Wir müssen friedenstüchtig werden – Die stärkste konventionelle Armee Europas ist eine Schnapsidee

Wir müssen friedenstüchtig werden – Die stärkste konventionelle Armee Europas ist eine Schnapsidee

Wir müssen friedenstüchtig werden – Die stärkste konventionelle Armee Europas ist eine Schnapsidee

Oskar Lafontaine
Ein Artikel von Oskar Lafontaine

Der Philosoph des Atomzeitalters, Günther Anders, hat das prometheische Gefälle in seinem 1956 erschienenen Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ als die größte Herausforderung seiner Zeit bezeichnet. Er sah schon Mitte des letzten Jahrhunderts die immer größer werdende Kluft zwischen der technischen Entwicklung und der Fähigkeit der Menschen, ihre Produkte zu verstehen und verantwortungsvoll damit umzugehen. Die Menschen stellten Dinge her, von denen sie keine Vorstellung mehr haben, fasste er seine Kritik zusammen und hatte dabei in erster Linie die atomare Aufrüstung der beiden Supermächte USA und UdSSR im Auge. Schon damals konnte sich wohl kaum jemand vorstellen, was es bedeutete, wenn Naturwissenschaftler sagten, die Menschheit habe mittlerweile die Fähigkeit, sich selbst mehrfach zu vernichten. Von Oskar Lafontaine.

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Kinderglaube an den US-Atomschirm

Diese Unfähigkeit, sich die Zerstörungskraft der Atomwaffen vorzustellen, diese „Fähigkeitslücke“ aller Aufrüstungsbefürworter zeigt sich heute in besonderer Weise. War es vor wenigen Jahren noch eine ernsthafte Diskussion, ob das Zwei-Prozent-Ziel der NATO sinnvoll und notwendig sei, so sind heute die „Rüstungsexperten“ aller Couleur in Politik und Journalismus überzeugt, dass es unabdingbar ist, fünf Prozent des BIP auszugeben, um die „Fähigkeitslücken“ gegenüber Russland zu schließen.

Bereits in der Vergangenheit fruchteten alle Hinweise darauf, dass die NATO im Vergleich zu Russland das Zehnfache für „Verteidigung“ ausgibt, nichts. Kaufkraftbereinigt sei es ja nur das Vierfache der Ausgaben Russlands, beschwichtigten die Aufrüstungsbefürworter, und schließlich ginge es ja nicht um absolute Zahlen, sondern eben um das Schließen von Fähigkeitslücken. Aber spätestens jetzt, nach der Bejahung des Fünf-Prozent-Ziels durch die führenden Politiker Deutschlands von Friedrich Merz bis Alice Weidel und alle Bundestagsparteien einschließlich der Linken – sie macht im Bundestag Lärm, stimmt aber im Bundesrat dem Aufrüstungspaket zu – ist die Grenze zum Wahnsinn endgültig überschritten. Wer ernsthaft behauptet, man könne 250 Milliarden Euro, die Hälfte des Bundeshaushaltes, für Aufrüstung ausgeben, ist nicht mehr zurechnungsfähig.

Und hier kommt noch einmal auf banale Weise Günther Anders ins Spiel. Die ganzen Experten können sich offensichtlich nicht vorstellen, dass der böse Putin mit einem einzigen Atomschlag alle ihre schönen neuen Panzer, Flugzeuge und Schiffe außer Gefecht setzen kann. Das ganze Kriegstüchtigkeitsgelaber ist angesichts des atomaren Potenzials der Russischen Föderation nur noch lächerlich. Als Gegenargument taugt auch der Kinderglaube an den verlässlichen Atomschirm der USA nicht mehr. Kein US-Präsident, welcher Couleur auch immer, wird die Zerstörung New Yorks, San Franciscos oder Chicagos riskieren, um Europa zu retten. Dass Trump dieses Risiko eingehen würde, glauben wahrscheinlich nur noch Ursula von der Leyen und Kaja Kallas.

Es hilft alles nichts. Die Europäer müssen ihre „Fähigkeitslücke“ im Denken schließen. Sicherheit gibt es nur gemeinsam, und Sicherheit für Europa gibt es nur gemeinsam mit Russland. Wir müssen friedenstüchtig werden und wieder in der Lage sein, ernsthafte Friedensverhandlungen zu führen. Das setzt voraus, auch die Sicherheitsinteressen der anderen Seite, in diesem Fall Russlands, zu berücksichtigen. So, wie die USA keine russischen Truppen und Raketen ohne Vorwarnzeiten an ihren Grenzen dulden würden, so wenig kann man erwarten, dass Russland Truppen und Raketen aus NATO-Ländern an seinen Grenzen akzeptiert. Wer das, wie die europäischen Staatsmänner Merz, Macron und Starmer, nicht begreift, wird den seit Jahren herbeigesehnten Frieden in der Ukraine nicht erreichen. Dabei hat der von den USA vom Zaun gebrochene Ukraine-Krieg nicht nur in der Ukraine selbst, sondern auch in ganz Europa bereits großen Schaden angerichtet, während in den USA noch keine einzige Fensterscheibe klirrte.

Kategorien des Ersten Weltkrieges

Uncle Sam reibt sich die Hände, macht Milliardengeschäfte mit Rüstung, zerstört die europäische Gasleitung Nord Stream, um sein Fracking-Gas zu verkaufen, erhebt Zölle, erzwingt europäische Investitionen in den USA und hat sich den Zugriff auf die seltenen Erden der Ukraine gesichert. Nicht zu vergessen: Den Wiederaufbau des zerstörten Landes soll Europa finanzieren.

Im Atomzeitalter kann man nicht mehr in den Kategorien des Ersten Weltkrieges denken, militärisch nicht und schon gar nicht geostrategisch. Die multipolare Welt ist entstanden, weil immer mehr Schwellenländer wirtschaftlich aufgeholt haben und weil immer mehr Länder Atomwaffen besitzen. Die Idee, die stärkste konventionelle Armee Europas zu schaffen, ist im Atomzeitalter eine Schnapsidee. Welchen Nutzen hätte sie, wen will Merz damit beeindrucken?

Wie man sich als Land ohne Atomwaffen vor dem Erpressungspotenzial einer Supermacht schützen kann, hat im vorigen Jahrhundert der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt gezeigt. Vernunft und Diplomatie sind im Atomzeitalter wirkungsvollere Waffen als Panzer und Raketen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Weltwoche Nr. 33.25.

Titelbild: Jacek Wojnarowski/shutterstock.com

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