Das Getreide und der Krieg

Das Getreide und der Krieg

Das Getreide und der Krieg

Ein Artikel von Stefan Schmitt

`Ukrainische Medien´, so erklären uns `unsere´ Medien seit einigen Wochen, berichten, dass die russische Artillerie gezielt erntereife ukrainische Getreidefelder beschieße und in Brand stecke. So schrieb etwa die FAZ am 15. Juli, dass aus den besetzten Gebieten (gemäß den ukrainischen Medien) im großen Stil Getreide abtransportiert werde. Dortige Landwirte berichteten, dass sie ihr Getreide kostenlos an die Besatzer abgeben müssten. Wie die etablierten Medien hierzulande mit den Behauptungen aus Kiew umgehen, kann man schon im nächsten Satz des Artikels lesen: `Zwischen der Ukraine und der Türkei ist es wegen des von Russland gestohlenen Getreides … zu Verstimmungen gekommen.´ Aus Behauptungen und Unterstellungen werden Tatsachen. Verschwiegen wird dabei, dass die ukrainischen Medien seit März per Dekret der Kontrolle des Innenministeriums unterstellt wurden. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung wird bewusst oder unterschwellig auf das Vernichtungsticket Bezug genommen, das die ukrainischen Nationalisten seit 100 Jahren hochhalten und demgemäß die Sowjetunion oder Russland die Ukrainer versklaven oder vernichten wolle. Auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock klinkt sich in dieses Ticket mit ein, indem sie auf fanatische Weise sagt, Russland setze den Hunger als Kriegswaffe ein. Das ist demagogisch; denn sie weiß es besser. Ein Gastartikel von Stefan Schmitt.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Russland und die Ukraine spielen zusammen eine wichtige globale Rolle im Anbau von Getreide. Die Hälfte der weltweiten Produktion von Sonnenblumenkernen (aus denen Sonnenblumenöl hergestellt wird) findet in den beiden Ländern statt. Was den Export betrifft, so ist Russland weltweit der zweitgrößte Exporteur von Weizen; im Jahr 2021 wurden knapp 33 Millionen Tonnen exportiert. Die Ukraine ist der sechstgrößte Exporteur, sie exportierte im gleichen Jahr 20 Millionen Tonnen. Beide Länder zusammen liefern 25 Prozent der weltweiten Weizenexporte. Fallen sie aus, droht auf unserem Planeten eine Hungersnot. Eine ebenfalls wichtige Rolle spielen beide Länder bei den weltweiten Verschiffungen von Mais, Gerste und Rapssamen. 72 Prozent des globalen Handels an Sonnenblumenöl kommt aus den beiden Ländern.[1] Die erhebliche Reduktion dieser Handelsströme hat zu einer weltweiten Lebensmittelkrise geführt. Woran genau liegt das?

Die gängige Antwort lautet: `Der Krieg in der Ukraine hat die Getreidelieferungen unterbrochen.´ Doch das ist nicht richtig bzw. irreführend. Denn der Krieg ist kein Subjekt. Woher kommt also der Lieferstopp? Was schreibt die FAZ? In dem zitierten Artikel heißt es: `Das Fehlen des ukrainischen Getreides auf dem Weltmarkt hat maßgeblich zur Verschärfung der Lebensmittelkrise in der Welt beigetragen.´ Das ist grob falsch und tendenziös. Denn es ist nicht nur ukrainisches Getreide, sondern auch das russische Getreide, das auf dem Weltmarkt fehlt. Beides zusammen führt zur Krise. Die FAZ ist, wie die New York Times oder der Spiegel, im gegenwärtigen Konflikt Kriegspartei. Sie führt diesen Krieg mit ihren Mitteln, nämlich den Mitteln der Sprache. Indem die Krise auf das eingeschlossene und nicht lieferbare ukrainische Getreide reduziert wird, unterstreicht sie implizit den Ruf, diese eingeschlossene Ukraine durch noch mehr Waffen freizumachen, so dass dann das Getreide wieder verschifft werden kann. Doch warum und durch was ist das Getreide eingeschlossen? `Die noch von der Ukraine beherrschten Häfen, darunter der größte in Odessa, sind aufgrund des russischen Angriffs seit Ende Februar blockiert.´ Dies suggeriert, dass die russischen Kriegsschiffe im Schwarzen Meer den Handel über die ukrainischen Häfen unmöglich machen. Das mag auch stimmen.

Doch der substanzielle und physikalische Grund, warum die Häfen blockiert sind, ist ein anderer. Die ukrainische Armee hat nämlich schon vor und mit Beginn des Krieges alle Schwarzmeerhäfen gründlich vermint und damit unbenutzbar gemacht. Dies ist der materielle Grund, warum ein Handel über die ukrainischen Seehäfen nicht stattfinden kann. Zu der kürzlich in Istanbul zwischen Russland, der Ukraine, der Türkei und den Vereinten Nationen getroffenen Vereinbarung über die Schaffung eines Handelskorridors aus den ukrainischen Häfen und der Ermöglichung des Exports von ukrainischen und russischen Nahrungsmitteln heißt es in der FAZ verschämt: `Ein Teil der Minen vor der ukrainischen Küste soll dafür beseitigt werden.´ Es wird aber nicht gesagt, wer die Minen verlegt hat. Schon Anfang Juni hatte der russische Außenminister Lawrow in Ankara erklärt, dass eine Beseitigung der Minen für Getreideexporte unter der Vermittlung der UN durch die russische Marine nicht für Landungsversuche ausgenutzt werden würde.[2] Doch die Sachwalter in Kiew haben eine Lösung der Angelegenheit weiter verschleppt und damit die Nahrungsmittelkrise verschärft.

Wodurch genau kommt sie zustande? Die direkten Auswirkungen des Krieges auf die landwirtschaftliche Produktion in der Ukraine sind nach Einschätzung der Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen eher begrenzt. Möglicherweise wird ein geringerer Teil der diesjährigen Ernte nicht eingefahren werden können wegen Treibstoffmangels. Einige Ölmühlen haben ihren Betrieb in den ersten Monaten des Krieges ausgesetzt. Auch kommt es teilweise zu Lieferengpässen bei Hilfsprodukten. Der Hauptgrund für den unterbrochenen Export sind die aus den genannten Gründen `blockierten´ Häfen. Die russischen Exporte sind aus einem ganz anderen Grund `blockiert´. Denn die russischen Seehäfen sind intakt. Doch aufgrund der umfassenden Wirtschafts- und Finanzsanktionen ist der Export des russischen Getreides sehr erschwert. Die westlichen Länder haben ihn nicht nur für sich selbst unterbrochen. Sie setzen auch die Länder der drei Kontinente im Süden massiv unter Druck, mit Russland keinen Handel mehr zu treiben. Russland ist nicht nur mit der Ukraine zusammen ein wichtiger Getreidelieferant für die Länder des Südens. Es ist auch ein führender Exporteur von Düngemitteln. Die russische Föderation ist der weltgrößte Exporteur von Stickstoffdünger (N-Fertilizer), der zweitgrößte Lieferer von Pottasche (Kaliumdünger; K-Fertilizer) und der drittgrößte Exporteur von Phosphordünger (P-Fertilizer). Viele Länder des globalen Südens sind in ihren Getreide- und Düngemitteleinfuhren sehr stark von den beiden Ländern am Schwarzen Meer abhängig; vor allem Länder mit niedrigem Einkommen oder die ökonomisch am wenigsten entwickelten Länder. Von ihnen verlangen Baerbock, Biden und Habeck, dass sie bitte auf die russischen Produkte verzichten sollen. Zugleich sind das oftmals Länder, deren Gesamtwirtschaft einseitig auf dem Export von landwirtschaftlich erzeugten Genussmitteln für den globalen Norden beruht. Diese Produktion – und damit das Sozialprodukt der Länder – droht mit dem Verlust des Düngemittels bzw. dessen enormer Preissteigerung, einzubrechen – zusätzlich zur Verknappung von Lebensmitteln.

Formal waren zwar Lebensmittel von den Sanktionen ausgenommen. Doch deren Erfinder wussten natürlich, dass dies nur eine Formalie war: Da aufgrund der Finanzsanktionen Getreidelieferungen nicht mehr bezahlt und aufgrund der Transportrestriktionen gegen Reeder auch nicht transportiert werden können, können sie real auch nicht mehr stattfinden. Zu den kürzlich in Istanbul erreichten Vereinbarungen gehört es daher, diese Lieferungen faktisch wieder möglich zu machen. Die verschiedenen Bereiche des Lebens, der Welt und auch des Welthandels sind miteinander verwoben. Die Sanktionen gegen russisches Gas und Öl führen zu einer Verknappung und zu einer drastischen Erhöhung der Energiepreise. Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Landwirtschaft vieler Länder. Denn Agrikultur ist ein energieintensiver Wirtschaftsbereich. Indem Gas eine Hauptquelle von Stickstoffdünger ist, wird auch dieser teurer. Hinzu kommen die gestiegenen Transportkosten. Die internationalen Preisnotierungen für Grundnahrungsmittel haben sich seit der zweiten Jahreshälfte 2020 stetig erhöht. Von 2020 bis 2021 stiegen die Preise von Weizen und Gerste um 30 Prozent an; Raps- und Sonnenblumenöl wurde im gleichen Zeitraum um knapp 65 Prozent teurer. Die Gründe für diese Preisentwicklung, die schon vor dem Krieg in der Ukraine eingesetzt hat, wird von der FAO einerseits in einem hohen globalen Bedarf gesehen und andererseits in einer geringeren Produktion, hauptsächlich wegen Wetterveränderungen.

Russland ist nicht nur ein großer Exporteur von Getreide und Energieträgern. Es ist auch ein großer Importeur von Pestiziden und Samen, nicht zuletzt für die Getreideproduktion. Ein Einbruch dieser Importe aufgrund der Sanktionen führt wahrscheinlich zu einer geringeren Aussaat und zu einem geringeren Ertrag, was die Lebensmittelkrise nachhaltig aufrechterhält. Die Konfrontationspolitik und die Sanktionen einer Handvoll Regierungen, die diese nicht nur ihren eigenen Bevölkerungen, sondern allen Ländern aufzuzwingen versuchen, führt mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass viele Millionen Menschen vor allem im globalen Süden verhungern werden.

Wir leben in einer interdependenten Welt. Und nun maßt sich eine erschreckend kleine Minderheit an, wie Gott an wenigen Stellschrauben für die ganze Welt zu drehen und damit die globalen Wirtschaftsbeziehungen und die Lebensbedingungen eines großen Teils der Menschheit willkürlich umpolen zu wollen – ohne Rücksicht darauf, was das für die Menschen bedeutet. Das ist verbrecherisch und verantwortungslos. Das Leiden der Menschen und der Hunger in der Welt wird tatsächlich als Waffe eingesetzt – nicht von Russland, sondern von den Baerbocks, Bidens, Blinkens, Habecks, Dudas dieser Welt. Die Menschen werden als Geiseln genommen und mit dem Leiden der Menschen wird Druck aufgebaut: Seht dort die vielen Hungernden, und hier liegt das Getreide – 20 Millionen Tonnen nach den unglaubwürdigen Angaben der Kiewer Regierung – und kann nicht wegtransportiert werden wegen der russischen Aggression. Gebt uns also Waffen und das Problem ist gelöst. In diesem Sinne äußerte Cem Özdemir im April: Wenn man eine globale Hungerkatastrophe vermeiden wolle, sei das Mittel dazu die Ausweitung der Waffenlieferungen an die Ukraine. Den Hunger aus der Welt schaffen mit noch mehr Waffen! Es sind wahnhafte Fanatiker, die uns regieren.

Die Sozialwissenschaftler Noam Chomsky, Howard Zinn und Edward Said haben die Sanktionen gegen Irak, die von der britischen und US-amerikanischen Regierung mit der Behauptung, das dortige `Regime´ besitze Massenvernichtungswaffen, immer weiter durchgesetzt wurden, selbst als Massenvernichtungswaffen charakterisiert.[3] Diese Einschätzung kann man ohne Abstriche auf die Sanktionen gegen die Islamische Republik Iran und die Russische Föderation übertragen, die maßgeblich von den gleichen Kreisen aufrechterhalten werden. Sanktionen sind barbarisch und mittelalterlich. Sie sind nicht weniger destruktiv und gewaltsam als Bomben und Raketen. Der Unterschied ist nur, dass das Leiden und der Tod, den sie hervorrufen, oftmals ein leises und ein stiller ist. Sie erscheinen ohne Feuer; keine Rauchschwaden steigen auf. Sanktionen sind keine Alternative zu militärischen Kampfhandlungen mit Waffen; sondern ihre Ergänzung. Sie sind außerdem, um einen Ausdruck von Seymour Hersh zu gebrauchen: preparing the battlefield. Und diejenigen, die sie maßgeblich konzipieren und am stärksten darauf pochen und sie mit Vehemenz ihren Alliierten und möglichst der ganzen Welt aufzuzwingen suchen, nämlich die Vereinigten Staaten, sind zugleich diejenigen, die am wenigsten von ihren Auswirkungen betroffen sind. Das gilt gleichermaßen für die Energiepolitik und die auf diesem Feld eingeführten Sanktionen wie für den immer weiter angeheizten Krieg insgesamt. Die europäischen Regierungen und insbesondere die deutsche Bundesregierung haben nicht die Chuzpe, eine eigenständige und an europäischen oder deutschen Interessen ausgerichtete Politik zu betreiben. Sie haben ihre Außen- und Verteidigungspolitik – und damit unweigerlich auch ihre Innen- und Sozialpolitik, die Kultur- und Energiepolitik usw. – dem großen Bruder und den Strategen in Washington übertragen. Wir leben nicht in einem souveränen Land.

Und das angeblich gestohlene Getreide? Indem die Stimme des Gegners abgewürgt wird und uns nicht mehr erreicht, wissen Viele nicht, was russische Offizielle zu den Anschuldigungen sagen und mit welchem Nachdruck diese zurückgewiesen werden, z.B. durch den Botschafter in Washington, Anatoly Antonov. Manchen Behauptungen steht ihre Unglaubwürdigkeit auf der Stirn geschrieben. In einer Situation, in der alle Blicke auf Russland gerichtet sind, in der es zum Hort des Bösen erklärt wurde und in der das Land nach neuen Abnehmern für seine Ressourcen und Rohstoffe sucht – also nach Abnehmern, die bereit sind, sich den westlichen Sanktionen zu widersetzen – unterstellt man Russland oder der russischen Armee, dass es im Osten der Ukraine Getreide klaut. Nicht nur das; die FAZ ereifert sich damit, dass Russland auch noch mit dem Diebesgut prahle, indem `russische Propagandamedien groß darüber berichtet hatten, dass seit Kriegsbeginn erstmals wieder ein Schiff mit Getreide den [russisch kontrollierten] Hafen von Berdjansk verlassen habe.´ Wir reden dabei von einer Menge von 150.000 Tonnen. Das ist außerordentlich unplausibel. Genauso unplausibel wie die Behauptung aus Kiew, man habe Handygespräche von russischen Soldaten aus der Ukraine abgehört. Dabei hätten die Soldaten ihre Angehörigen in Russland nach der Schuhgröße ihrer Kinder gefragt, um dann anschließend den ukrainischen Kindern die passenden Schuhe abzunehmen. Solche Behauptungen und Geschichten bauen darauf, dass sie niemand richtigstellen kann und dass das Publikum keinen Zugang mehr zu Gegeninformationen hat. Wer eine solche Behauptung in der Ukraine korrigiert, wandert wegen Unterstützung des Aggressors ins Gefängnis. Es sind auch Behauptungen, die sich um Realitäten nicht kümmern, beispielsweise den Umstand, dass es russischen Soldaten in der Ukraine aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt ist, private Handys mit sich zu führen; oder auch die ökonomischen Verhältnisse in der Ukraine und in Russland. Es sind Geschichten, deren Funktion es ist, Hass zu schüren; und den Verkauf von Getreide aus russisch kontrollierten Häfen zu unterbinden.

Die kürzlich getroffene Vereinbarung zum Export des ukrainischen – und russischen – Getreides ist äußerst fragil. Mit ihr verlieren die Kiewer Sachwalter ein wichtiges Pfund. Die Vereinbarung ist auch für allerhand Störungen und Provokationen anfällig. Nur eine von ihnen besteht in den veralteten ukrainischen Seeminen, die sich zum Teil inzwischen aus ihren Verankerungen gelöst haben und herrenlos durchs Schwarze Meer treiben. Im Zweifel ist in unseren Medien ja immer Russland der Schuldige. Es bleibt zu hoffen, dass die Vereinbarung und damit die Getreidetransporte langfristig umgesetzt und realisiert werden können.

Stefan Schmitt ist Psychologe, lebt in Göttingen und ist Leser der NachDenkSeiten

Titelbild: Juice Flair/shutterstock.com


[«1] Food and Agriculture organization of the United Nations (FAO), The Importance of Ukraine and the Russian Federation for global agricultural markets and the risks associated with the war in Ukraine. June 2022. fao.org/3/cb9013en/cb9013en.pdf

[«2] `We guarantee … that when and if Ukraine agrees to demine its coast and let ships leave its ports, we will not take advantage of the situation to advance our special military operation. These are President guarantees, and we are prepared to formalize them one way or the other.´ tass, 8.6.2022

[«3] Noam Chomsky, Edward Said, Howard Zinn et al., Sanctions are weapons of mass destruction, in: Anthony Arnove [Ed.], Iraq under Siege. The deadly impact of sanctions and war. Cambridge, 2000

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