„Ein großer Krieg wird politisch vorbereitet“ – wo steht die Friedensbewegung dabei?

„Ein großer Krieg wird politisch vorbereitet“ – wo steht die Friedensbewegung dabei?

„Ein großer Krieg wird politisch vorbereitet“ – wo steht die Friedensbewegung dabei?

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Realisiert die Bevölkerung, was das politische Großvorhaben Kriegstüchtigkeit bedeutet und was es mit der damit verbundenen Aufrüstung auf sich hat? Nein, glaubt Reiner Braun, ein Urgestein der Friedensbewegung. Im NachDenkSeiten-Interview spricht der Historiker und Journalist über die aktuelle Lage und macht sich Gedanken über den Zustand der Friedensbewegung. Was läuft gut? Wo liegen Schwächen? Was müsste getan werden, um die Friedensbewegung zu stärken? Braun gibt darauf Antworten und spricht kritisch von einem „Friedensopportunismus“ in Teilen der Linken. Von Marcus Klöckner.

Marcus Klöckner: Herr Braun, das Glas Wasser ist für manche halb voll, für andere halb leer. Wenn Sie auf die Friedensbewegung Deutschland schauen: Wie sieht es da aus Ihrer Sicht aus?

Reiner Braun: Wir haben einen durchaus mobilisierenden Aktionsmonat September/Anfang Oktober hinter uns mit drei großen Aktionen: am 13. September die Kundgebung organisiert vom BSW, den 27. September als große Solidaritätsaktion mit Palästina und die bundesweite Friedensdemonstration in Berlin und Stuttgart am 3. Oktober.

Da war viel los – aber nicht genug, oder?

Es bleibt aber dabei: Die Mobilisierung für den Frieden, gegen Krieg und Hochrüstung entspricht lange nicht den Notwendigkeiten, die sich aus der aktuellen Kriegsgefahr und der Kriegsvorbereitung ergeben. Die Friedensbewegung ist noch lange nicht eine gesellschaftlich breit getragene Massenbewegung gegen die Kriegspolitik der Regierenden. Dabei ist das Hauptproblem ihre mangelnde Ausstrahlungskraft, ihre zu geringe Überzeugungsfähigkeit in breite Teile der Bevölkerung. (Noch) ziehen die Lügen und die Feindbildpropaganda des „aggressiven Russen im Vorgarten“, die uns sekündlich über alle Kanäle eingeimpft werden. Deren Wirkung kann und darf nicht unterschätzt werden, unsere Aufklärungsmöglichkeiten dagegen sind begrenzt und sicher auch nicht intensiv und kreativ genug.

Wo liegen die Schwächen aufseiten der Friedensbewegung?

Allein die Frage, wie viele Infostände hat es denn in Vorbereitung der Demonstration am 3. Oktober gegeben, zeigt das Problem, sicher ist bei allen Fortschritten auch unsere Social-Media-Arbeit verbesserungsfähig. Traditionelle Partner wie Gewerkschaften, Kirchen und Umweltverbände sind bei großem Engagement Einzelner und einzelner Initiativen in ihnen – freundlich formuliert – kaum noch aktiv für den Frieden. Ich glaube auch, dass die gesamten Auswirkungen des Kriegskeynesianismus und der wahnsinnigen Hochrüstung in seiner vollen gesellschaftlichen Dimension von vielen noch nicht realisiert sind.

Wie meinen Sie das?

Es überwiegt in breiten Teilen der Bevölkerung nach wie vor eine Haltung der Verunsicherung, des Frusts nach innen, der Ablehnung und Wut ohne persönliches Engagement. Duckmäusertum und Anpassung sind vielfältig anzutreffen, ein politischer Opportunismus weit verbreitet. Das alles trifft auf eine Friedensbewegung, die auch trotz mühsam erreichter Annäherung verschiedener Organisationen und Initiativen nicht über eine überzeugende Ausstrahlung verfügt. Der 3. Oktober war für mich ein Schritt in die richtige Richtung, in Stuttgart mehr noch als in Berlin, aber es bleibt viel Arbeit, viel Gehirnschmalz und wohl auch Selbstüberwindung und die Aufgabe von überkommenden Denkmustern notwendig, um den dramatischen Herausforderungen gerecht zu werden.

Aber was braucht es?

Es bedarf durchaus einer Neuformierung, die sicher – bei aller Wertschätzung des jahrzehntelangen Engagements bewährten Aktiver – auch zu einem Generationswechsel der Verantwortung führen sollte. Kompliziert, herausfordernd, aber notwendig.

Was meinen Sie mit „Neuformierung“?

Ich meine damit, unter Übernahme wertvoller Erkenntnisse zu einer Wiederbelebung des kollektiven Verantwortungsdenkens und -handelns unter neuen Bedingungen zu kommen. Der Neoliberalismus hat nachhaltige ideologische Prägungen mit sich gebracht, die gesellschaftliches Denken weit gegenüber individualistischem zurückgedrängt haben. Nun stehen Generationen vor den Trümmern der falschen Krisenbewältigung der letzten 40 bis 50 Jahre und müssen sich, brutal vor existenzielle Herausforderungen gestellt, ihre materiellen Interessen klarmachen – auch, dass es nur kollektiv geht, etwas für sich durchzusetzen. Die angeblich alternativlose Weichenstellung in Richtung Krieg zwingt die jüngeren Generationen geradezu, sich in den Friedenskampf einzubringen (siehe den raschen Aufwuchs der Initiativen gegen die Wehrpflicht) und daraus neue gesellschaftliche oder perspektivisch gar wirtschaftliche Konsequenzen zu ziehen. Meiner Meinung nach wird auch jede Generation ihren eigenen politischen und sozialen Weg „zum Frieden“ finden. Dabei sollte an viele erfolgreiche Auseinandersetzungen, politischen Überlegungen und strukturellen Entwicklungen sicher angeknüpft werden, ein organisches Ineinandergreifen mit der gestandenen Friedensbewegung ist sinnvoll. Früher oder später werden sich diese Entwicklungen auch in neuen politischen und organisatorischen Strukturen ausdrücken.

Aktuell überschlagen sich die Nachrichten in Sachen NATO, Ukraine und Russland wieder einmal. Im „Kessel“ ist ein hoher Druck. Gerade haben Medien berichtet, Pistorius wolle eine flächendeckende Musterung. Wo stehen wir im Hinblick auf die Gefahr eines realen Krieges?

Ein großer Krieg wird durch die NATO und die Bundesregierung materiell, politisch, gesellschaftlich und emotional vorbereitet. Jede Illusion darüber, dass dem angeblich nicht so sei und es doch nur um eine Stärkung der Abschreckung geht, kann katastrophale Folgen haben. Es geht um das „Ganze“: 500 Jahre westlicher, insbesondere US-Hegemonie mit der Ausplünderung der Welt kommen an ihr Ende. Dieses zum Untergang verdammte westlich-koloniale Profitsystem muss „gerettet“ werden, durch eine zutiefst reaktionäre Ideologie „make America great again“, durch die sich kriegerisch gebärdende EU. Dagegen wehrt sich mit immer mehr Erfolg der Großteil der Welt, der ökonomisch, politisch und gesellschaftlich immer stärker wird.

Worum geht es dabei?

Um eine neue Weltordnung. Und dieses Ringen zwischen dem alten Untergehenden und dem neuen, sich Entwickelnden ist historisch fast nie friedlich abgegangen. Dieses Mal wäre aber ein Krieg ein Atomkrieg und damit das Ende der Menschheit. Die Atombombe – siehe Albert Einstein – hat eine historisch neue Situation geschaffen, die große Kriege der „Giganten“ bei Strafe des Unterganges ausschließt. Dies scheint Trump mehr begriffen zu haben als Merz und andere europäische Politiker. Notwendig ist unabdingbar, dass sich alle Anti-Kriegs-Kräfte zusammenfinden, um die Kriegstreiber zum Frieden zu zwingen.

Wie kann das Funktionieren?

Dies beinhaltet eine weltweit agierende Friedensbewegung, aber auch Regierungen, Parteien, die an Frieden, Kooperation und multipolarem Zusammenleben, also an einer Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ interessiert sind und davon profitieren. Es geht um eine Kooperation ganz unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Kräfte, die teilweise schwankend, divers und vielfältig sind. Die Überlebensfrage führt sie zusammen, das Monster Krieg muss mindestens eingeschränkt, wenn nicht – wie in der UN-Charta formuliert – ausgerottet werden.

Wäre Deutschland im Hinblick auf seine Geschichte für ein derartiges Unterfangen prädestiniert? Deutschland hat doch in Sachen Krieg eine besondere historische Verantwortung.

Wir haben tatsächlich aufgrund der Geschichte eine Verantwortung, die geplante umfassende Militarisierung unseres Landes abzuwehren. Die Wiedereinführung des Zwangsdienstes, der Wehrpflicht – in welcher Form auch immer – als Teil dieser inneren Militarisierung ist ein wichtiger Baustein, Kriegsvorbereitung zu „normalisieren“ und gesellschaftlich akzeptabel erscheinen zu lassen. Sie muss durch eine eigenständige, breite Jugendbewegung in Kooperation mit anderen Kräften verhindert werden. Die mit der gesellschaftlichen Militarisierung verbundenen Überwachungssysteme und die Militarisierung von Kommunen, Bildung und Wissenschaft sowie einer modernisierten Infrastruktur wird bisher leider viel zu wenig öffentlich angeprangert. Die ersten Aktivitäten gegen die Militarisierung des Gesundheitswesens sind sicher nachahmungswürdig für andere gesellschaftliche Bereiche.

Nochmal zur Friedensbewegung: Was bedeutet dieser Stand der Dinge für die Friedensbewegung?

Wir sind wichtiger, notweniger als je zuvor in den letzten 40 Jahren, aber auch stärker den Repressionen ausgesetzt als in den letzten Jahrzehnten. Die oftmalige Kriminalisierung des Solidaritätsprotestes mit Palästina, aber auch der Überfall der Polizei auf die Friedensaktion in Köln ist nur der zugespitzte Ausdruck einer zunehmenden Entdemokratisierung, die direkt an die Repressionen gegen die Grundrechtsbewegung während der Corona-Pandemie anknüpfte.

Deutlich wird, wir stehen als Friedensbewegung vor einer historisch zu nennenden Herausforderung.

Was konkret sollte die Friedensbewegung tun?

Wir müssen versuchen, durch vielfältige Aufklärung die Mehrheit der Bevölkerung als aktive Sympathisanten der Friedensbewegung zu gewinnen. Eine aktive Ausstrahlung muss uns die Kraft und die gesellschaftliche Verankerung bringen, die in der Lage ist – gemeinsam mit internationalen Partnern –, den Kriegshetzern in den Arm zu fallen. Friedensbewegung im Bündnis mit anderen sozialen Bewegungen muss wirklich eine gesellschaftliche Bewegung werden, die traditionelle Grenzen und Barrieren überwindet. Ausgrenzungen haben ebenso wenig Platz in ihr wie als Friedensfreunde getarnte Kriegstreiber, z.B. aus der AfD.

Was noch?

Wir brauchen einen neuen Internationalismus der Friedensbewegung, der vor allen auch Initiativen und Organisationen des Globalen Südens einbezieht. Dieser neue „Friedensinternationalismus“ beinhaltet Zusammenarbeit mit allen Kräften einschließlich Regierungen, die sich dem Grundgedanken der gemeinsamen Sicherheit verbunden fühlen. Dabei sind sicher die „BRICSplus“ und Partnerstaaten wichtige Ansprechpartner, die sich der Aufrechterhaltung des internationalen Rechtsrahmens durch die UN-Charta verpflichtet fühlen. Als Erstes sind sicher Gespräche und Kontakte notwendig mit den Ländern, und da meine ich Russland als Erstes, die von der Politik Deutschlands und der EU als „Feinde“ deklariert werden. Wir müssen wieder eine „Volksdiplomatie von unten“ unter den Bedingungen grundlegender geostrategischer Veränderungen entwickeln.

Wie aber kann die Friedensbewegung mehr Bürger für den Frieden gewinnen?

Wir müssen sicher als Erstes anerkennen, dass wir uns in einer politischen Defensivposition befinden, wenn wir Einfluss, Klima, Atmosphäre und Engagement in unserem Land betrachten. Das gilt nicht für die internationale Kräftekonstellation – da stehen wir an der Seite einer globalen Mehrheit. Wir stehen bei uns – vereinfacht ausgedrückt – durchaus mit dem Rücken an der Wand gegen einen fast übermächtigen militärisch-industriellen-politisch-wissenschaftlichen-medialen Komplex; leider ergänzt durch einen „Friedensopportunismus“ von Teilen der politischen Linken. Trotzdem teilen nach allen Umfragen ca. 35 Prozent der Befragten unsere grundsätzlichen Positionen zu Diplomatie und gegen hemmungslose Aufrüstung.

Zwischenfragen: Was meinen Sie genau mit „Friedensopportunismus“ von Teilen der Linken“?

Eine klare Anti-Kriegs-Position ist heute auch bei Linken nicht mehr durchgängig vorhanden. Da wird über Waffenlieferungen an die Ukraine positiv diskutiert, da wird die Alleinschuld am Ukrainekrieg nur an Russland geschoben, da wird über Putinversteher fabuliert und im Europaparlament Aufrüstung und Kriegsvorbereitung mitgetragen. Gleichzeitig gibt es auch positive Unterstützung für Friedens- und Abrüstungsforderungen und deutliche Solidarität mit Palästina. Sich bisher als links verstehende Gewerkschafter und Politiker der Partei die Linke thematisieren ja durchaus den zu erwartenden massiven Sozialabbau angesichts des enormen Militärhaushalts, vermeiden aber die Konsequenz, nämlich zu Widerstand gegen die Kriegsvorbereitungen aufzurufen. ‚Butter statt Kanonen‘ wird nicht ernsthaft gefordert und dafür auch mobilisiert. Gerade in der Linkspartei gibt es in Funktionärskreisen diese Weigerung, den politischen Ausweg in der untrennbaren Verknüpfung zwischen Kriegskeynesianismus, Militarisierung zu suchen und zu propagieren. Diese Ambivalenzen in der Friedensposition würde ich zusammenfassend als Friedensopportunismus bezeichnen.

Gerade hat sich Ole Nymoen, der ja mit seinem Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde: Gegen die Kriegstüchtigkeit“ bereits klar Stellung genommen hat, zur Positionierung der Linken in Sachen Wehrpflicht geäußert. Ich zitiere:

Genau diese Behauptung – dass das Interesse des Staates und das der Bürger eins seien – müssen Linke zurückweisen. Offensichtlich verteidigen sich zwangsrekrutierte junge Männer im Krieg nicht selbst, sondern sie verteidigen den Staat gegen ihren Willen. Wer gegen den Militarismus ankämpfen will, der muss sich trauen, dieses angebliche »Wir«, das »sich« verteidigt, zu hinterfragen. Und der muss sagen: Wie die Vaterlandsverteidigung organisiert wird, interessiert uns nicht. Wir wollen junge Leute gegen den Krieg agitieren – selbst wenn uns das von den anderen Parteien und den großen Medienhäusern übelgenommen wird. Genau das traut sich die Linkspartei aber nicht.

Wird hier das Problem, über das wir reden, sichtbar? Anders gesagt: Es gab eine Zeit, da war die Linke kämpferisch und hat sich nicht gescheut, an den „Wahrheiten“ der Macht mit Nachdruck zu rütteln. Heute wirken viele Äußerungen von Linken aufgesetzt, zurückhaltend und immer schön die von der Macht vorgegebenen roten Linien berücksichtigend. Wie sehen Sie das?

Genau so! Notwendig ist es, Gegenmacht gegen die Regierenden aufzubauen, notwendig ist das Ringen um die kulturelle Hegemonie. Wer sich dabei nicht mit den Regierenden anlegt, kann sich nicht kämpferisch für den Frieden engagieren und kann auch nicht glaubwürdig sein. Mut, Courage, Einsatzbereitschaft und gegen den Stachel löcken sind in der Friedensbewegung gefragt.

Mit Macht müssen die Konsequenzen der Kriegsvorbereitung angegangen werden, besonders der umfassende und dramatische Sozialabbau. Die Solidarität der Aktiven gegen Krieg und Hochrüstung muss der Gradmesser für einen erfolgreichen und gesellschaftlich verankerten Widerstand sein. Die bisherige strategische Schwäche der gesamten politischen Linken kann dadurch in eine Stärke, nämlich die des konsequenten Einsatzes gegen Krieg und für eine lebenswerte Zukunft für alle umgewandelt werden.

Aber nochmal zurück zu Ihren Ausführungen. Stichwort: Friedensbewegung.

Wir müssen – und ich spreche jetzt bewusst nicht über innere Entwicklungen der Friedensbewegung – durch eine große Offenheit und auf sie Zugehen mehr von diesen „35 Prozent der Freundinnen des Friedens und des Dialoges“ für aktives Engagement gewinnen. Nicht einfach, aber wie die 80er-Jahre zeigen, prinzipiell möglich. Dies beinhaltet auch, auf die Organisationen stärker, kontinuierlicher und vielleicht auch mit Angeboten auf Zusammenarbeit in einzelnen inhaltlichen und strategischen Positionen (Butter statt Kanonen, Militär als Klimakiller) zuzugehen, die traditionell Partner der Friedensbewegung sind: Gewerkschaften, Kirchen und Umweltverbände. Vergessen sollten wir sicher nicht die Sozialverbände, die die dramatischen Auswirkungen der Hochrüstung ja hautnah spüren. Anregen würde ich, ein Zugehen auf andere Religionsgemeinschaften wie islamische Gemeinden zu überlegen, und auch die sogenannten „Russlanddeutschen“, denen wir ja bisher fast nur am 9. Mai im Treptower Park begegnen, als interessante Bürgerinnen und Bürger mit einzubeziehen.

Müsste nicht auch der Bevölkerung stärker vor Augen geführt werden, was da für eine Gefahr droht?

Auf jeden Fall. Die Dimension der Gefahren, besonders auch durch die Stationierung von Erstschlags- und Enthauptungswaffen, muss immer wieder verdeutlicht werden. Ich habe das Gefühl, dass die große Mehrheit meiner Mitbürger nicht mehr genau weiß, was „Krieg“ bedeutet. Die unverantwortlichen Bemerkungen aus Politik und Wissenschaft haben dazu sicher erheblich beigetragen, historische Erfahrungen werden verwischt, wenn nicht gar geleugnet. So weiß eine Frau Kallas nicht mal mehr, unter welchen Opfern die damalige Sowjetunion wesentlich zum Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft beigetragen hat. Unbedingt muss politisch thematisiert und bewertet werden, welche Funktion die Auslöschung geschichtlicher Tatsachen und Erfahrungen im gesellschaftlichen Bewusstsein für die kriegerischen Pläne der Regierenden haben. Neben einer stärkeren Einheit nach innen ohne Ausgrenzung (Faschisten sind ohnehin indiskutabel) ist sicher eine größere Offenheit gegenüber Andersdenkenden oder Menschen aus anderen Diskurs- und Kulturzusammenhängen notwendig.

Mehr Präsenz der Bewegung und in jeder einzelnen Formation in der Öffentlichkeit bleibt unverzichtbar. Dafür ist die Unterschriftensammlung unter den Berliner Appell sicher nach wie vor ein zentraler Hebel neben anderen Kampagnen.

Wo liegen die Hürden?

Natürlich zuerst in der herrschenden Politik der Kriegsvorbereitung und ihrer Propaganda des Feindbildes Russland, die ja schon teilweise in das Hysterische geht. Der Krieg beginnt in den Köpfen, diese Wahrheit haben von Merz über Pistorius bis Neitzel/Masala/u.a. „Experten“ verinnerlicht und hämmern sie auf uns ein. Einschränkung der medialen Meinungsvielfalt, die kaum noch existiert, die Diskursverengung, aber auch zunehmende Repression sind logische Folgen, Geschichtsleugnung, Doppelmoral und Verlogenheit feste Bestandteile herrschender Politik und Propaganda. Das Ergebnis ist zurzeit an einer Bevölkerung abzulesen, die in der großen Mehrheit in einer „Erstarrung“ – bei spürbarer Ablehnung von „denen da oben“ – bzw. in der Verunsicherung verharrt. Und wenn sie nach Alternativen sucht, diese in oppositionell auftretenden Kräften wie der AfD meint, finden zu können, die kriegerisch, autoritär und antisozial alles noch schlimmer machen würden.

Es ist aber historisch auch nicht das erste Mal, dass eine geeinte, aktionsfähige, breite Friedensbewegung diese Hürden überwindet und mithilft, eine Tür für eine neue Entspannungspolitik zu öffnen.

In den sozialen Medien finden sich doch recht viele Stimmen gegen den Krieg. Und es sind vor allem viele Menschen auch über Altersgrenzen hinweg. Zahlreiche Posts und Kommentare erzählen davon. Auf der anderen Seite: Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was im Netz zu sehen ist, und dem, was sich draußen in der Realität abspielt. Ein paar Hunderttausend Likes unter einem Post sind das eine, das andere sind ein paar Hunderttausend Menschen auf der Straße. Wie sehen Sie das?

Nichts, aber auch gar nichts kann die Mobilisierung der Straße ersetzen. Sie bleibt das A und O des gesellschaftlichen Protestes. Sie ist Ausdruck unserer Stärke oder unserer Schwäche. Trotzdem sind die sozialen Medien heute wichtig, ja unverzichtbar:

  • In der Hilfe für die Mobilisierung für Aktionen. Sie sind das Tool des Protestes.
  • In der Verdeutlichung der Unterstützung für Forderungen und Protest.
  • In der Organisierung von Solidarität.
  • Als Aufklärungs- und Informationsinstrument. Hier müssen Fakten und Argumente gesammelt, ergänzt ausgetauscht und diskutiert werden.
  • Als Informationspool.
  • Als Diskussionsforum besonders auch für eine vielfältige internationale Kommunikation.

Dabei sollten sicher niemals ihre Ambivalenz als Informations- oder Desinformationsmedium unterschätzt und die Eigentumsverhältnisse sowie damit untrennbar verbunden Profitinteressen beachtet und berücksichtigt werden. Dazu gehört auch, die Funktion des „Abtauchens in virtuelle Welten“ als Teil der Demobilisierungsstrategie zu thematisieren.

Sie sind ja schon lange in der Friedensbewegung aktiv. Gibt es Unterschiede im Hinblick auf die aktuelle Situation zwischen heute und damals?

Was ist mit „damals“ gemeint? Wenn es sich auf die Zeit um 1914 bezieht, sehe ich viele Parallelen, u.a. in der geostrategischen Entwicklung und ihrer Verbindung zu Krieg und Frieden – der dringende Wunsch nach Frieden führte 1918 schließlich sogar in revolutionäre Umwälzungen, die die Verwüstung und Massenvernichtung zugunsten weniger Profiteure nicht mehr erlauben wollten.

Bei einem Vergleich mit den 80er-Jahren wäre ich vorsichtig.

Das meinte ich aber mit „damals“.

Die Blockkonfrontation war gefährlich, aber von einer Rationalität der Vermeidung eines großen Krieges geprägt. Davon sind wir heute weit entfernt. Vergessen sollten wir auch nie, wie viel Bewegung und Neues durch Michael Gorbatschow mit einem Mal politik- und mehrheitsfähig wurde. Die Friedensbewegung wurde zu einer großen Massenbewegung auf der Basis vielfältiger sozialer Bewegung, friedensoffener Gewerkschaften, einer friedensorientierten Kirche, einer Umweltbewegung, die Mitgründer der Friedensbewegung war. Vergessen werden darf bei dieser Diskussion auch nicht die damals noch kraftstrotzende SPD, die ab 1982 in der Opposition war und sich vom „Raketenkanzler“ Schmidt zu neuerlicher Friedensoffenheit entwickelte.

Ganz anders die Rolle der jungen Menschen, der Studierenden. Sie waren ein zentraler Motor, wie auch die Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ in der DDR, die sich neben der offiziellen Friedensbewegung aktiv für den Frieden engagierten.

Ich warne vor simplen Vergleichen: Die Welt hat sich seit den 80er-Jahren mehr als einmal gedreht, und in dieser neuen, chaotischen, sich im Übergang befindlichen Welt voller Atomwaffen müssen wir gegen alle Widerstände den Frieden sichern und wieder mehr Entspannungspolitik erreichen. Mehr noch sehe ich die Friedensbewegung vor die Aufgabe gestellt, inmitten dieser Auflösungserscheinungen der Rationalität und des aufklärerischen Denkens die Frage des Urbedürfnisses des menschlichen Überlebens wieder zum Mittelpunkt der gesellschaftlichen Bestrebungen zu machen. Dies ist nur in einem emanzipatorischen Aufschwung zu machen und eröffnet weitere emanzipatorische Schritte.

Über den Interviewpartner: Reiner Braun ist aktiv in der Friedensbewegung und unter anderem Vorstandsmitglied des „International Peace Bureau“(IPB).

Titelbild: Von Ferran Cornellà – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0 commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=141438379

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