der Waffenlieferungen an Kiew: Die USA stellen her, Europa kauft, die Ukraine bekommt. Verheugen vermutet, dass die Ukrainer irgendwann genug hätten und ein Ende des Konflikts forderten. Und er warnt: „Je länger man damit wartet, der Sache ein Ende zu setzen, desto höher wird der Preis.“

Quelle: Tilo Gräser
Es scheint vergessen, dass eine der fundamentalen Aufgaben der EU die friedliche Streitbeilegung ist. Verheugen sieht ein bisher unbekanntes Feindbild entstehen, das weit über erkaltete Beziehungen hinausgeht, und warnte: „Wer Feindschaft zwischen Völkern sät, der wird genau das ernten: unversöhnliche Feindschaft mit allen Folgen.“ Er kritisierte, dass der Westen Konfrontation statt Kooperation betreibt und so tut, als gäbe es keine Erfahrung damit, was mit Kooperation erreicht werden kann. Das Rad müsse nicht neu erfunden werden, so der ehemalige SPD-Außenpolitiker, da es bereits die Instrumente der Abrüstung, Rüstungskontrolle, Rüstungsbegrenzung, vertrauensbildende Maßnahmen sowie wirtschaftliche, kulturelle, soziale und technologische Kooperation gebe. Die Lösung ist aus seiner Sicht einfach: Diplomatie. Im Atomzeitalter kann Konfrontation nur der Weg ins Verderben sein. Die einzige Möglichkeit, unser Überleben zu sichern, sei die Kooperation, so schwer sie im Einzelfall auch sein mag.
Das Buch „Mit Russland“ bietet nicht nur eine Bestandsaufnahme, sondern auch Lösungsansätze. Der Titel ist fast wie ein Ratgeber: Europa ist krank, das Problem erkannt, hier ist das Rezept. Die Autoren plädieren für eine 180-Grad-Kehrtwende zur „Zeitenwende“: „Nicht Aufrüstung und Krieg, sondern Neubesinnung auf Werte und Friedenslösungen.“
Verantwortung für die Zukunft und die Rolle der Ukraine
Verheugen betonte die Verantwortung für die Zukunft und unsere Nachkommen. Er kann diese Verantwortung in den jüngsten Reden der Bundesregierung nicht entdecken, in denen das „Feindbild Russland“ in „sehr kräftigen Farben“ erneut unterlegt wurde. Es sei kein Verrat an der Ukraine, an den tapferen Menschen dort, wenn wir für Frieden eintreten. Für die Ukraine gebe es nur zwei Alternativen: entweder ein verhandelter Frieden, der eine handlungsfähige und überlebensfähige Ukraine bestehen lässt, oder Kapitulation. Dazwischen gebe es nichts. Das Beste für die Ukraine sei, das Töten zu beenden und dem Land die Chance zum Wiederaufbau zu geben. Hierfür seien zwar Veränderungen notwendig, eine Wiederherstellung der Vorkriegsukraine sei innenpolitisch kaum denkbar. Dabei zu helfen, wäre eine wirklich wichtige europäische Rolle.
Kritische Stimmen aus dem Publikum: Die NATO als „Verbrecherbündnis“
Doch das Publikum blieb bei der Buchvorstellung etwas ratlos bei der „Symptombehandlung“. Fred Schumacher, Autor des Buches „Waffen für die Welt, Rheinmetall und das Geschäft mit dem Krieg“, meldete sich aus dem Publikum zu Wort und kritisierte offen die „Kriegstreiber“ im eigenen Land. Er nannte dabei explizit Rheinmetall, Banken und BlackRock.
Für Schumacher ist die NATO der „Knackpunkt“: ein „Verbrecherbündnis“ und ein Instrument zur Kontrolle Europas. Er forderte deshalb einen Austritt Deutschlands aus der NATO. Stefan Luft merkte zwar an, dass diese radikale Sichtweise auf dem Podium nicht durchgängig geteilt werde, doch zeigte der Disput die Tiefe der Meinungsverschiedenheiten auf.
Eine besonders drängende Frage stellte Tilo Gräser vom Nachrichtenmagazin Hintergrund an Günter Verheugen – sie bezog sich auf sein im vergangenen Jahr mit Petra Erler veröffentlichtes Buch „Der lange Weg zum Krieg“: „Wie lange dauert dieser Weg aus dem Krieg, wozu dieses neue Buch ein Angebot macht?“, wollte der Journalist wissen.
Verheugen zeigte sich hier ungewohnt ratlos angesichts der „absolut unberechenbaren“ US-amerikanischen Politik, die jede Prognose unmöglich mache.
Der lange Weg zur Genesung und eine dringende Leseempfehlung
Die Zeit für eine „Tiefenpsychologie“ und einen radikalen Verhaltenswechsel sei vielleicht noch nicht gekommen, aber der Weg dazu sei angezeigt. Wenn die Annahme stimmt, dass Russland Deutschland 2029 angreift, bleibe noch etwas Zeit, darüber nachzudenken, ob man dem die Stirn bieten oder doch den „Schleichweg der Diplomatie“ wählen sollte. Uns könnte das retten, die Ukrainer allerdings nicht.
Wer tiefer in die hier skizzierten Perspektiven eintauchen möchte, dem sei das Buch „Mit Russland – Für einen Politikwechsel“ der Autoren Stefan Luft, Jan Opielka und Jürgen Wendler ans Herz gelegt. Es bietet eine fundierte Analyse der aktuellen geopolitischen Lage und regt dazu an, über gängige Narrative hinauszublicken und neue Wege für Europas Zukunft zu denken. Wie Günter Verheugen bei der Buchvorstellung in Berlin betonte, behandelt dieses Werk weit mehr als nur die EU- und deutsch-russischen Beziehungen oder die Zukunft Russlands und der Ukraine. „Es geht um unsere eigene Zukunft,“ so Verheugen, „ja sogar um unsere Überlebenschance.“
Stefan Luft, Jan Opielka, Jürgen Wendler: Mit Russland – Für einen Politikwechsel (mit einem Vorwort von Günter Verheugen). Neu-Isenburg 2025, Westend Verlag, Taschenbuch, 320 Seiten, ISBN 978-3987913303, 28 Euro.
Titelbild: Éva Péli
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„Die Ukraine war von Anfang an eine geopolitische Figur auf dem weltpolitischen Schachbrett“