Eine Wahrheitskommission für den Donbass?

Eine Wahrheitskommission für den Donbass?

Eine Wahrheitskommission für den Donbass?

Ein Artikel von Clivia von Dewitz

Nach der Absage des in Budapest geplanten Treffens zwischen Präsident Trump und Präsident Putin bleibt die Hoffnung auf Fortschritte in Richtung einer Beendigung des Ukraine-Konflikts vorerst unerfüllt. Unabhängig davon sollte jedoch eine zentrale Frage nicht aus dem Blick geraten: Wie ist die ukrainische Armee zwischen April 2014 und Februar 2022 im Donbass und in den übrigen östlichen Gebieten mit überwiegend russischsprachiger Bevölkerung mit der eigenen Bevölkerung umgegangen? Zwar steht derzeit das Geschehen seit dem russischen Einmarsch 2022 im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit – insbesondere die begangenen Menschenrechtsverletzungen. In welchem Umfang die russische Seite tatsächlich für die ihr vorgeworfenen Verbrechen verantwortlich ist, wird sich wohl erst nach Kriegsende zweifelsfrei klären lassen. Ein Beitrag von Clivia von Dewitz.

Weit weniger Beachtung findet dagegen der innerukrainische Konflikt im Osten des Landes, der sich ab dem 15. April 2014 zu einem blutigen Bürgerkrieg entwickelte. Bis zum völkerrechtswidrigen Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar 2022 kostete dieser Konflikt über 14.000 Menschen das Leben – vor allem unter den Bewohnern der östlichen Regionen der Ukraine. Dieser seit Jahrzehnten auf den unterschiedlichsten Ebenen schwelende innerukrainische Konflikt zwischen den östlichen und westlichen Landesteilen schlug in eine aktive militärische Auseinandersetzung um, als die ukrainische Regierung am 15. April 2014 eine „Antiterror-Operation“ gegen die Stadt Slowjansk im Bezirk Donezk einleitete. Zuvor hatten die Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk im Donbass ihre Unabhängigkeit erklärt, aus Sorge, die nach den Maidan-Protesten 2014 in Kiew installierte Regierung könne die in der Region vorherrschende russische Sprache und Kultur benachteiligen.

Im Verlauf dieses Konflikts kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen, darunter Bombardierungen ziviler Gebiete und zahllose Opfer unter der Zivilbevölkerung. In Donezk erinnert seit Juni 2017 ein Denkmal an nahezu 200 Kinder, die während der Kämpfe getötet wurden.

Es ist an der Zeit, die Geschehnisse im Donbass unabhängig und unparteiisch aufzuklären. Doch wie könnte das geschehen? Da die meisten der vom Krieg betroffenen Gebiete heute unter russischer Kontrolle stehen, wäre formal die Russische Föderation für eine Aufarbeitung der dortigen Menschenrechtsverletzungen zuständig, auch wenn diese Gebiete bisher von der internationalen Gemeinschaft nicht als Teil Russlands anerkannt werden.

Wahrheitskommission oder Untersuchungsausschuss?

Eine rein innerstaatliche Untersuchung wie etwa durch einen Untersuchungsausschuss würde international vermutlich auf Skepsis stoßen und kaum als unparteiisch gelten. Vor diesem Hintergrund sollte geprüft werden, ob die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission nach internationalem Vorbild möglich wäre. Als Modell dienen könnte etwa die südafrikanischen TRC, die im Zuge der Aufarbeitung der Vergangenheit bei den Opferanhörungen den Opfern einen sehr würdevollen Rahmen boten, oder nach dem Beispiel der kanadischen TRC, die auf die Anerkennung des erlittenen Unrechts und auf Wiedergutmachung für die Betroffenen abzielte, oder nach dem Vorbild der guatemaltekischen Comisión de Esclarecimiento Histórico (CEH), die sich auf die umfassende Dokumentation von Gewalttaten konzentrierte.

Eine solche Wahrheitskommission könnte, unabhängig von staatlichen Machtstrukturen, dazu beitragen, die Erfahrungen der Zivilbevölkerung im Donbass zu dokumentieren und einen Prozess der gesellschaftlichen Verständigung anzustoßen. Dabei sollten die sowohl von ukrainischen Staatsangehörigen wie von (jetzt) russischen Staatsangehörigen begangenen Menschenrechtsverletzungen gleichermaßen thematisiert werden. Dadurch könnten, unabhängig von staatlichen Machtstrukturen, die Erfahrungen der Zivilbevölkerung im Donbass dokumentiert und ein Prozess der gesellschaftlichen Verständigung angestoßen werden. Analog zur guatemaltekischen Wahrheitskommission sollte eine solche Kommission idealerweise von einem internationalen Experten geleitet werden, um Unparteilichkeit und Glaubwürdigkeit zu gewährleisten. Selbstverständlich müssten die Details einer solchen Kommission von russischen Experten ausgearbeitet werden.

Wahrheitskommissionen anderer Länder als Vorbild?

In Südafrika kam es nach dem Ende der Apartheid 1994 zu den ersten freien Wahlen aller Südafrikaner und zum Wahlsieg des African National Congress (ANC) unter Nelson Mandela. Das Land entschied sich bewusst gegen eine rein strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit und für die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC). Sie schuf durch fast 22.000 schriftliche Opferberichte und rund 2.000 öffentliche Anhörungen einen würdevollen Rahmen für die Stimmen der Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen und legte 1998 einen fünf Bände umfassenden Bericht über die Menschenrechtsverletzungen, die von 1960 bis 1994 begangen worden waren, vor. Der Wiedergutmachungsausschuss legte der Regierung Empfehlungen für Entschädigungen und symbolische Wiedergutmachungsleistungen vor. Der Amnestieausschuss hatte die Kompetenz, Tätern Straffreiheit zuzugestehen, die ihre Taten, welche politisch motiviert sein mussten, gestanden. Für die Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in und um den Donbass würden wohl insbesondere der Opferausschuss und der Wiedergutmachungsausschuss der TRC als Vorbild dienen können.

Prekär ist die Frage, wer den Opfern in dieser militärischen Auseinandersetzung in den ehemaligen östlichen Gebieten der Ukraine eine Entschädigung zahlen sollte. Denkbar wäre daher, die internationale Gemeinschaft in die Verantwortung zu nehmen – etwa durch einen europäischen oder transatlantischen Spendenfonds. Europa und die USA spielten in der Entstehungsphase des Konflikts eine indirekte Rolle: Sie unterstützten nach den Maidan-Protesten von 2013/14 die neue ukrainische Regierung politisch und finanziell und militärisch. Diese westliche Unterstützung trug, ebenso wie die ablehnende Haltung Russlands gegenüber dem Machtwechsel in Kiew, zur weiteren Polarisierung des Landes und schließlich zur Eskalation des Konflikts im Donbass bei. Auch die später unter internationaler Vermittlung geschlossenen Minsker Vereinbarungen (Minsk I im September 2014 und Minsk II im Februar 2015) konnten die Gewalt nicht nachhaltig eindämmen. Beide Abkommen scheiterten letztlich daran, dass ihre politischen und sicherheitsbezogenen Bestimmungen insbesondere von der ukrainischen Seite nicht umgesetzt wurden.

Struktur und Mandat der vorgeschlagene Wahrheitskommission

So könnte der Donbass für ein solches Wahrheitskommissionmodell richtungsweisend sein. Die Kommission sollte sich auf schwere Menschenrechtsverletzungen beschränken, die zwischen dem 20. Februar 2014 und dem 24. Februar 2022 auf jenen Gebieten begangen worden sind, die bis September 2022 zum Staatsgebiet der Ukraine gehörten und inzwischen zum Staatsgebiet der Russischen Föderation gehören.

Im Einzelnen müssten russische Juristen sowie weitere Experten einen Gesetzentwurf ausarbeiten, der anschließend von der Duma verabschiedet werden müsste – analog dem TRC-Akt in Südafrika. Es sollte außerdem erwogen werden, russische Schamanen in die Kommission aufzunehmen und an uralte russische Traditionen der Schlichtung und eines menschlichen Umgangs mit Opfern anzuknüpfen.

Ich schlage folgende Eckpunkte vor: Der Kommission sollten drei bis sechs Mitglieder angehören, unterstützt von einem Team von etwa 100 Mitarbeitern. Ein Ermittlungsteam sollte die Aussagen der Opfer prüfen und deren Wahrheitsgehalt verifizieren. Dieses Team sollte internationale Experten einbeziehen, um Unabhängigkeit, methodische Qualität und Glaubwürdigkeit sicherzustellen.

Die Kommission sollte über einen Zeitraum von zwei Jahren tätig sein mit der Option einer Verlängerung von ein bis zwei Jahren, während Opfer und Angehörige angehört werden und auf Grundlage dieser Zeugnisse ein abschließender Bericht erarbeitet wird.

Die Finanzierung der Kommission muss von Beginn an gesichert sein. Es ist zu empfehlen, dass sich neben der Russischen Föderation auch die Vereinten Nationen (UN) an der Finanzierung und institutionellen Unterstützung beteiligten. Dadurch ließe sich die internationale Legitimität der Kommission stärken und ihre Unabhängigkeit gegenüber nationalen Interessen besser gewährleisten.

Ziel: Versöhnung durch Wahrheit

Eine solche Wahrheits- und Versöhnungskommission würde einen entscheidenden Beitrag leisten, die vielfach verdrängten und politisch instrumentalisierten Ereignisse im Donbass zwischen 2014 und 2022 aufzuarbeiten. Ihr Ziel wäre nicht die strafrechtliche Sanktionierung, sondern die Herstellung historischer Wahrheit, die Anerkennung des erlittenen Leids und die Förderung gesellschaftlicher Verständigung. Durch die Einbindung internationaler Expertise ließe sich sicherstellen, dass ihre Ergebnisse sowohl innerhalb Russlands als auch international als glaubwürdig und legitim anerkannt werden.

Langfristig könnte eine solche Kommission nicht nur zur Versöhnung zwischen den betroffenen Bevölkerungsgruppen im Donbass beitragen, sondern auch als Modell für eine umfassendere Friedenskommission dienen, die nach dem Ende des Russland-Ukraine-Konflikts eine Annäherung und Versöhnung zwischen beiden Ländern fördern könnte.

Angesichts der derzeit stark durch Misstrauen und Feindseligkeit geprägten bilateralen Beziehungen könnte eine unabhängige, faktenbasierte Aufarbeitung der Konfliktgeschichte im Donbass eine Grundlage für Dialog, Anerkennung von Verantwortung und die Etablierung einer gemeinsamen historischen Wahrheit für den gesamten Russland-Ukraine-Konflikt bieten. Eine transparente, unparteiische Untersuchung im Donbass würde somit einen wichtigen institutionellen und normativen Beitrag zu einem dauerhaften Frieden leisten und gleichzeitig die Entwicklung einer politischen Kultur fördern, die historische Wahrheit und Verantwortung über nationale Narrative stellt.

Über die Autorin: Clivia von Dewitz ist Richterin und wurde 2024 an der Universität Bremen zu Restorative Justice habilitiert. 2005 hat sie zu NS-Gedankengut und Strafrecht (§§ 86, 86a und 130 StGB) promoviert und 1997 ein Praktikum bei der südafrikanischen Wahrheitskommission absolviert und zum Umgang mit seiner Apartheid-Vergangenheit publiziert. Ihr Buch „Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung. Zur südafrikanischen Wahrheitskommission und deren Übertragbarkeit auf den Ukraine-Konflikt“ ist im Februar 2024 im Westend Verlag erschienen.

Titelbild: Jose HERNANDEZ Camera 51/shutterstock.com