Vor genau 50 Jahren, am 28. November 1975, proklamierte Portugals südostasiatische Kolonie Osttimor (seit 2002 Demokratische Republik Timor-Leste) ihre Unabhängigkeit und rief die Demokratische Republik Osttimor (DRO) aus. Doch bereits neun Tage später endete jäh der kurze Traum von Freiheit und Selbstbestimmung, als das indonesische Militär mit grünem Licht aus Washington die junge Republik überfiel und ein vom Westen toleriertes Terrorregime errichtete. Nachbetrachtungen unseres Südostasienexperten Rainer Werning.
Fanal zum Widerstand
Selten kommt es vor, dass ein Lied als Fanal zum Widerstand, gar Aufstand diente. Doch am 25. April 1974 geschah in Portugals Hauptstadt Lissabon just das, als um drei Uhr morgens der katholische Sender Rádio Renascença das bis dahin verbotene Lied Grândola, vila morena (Grândola, braun gebrannte Stadt) des Protestsängers José Afonso spielte. Im Text geht es um Solidarität und um einen schönen Ort, an dem endlich das Volk Ohnmacht überwindet, die Fesseln sprengt und über seine Geschicke selbst bestimmt. Dieser Song war das Signal zum Zuschlagen für alle militärischen Einheiten, die sich zur Bewegung der Streitkräfte (MFA) bekannten. Ein Sammelbecken all jener Offiziere und einfachen Soldaten, die es satthatten, noch länger unter der ältesten Diktatur Westeuropas, den Statthaltern und verruchten Geheimdienstleuten des faschistischen „Neuen Staates” sowie seinem Schöpfer António de Oliveira Salazar, zu leben.
Binnen weniger Stunden besetzten MFA-Mitglieder sämtliche strategisch bedeutsamen Orte des Landes. Die Stimmung war überwältigend. Entgegen den Anweisungen der neuen Machthaber, ruhig in den Häusern zu bleiben, strömten die Menschen auf die Straßen und feierten das Ende des verhassten Regimes. Da die Blumenfrauen Lissabons den Soldaten rote Nelken in die Gewehrläufe steckten, war der Begriff „Portugals Nelkenrevolution“ geboren.
Rasche Dekolonialisierung
Das arme, agrarisch orientierte, stockkatholisch ausgerichtete Land hatte sich allzu lange den „Luxus“ geleistet, Kolonialkriege in Übersee zu führen und dafür reichlich die Hälfte des Staatshaushalts zu verpulvern. Immer stärker war seit Mitte der 1960er-Jahre eine Antikriegsstimmung vernehmbar, die selbst innerhalb der Streitkräfte rumorte und sich schließlich an jenem Apriltag des Jahres 1974 explosionsartig entlud.
Rasch sprangen die Funken der „Nelkenrevolution“ auf die alten Kolonialbesitzungen über. Noch im selben Jahr erlangte Guinea-Bissau die Unabhängigkeit. Ein Jahr später folgten dann Angola, Mosambik, São Tomé und Príncipe sowie Kap Verde auf dem afrikanischen Kontinent und schließlich in Südostasien Portugiesisch-Timor beziehungsweise Osttimor.
In all diesen Gebieten folgte eine Dekolonialisierungspolitik, die Kritiker später als überhastet und katastrophisch bezeichneten – und zwar deshalb, weil es zeitgleich mit dem raschen Abzug der Portugiesen zu verheerenden Bürgerkriegen kam, die zumindest zeitweilig aufgrund der starren West-Ost-Blockkonfrontation den Charakter von Stellvertreterkriegen annahmen. Allein in Angola kämpften drei sich jeweils Freiheitsbewegungen nennende Organisationen erbittert um die politische Vormachtstellung, wobei sich Lissabon in diesem Fall aus ideologischen Gründen für die linke, mit Marxisten besetzte MPLA entschied. Diese genoss denn auch Rückhalt seitens der Sowjetunion und Kubas, während die USA und deren Vasall Zaire ihr Gewicht für die UNITA in die Waagschale warfen.
Pyrrhussieger Fretilin
Im fernen Osttimor führte die Euphorie im „Mutterland“ immerhin dazu, dass sich politische Parteien nunmehr ungehindert von kolonialer Kontrolle und Gängelung frei entfalten konnten – mit dem Resultat, dass auch dort drei unterschiedliche ideologische Strömungen um Hegemonie rangen.
Bereits am 20. Mai 1974 konstituierte sich unter der Führung von Francisco Xavier do Amaral, Nicolau dos Reis Lobato und anderen die linksorientierte Sozialdemokratische Vereinigung Timors (ASDT), die sich aber bereits Mitte September desselben Jahres in FRETILIN, Revolutionäre Front für die Unabhängigkeit von Timor-Leste (Osttimor), umbenannte. Sie genoss den mit Abstand größten Rückhalt in der Bevölkerung und war vor allem auf dem Lande beliebt. Gleichzeitig war die FRETILIN die einzige politische Organisation, die für eine schnelle Abnabelung vom „Mutterland“ votierte und, um sich eines größeren Rückhalts seitens der Vereinten Nationen zu vergewissern, am 28. November 1975 die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Osttimor ausrief. Amaral wurde erster Präsident und sein Kollege Lobato erster Premierminister des neu gegründeten Staates.
Die zweitstärkste politische Kraft bildete die Demokratische Union Timors (UDT), die eine Bindung zur ehemaligen Kolonialmacht bevorzugte und deren Anhänger sich im Sommer 1975 blutige Gefechte mit der FRETILIN geliefert hatten. Da Lissabon sich auffällig bedeckt hielt, bildeten die Osttimoresen, die bisher in der portugiesischen Armee gedient hatten, den Kern der Bewaffneten Kräfte zur nationalen Befreiung Osttimors (FALINTIL). Bis zur endgültigen Unabhängigkeit des Landes und internationalen Anerkennung als souveräner Staat am 20. Mai 2002 hatten die FALINTIL als militärischer Arm beziehungsweise Guerillaorganisation der FRETILIN die Speerspitze des osttimoresischen Widerstands gegen die indonesische Besatzung von 1975 bis 1999 gebildet.
Als kleinste der drei politischen Parteien agierte mit der Timoresischen Volksdemokratischen Assoziation (APODETI) eine politische Gruppierung, deren Mitglieder und Sympathisanten während des Zweiten Weltkriegs mit der japanischen Besatzungsmacht kollaboriert hatten und die später pro-indonesische Positionen bezogen beziehungsweise sich 1975 für einen Anschluss Osttimors an Indonesien aussprachen. Zusammen mit der UDT diente sich die APODETI als Statthalter der indonesischen Besatzungstruppen an.
Neben Washington und Jakarta warf in jenen Tagen auch die australische Regierung in Canberra der FRETILIN vor, eine marxistische Organisation zu sein. Es ging die Angst um, „vor der Haustür“ könnte mit einem kommunistischen Osttimor ein „zweites Kuba“ – diesmal in Südostasien – entstehen; und das ausgerechnet zu einer Zeit, da die Supermacht USA ein für sie klägliches Scheitern in Vietnam, Kambodscha und Laos hinnehmen musste.
Nachdem die US-Regierung bereits ein Jahrzehnt zuvor alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um mit „ihrem Mann“ in Gestalt von Generalmajor Suharto einen knallharten pro-westlichen Präsidenten in Indonesien zu installieren, lag nichts näher, als ebendiesem Verbündeten freie Hand zu lassen, ein zweites Mal „mit den Kommunisten aufzuräumen“. Das antikommunistische Kesseltreiben Suhartos und seiner Soldateska 1965/66 fand seine Fortsetzung seit Mitte des Jahres 1975 in Osttimor.
Um angeblich „Anarchie und Chaos“ abzuwenden, besetzten indonesische Truppen seit dem Sommer nach und nach Teile Osttimors. Am 7. Dezember 1975 – neun Tage nach Ausrufung der Demokratischen Republik – blies Jakarta schließlich zur groß angelegten Invasion Osttimors und verleibte sich im Juli 1976 das von ihm nunmehr Timor Timur (Osttimor) genannte Gebiet als 27. Provinz der Republik Indonesien ein.
Besatzungsmacht Indonesien
Für die Zivilbevölkerung der vormaligen portugiesischen Kolonie begann die düsterste Ära ihrer Geschichte, ein Grauen, das zunächst erst mit dem Rücktritt von Suharto im Mai 1998 enden sollte. Fast sah es so aus, als wäre es den indonesischen Besatzern gelungen, die Widerstandskämpfer der FALINTIL völlig aufzureiben, bis diese unter der Führung des neuen Kommandeurs Xanana Gusmão gezielt zur Guerillataktik übergingen. Immerhin gelang es den Guerilleros trotz massiver Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten seitens der Besatzungstruppen, im Sommer 1980 Gegenoffensiven zu eröffnen, Fernsehsender, militärische Einrichtungen und Waffenlager nahe der Hauptstadt Dili anzugreifen und so ein Zeichen einer/eines „levantamento“ (Erhebung, Aufstand) in diesem Auszehrungskrieg zu setzen. Laut Untersuchungen von Amnesty International, Human Rights Watch und anderer Menschen- sowie Bürgerrechtsorganisationen kamen infolge der indonesischen Besatzung von Ende 1975 bis zum Frühjahr 1998 etwa 200.000 der 800.000 Einwohner Osttimors ums Leben!
Exekutiert wurde dieser erste Genozid nach dem Zweiten Weltkrieg von den Sicherheitskräften eines Regimes, dessen Oberhaupt der ausgesprochene südostasiatische Darling der „westlichen Wertegemeinschaft“ war. Indonesien, der bevölkerungsreichste und größte Staat der Region, sollte unbedingt ein Vorposten westlicher Interessen bleiben, den es ein für allemal „vom Virus der Subversion und Instabilität“, so der damalige US-Außenminister Henry A. Kissinger, zu befreien galt. Aus diesem Grund wurden sämtliche innen- wie außenpolitischen Schandtaten während der Suharto-Ära in den westlichen Hauptstädten stillschweigend geduldet. Schließlich wollte man das eigene Business und lukrative Aufträge aus Jakarta nicht gefährden.
Zweifellos waren die Regierungen der USA und Australiens die engsten Verbündeten der Machthaber in Jakarta. In London, so der frühere britische Botschafter in Jakarta, John Ford, brüstete man sich mehrfach öffentlich damit, die Kontroverse um „die Vorfälle in Osttimor“ vom Parkett der internationalen Politik und Diplomatie ferngehalten zu haben, vor allem als Großbritannien den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat innehatte. Selbst der Tod zweier britischer Journalisten, die im Oktober 1975 in Osttimor bei Recherchen von indonesischen Sicherheitskräften umgebracht worden waren, war London keine hartnäckige Untersuchung wert. Resolutionen oder Engagements zugunsten der geschundenen Zivilbevölkerung Osttimors seitens der UN wurden allenfalls belächelt.
Erst ab 1996 erheischte Osttimor ein wenig internationale Aufmerksamkeit, als José Ramos-Horta, Mitbegründer der FRETILIN, Außenminister der Demokratischen Republik Osttimor und Vertreter des osttimoresischen Widerstands bei den UN in New York, sowie sein Landsmann und Bischof von Dili, Carlos Filipe Ximenes Belo, den Friedensnobelpreis erhielten.
Kissinger drängte zum „quick fix“
Der damalige US-Präsident Gerald R. Ford und sein Außenminister Henry A. Kissinger hatten sich nicht nur für massive Waffenlieferungen an Jakarta stark gemacht. Das Ford-Kissinger-Tandem befand sich Ende 1975 auch auf Stippvisite in Ost- und Südostasien und stattete Suharto just einen Tag vor der indonesischen Invasion in Osttimor am 7. Dezember 1975 einen Besuch ab. Dabei ging es nicht nur um die politisch-diplomatische Aufwertung des engen Verbündeten in Jakarta. Ford und Kissinger waren voll in die bevorstehenden Invasionspläne eingeweiht und unterhielten sich darüber hinaus explizit mit Suharto über das Thema, wie lange wohl ein Guerillakrieg seitens der FALINTIL andauern könnte.
Die Gäste enthielten sich jedweder Kritik. Mehr noch: Kissinger gab Suharto zwei Hausaufgaben auf. Erstens: Jakarta sollte die Invasion erst beginnen, wenn er (Kissinger) und der Präsident wieder in Washington gelandet seien. Just so geschah es denn auch. Zweitens: Suharto wurde zum „quick fix“ gedrängt. Im Klartext: Das Militär sollte den Einmarsch auf schnellstmöglichem Wege – sozusagen als „chirurgischen Schnitt“ – durchführen.
Für Kissinger stellte sich als einziges Problem, wie man am effektivsten die Tatsache vertuschen und verschweigen konnte, dass die indonesische Invasion wesentlich mit zuvor gelieferten US-Waffen durchgeführt wurde. Nach Washington zurückgekehrt, entsponn sich Anfang Dezember im State Department zudem eine hitzige Debatte zwischen Kissinger und seinem Stab, ob das Vorgehen Jakartas rechtens und zu billigen sei. Das musste, wie Aufzeichnungen über das Treffen und vom National Security Archive (NSA) an der George Washington University in Washington, D.C. am 6. Dezember 2001 sowie am 28. November 2005 publizierte deklassifizierte Dokumente einwandfrei belegen, den verschlagenen Henry ziemlich gereizt haben. Der State Department-Chef konterte diese kritischen Nachfragen mit der ihm eigenen Derbheit:
„Ich weiß, was das Gesetz ist. Doch kann es in unserem nationalen Interesse liegen (…), wegen Osttimor den Indonesiern die Zähne auszuschlagen?“
Bereits im Oktober 1975, also etwa sechs Wochen vor der Osttimor-Invasion, hatten indonesische Eliteeinheiten dort mit Wissen Kissingers Geheimoperationen durchgeführt. Daraufhin beschwor dieser seine engsten Vertrauten:
„Ich gehe davon aus, daß Sie in dieser Angelegenheit wirklich den Mund halten.“
In einem exklusiv für Kissinger bestimmten Memorandum hatte David Newsom, zu der Zeit US-Botschafter in Jakarta, bereits im März 1975 (knapp neun Monate vor der Osttimor-Invasion) skizziert, worum es eigentlich ging:
„Die USA haben beträchtliche Interessen in Indonesien und keine in Timor.“
Unmittelbar nach Bekanntwerden der Dokumente insistierte Brad Simpson, Historiker an der University of Maryland und Direktor des Indonesien- und Osttimor-Dokumentationsprojekts der NSA, auf „die Notwendigkeit, international auf eine genuine Aufklärung hinzuarbeiten und die Schuldigen der unsäglichen Leiden in Osttimor zu benennen“.
Für den Publizisten Anthony Lewis, der Kissingers Agieren im Falle Indonesiens und Osttimors aufmerksam verfolgt hatte, stand bereits früher fest, dass es sich dabei, wie er am 8. September 1999 in der International Herald Tribune schrieb, um einen „Kissinger-Realismus“ handelte.
Blutiges Referendum oder Der Tragödie zweiter Teil
Als Suharto nach massiven politischen Unruhen infolge der Nachwirkungen der Finanzkrise in Südost- und Ostasien im Mai 1998 von der Bühne abtrat, verfolgte sein Nachfolger, Dr. Bacharuddin Jusuf Habibie, eine Kehrtwende vis-à-vis Osttimor. Zum Jahresbeginn 1999 verkündete Habibie erstmalig den Plan, die Bevölkerung Osttimors binnen weniger Monate in einem Referendum über Autonomie, Unabhängigkeit oder den Verbleib bei Indonesien abstimmen zu lassen. Dabei hatte er vorrangig wirtschaftliche und politische Gründe im Sinn. Er sah in Osttimor eine zusätzliche ökonomische Belastung und war gleichzeitig gewillt, das wegen der Annexion anhaltende Negativimage seines Landes abzustreifen und sich mit Blick auf die bevorstehenden Parlaments- und Präsidenschaftswahlen als demokratischer Erneuerer zu gerieren.
Da hatte der neue Präsident allerdings übersehen, dass das ungebrochen mächtige Militär sich nach wie vor der „dwi fungsi“-Doktrin verpflichtet fühlte. Demnach kam ihm eine Doppelfunktion zu: Im Inneren wirkte es sozialpolitisch im Sinne von Ruhe, Ordnung und Stabilität und garantierte gleichzeitig als Wahrer nationaler Integrität und Souveränität den unbedingten Zusammenhalt des Staatsverbandes. Zwar opponierten die Streitkräfte nicht offen gegen Habibie, unternahmen allerdings hinter den Kulissen alles, um das Osttimor-Referendum zu unterlaufen und die Lage dort zu destabilisieren.
Nach mehrfachen Verzögerungen stimmten schließlich bei dem Referendum am 30. August 1999 überwältigende 78,5 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit Osttimors von Indonesien. Mit einem solchen Ergebnis hatte der neue Mann im Präsidentenpalast zu Jakarta nicht gerechnet. Wohl aber hatte das Militärestablishment Derartiges im Vorfeld geahnt und entsprechend „Vorkehrungen“ getroffen. Das Militär opponierte, proindonesische Milizen brandschatzten, mordeten und vertrieben Hunderttausende aus Osttimor. Habibie musste abdanken. Die neue Regierung unter Abdurrahman Wahid respektierte immerhin das Votum für Osttimors Unabhängigkeit, wenngleich er der marodierenden Soldateska keinen Einhalt zu gebieten vermochte. In Osttimor bedeutete das Votum einen Sieg, um den man monatelang den Sieger nicht beneiden konnte.
Am 7. September zitierte die französische Nachrichtenagentur AFP einen proindonesischen Milizenführer, der die Strategie Jakartas ungeschminkt offenlegte: Ziel sei es, bis zu 300.000 Osttimoresen gewaltsam in die Berge zu treiben oder in den (indonesischen) Westteil der Insel zu deportieren und Osttimor mit Indonesiern neu zu bevölkern. Die unmittelbare Verbindung zwischen Milizen und Militär stand außer Zweifel, was u.a. von der BBC mitgeschnittene Funkgespräche zwischen beiden Parteien belegten. Makaber war an alledem, dass ausgerechnet die indonesischen Streiträfte mit der ordnungsgemäßen Überwachung des Referendums betraut worden waren!
Das angekündigte Grauen nahm seinen Lauf, und die „westliche Wertegemeinschaft“ schaute mal wieder zu beziehungsweise weg. Erst am 20. September landete die Vorhut der aus 15 Staaten zusammengesetzten International Force in East Timor (INTERFET) in Osttimors Hauptstadt Dili. Dort und andernorts konnten sie sich allerdings nurmehr als Leichenbeschauer und Zeugen gewaltiger Zerstörungen betätigen.
Ausgebliebene Krisenprävention – Versagen der UN
In jenen Monaten markierte die Entfernung zwischen dem gleichsam „unruhigen“ Kosovo und Osttimor die Kluft zwischen „humanitären Interventionisten“ und perfiden Zynikern der Macht. Von „erzwungenem Massenexodus“, „systematischem Völkermord“ – gar „einem neuerlichen Auschwitz“ – war im Frühjahr 1999 die Rede, als im Namen von Menschenrechten ein kompromissloses und kostspieliges Handeln in Jugoslawien propagiert und exekutiert wurde. Im Falle des erneuten indonesischen Staatsterrors gegen Osttimor, der in unterschiedlicher Intensität seit 24 Jahren andauerte und sämtliche UN-Verurteilungen ungestraft ignorierte, war alles anders. Dort konnte der Befehlshaber der indonesischen Truppen in Dili, Oberst Tono Suratman, zwei Wochen vor dem Referendum laut Australian Financial Review (14. August 1999) unter Bezug auf ein Radiointerview schlankweg schwadronieren:
„Sagen wir es ganz deutlich: Wenn die Pro-Unabhängigkeitskräfte siegen, wird alles zerstört werden. Das wird schlimmer als vor 23 Jahren (als indonesische Streitkräfte die erste Terrorwelle in Osttimor auslösten – RW).“
Die lautstärksten Apologeten des NATO-Krieges gegen Jugoslawien, vom britischen Premier Tony Blair und US-Präsident Bill Clinton bis hin zu den bundesdeutschen Ministern für Verteidigung und Außenpolitik, Rudolf Scharping und Joseph Fischer, favorisierten im Falle Osttimors unisono eine „quiet diplomacy“. Selbst nach dem Ausbruch der Gewalt mahnte UN-Generalsekretär Kofi Annan Indonesien lediglich an, seinen Pflichten nachzukommen.
„Die US-Luftwaffe“,
schrieb der langjährige Kritiker US-amerikanischer Außenpolitik, Noam Chomsky, in der deutschsprachigen Oktober 1999-Ausgabe von Le Monde diplomatique,
„die in Jugoslawien zivile Ziele punktgenau vernichten konnte, sah sich außerstande, Nahrungsmittel für hungernde Menschen abzuwerfen, die vom Terror der indonesischen Streitkräfte in die Berge getrieben wurden – von Truppen also, die von den USA und ihren Verbündeten ausgerüstet und ausgebildet werden. (…) In den Monaten vor dem August-Referendum wurden nach glaubwürdigen Kirchenquellen 3.000 bis 5.000 Menschen umgebracht. Das wären doppelt so viele Tote wie im Kosovo in der Periode vor den NATO-Bombenangriffen und sogar viermal so viel, wenn man es in Relation zur Gesamtbevölkerung setzt. Der Terror war umfassend und sadistisch und sollte warnend darauf hinweisen, was jeden erwartete, der den Befehlen der Besatzungsarmee zu trotzen wagte.“ (S. 7)
Das langjährige Tolerieren der indonesischen Okkupation Osttimors seitens der UN als auch der „westlichen Wertegemeinschaft“ hatte Jakarta in seiner Einschätzung bestärkt, dass diese keine gegen die Interessen Indonesiens gerichtete Politik verfolgen würden. Von einem diktatorischen Regime, wie es seinerzeit unter Suharto herrschte, das Plazet zur Stationierung einer Friedenstruppe zu erbitten – eine solche Geste hätte im Falle des Kosovo als abstrus gegolten.
„Möglicherweise hätten bereits vor dem Referendum stationierte Ordnungskräfte einen Ausbruch der Gewalt in Osttimor verhindern können“,
schrieb der Züricher Völker- und Staatsrechtler Daniel Thürer im Oktober 1999 in der Monatszeitschrift Entwicklung & Zusammenarbeit:
„Jakarta hatte das zwar stets abgelehnt, völkerrechtlich hätten solche Kräfte wohl aber auch ohne die Zustimmung Indonesiens entsandt werden können. Mit dem dafür benötigten Personal in der Hinterhand hätte Kofi Annan druckvoller gegenüber der indonesischen Regierung argumentieren können, der präventiven Stationierung einer Polizeitruppe zuzustimmen.“
Thürers ernüchterndes Fazit:
„Osttimor ist ein weiteres Lehrstück dafür, dass den Menschenrechten, der Demokratie und dem humanitären Völkerrecht nicht erst dann der nötige Respekt gezollt werden darf, wenn es bereits zu spät ist.“
Postscript oder Amnestie, Amnesie, Apotheose
Suharto (1921 – 2008) sei eine herausragende Persönlichkeit und „ein Held des Unabhängigkeitskampfes“ gewesen, erklärte Indonesiens Präsident Prabowo Subianto, der mit einer Tochter Suhartos verheiratet war, in einer am 10. November im Fernsehen übertragenen Zeremonie im Präsidentenpalast in Jakarta. Zwar habe er Indonesien aus einer „totalen wirtschaftlichen Krise“ geführt, sagte der indonesische Jesuit Franz Magnis Suseno gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Er sei aber auch für einen der „schlimmsten Genozide in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verantwortlich“, führte er mit Blick auf die Besetzung Osttimors aus.
„Präsident Prabowo (seit Herbst 2024 im Amt – RW) scheint entschlossen zu sein, die Rolle des indonesischen Militärs in zivilen Angelegenheiten wiederherzustellen, die lange Zeit von weit verbreiteten Missbräuchen und Straffreiheit geprägt war“,
erklärte Andreas Harsono, Senior-Researcher für Indonesien bei Human Rights Watch, in einer Stellungnahme. Und er fügte hinzu:
„Die Eile der Regierung, diese Änderungen zu verabschieden, untergräbt ihr erklärtes Bekenntnis zu Menschenrechten und Rechenschaftspflicht.“
Verdrängen, Vergessen(machen) und eine Quasi-Vergötterung des Ancien Régime sind für die neu-alte politische Elite in Jakarta das probate Mittel, um die Macht des Militärs in Gesellschaft und Politik zu sichern und sich trotz vergangener Gräueltaten dauerhaft Straffreiheit zuzuschanzen.
Titelbild: Ruslan Maiborodin/shutterstock.com
Weiterführende Links
- aljazeera.com/news/2025/3/20/indonesia-passes-law-allowing-greater-military-role-in-government
- deutschlandfunk.de/indonesiens-ex-diktator-suharto-offiziell-zum-nationalhelden-erklaert-100.html
- Rainer Werning: Des Westens General (SWR2 Wissen) * (hier: Nr. der Sendung = 747)
- Rainer Werning: Indonesien vor 60 Jahren: Mandarine, Marodeure und westliche Marketender staatlichen Terrors
- watson.ch/international/indonesien/752694694-ehemaliger-indonesischer-diktator-suharto-wird-nationalheld
- asiatimes.com/2025/11/indonesias-suharto-was-hardly-a-national-hero/
- Aufschlussreiches Hintergrundmaterial zum Thema liefern = East Timor & Indonesia Action Network (ETAN): etan.org * About ETAN: etan.org/etan/ * TiSA | Timor international Solidarity Archive: timorarchive.com/etan-2






