Kiews „Schwarze Listen“

Kiews „Schwarze Listen“

Kiews „Schwarze Listen“

Andrej Hunko
Ein Artikel von Andrej Hunko

Die blau-gelbe Fahne steht für Freiheit, das ominöse russische Zeichen „Z“ für Unterdrückung. So einfach ist der Krieg um die Ukraine aber nicht erklärbar, obwohl sich unter europäischen Staatskanzleien und Leitmedien nur diese eine Erzählung festgesetzt hat. Der Anfang April 2023 vom in Wien ansässigen ProMedia-Verlag veröffentlichte Sammelband „Kriegsfolgen – Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“ hat den Anspruch, jenseits von Propaganda-Narrativen, in 17 Beiträgen von ukrainischen, russischen und deutschsprachigen Autoren die Motive und die Folgen dieser seit Generationen gefährlichsten Weltkrise zu durchleuchten. Die NachDenkSeiten präsentieren exklusiv den Beitrag des Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko zum Kriegsfolgen-Band, in welchem dieser sich den Hintergründen der umstrittenen „Feinde der Ukraine“-Listen widmet. Von Andrej Hunko.

Die westliche Unterstützung des Krieges in der Ukraine, die Lieferung immer schwererer Waffen und damit das Risiko einer atomaren Eskalation sowie die Beteiligung an einem beispiellosen Wirtschaftskrieg wird meist mit der Notwendigkeit der Verteidigung demokratischer Werte gerechtfertigt. Richtig ist, dass der russische Einmarsch in die Ukraine völkerrechtswidrig war und sich damit in die Völkerrechtsbrüche von NATO-Staaten der vergangenen Jahrzehnte einreiht.

Dass aber in der Ukraine Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigt werden, muss mehr als nur in Frage gestellt werden. Schon nach dem verfassungswidrigen Umsturz im Februar 2014 agierten die jeweiligen ukrainischen Regierungen außerhalb demokratischer Normen und zogen sich dafür die Kritik verschiedener Institutionen wie etwa des Europarates zu. So bei der Unterdrückung von nicht-ukrainischen Sprachen, dem mangelnden Aufklärungswillen bei den Todesschüssen auf dem Majdan und beim Massaker im Gewerkschaftshaus von Odessa [1] oder beim Verbot oppositioneller Medien. Die KP der Ukraine, die noch 2012 bei den letzten gesamtukrainischen Parlamentswahlen 13,2 % der Stimmen bekam, wurde schon 2015 verboten. All das geschah bereits lange vor dem Beginn des russischen Einmarsches.

Im Fegefeuer

Das Betreiben staatlicher oder parastaatlicher, öffentlich einsehbarer Schwarzer Listen, in denen vermeintliche »Feinde der Ukraine« oder »Informationsterroristen« gelistet werden, dürfte jedoch einmalig in der internationalen Gemeinschaft sein. Gelistet werden dort u. a. Personen des öffentlichen Lebens, die aus Sicht der Betreiber dem ukrainischen staatlichen Narrativ zuwiderlaufen.

Im deutschen Sprachraum sind schwarze Listen der Ukraine einer breiteren Öffentlichkeit im Sommer 2022 bekannt geworden, als auch der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Rolf Mützenich, und die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer neben 76 weiteren Personen auf einer Liste des ukrainischen »Zentrums zur Bekämpfung von Desinformation« auftauchten. Dieses Zentrum untersteht der ukrainischen Regierung und wird von Geldern aus dem Westen finanziert.

Weniger bekannt ist die schon seit 2014 bestehende schwarze Liste »Mirotworez« (»Friedensstifter«), auf der laut der britischen The Times Anfang 2022 187.000 Personen als »Feinde der Ukraine« zu finden sind, darunter der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der Musiker Roger Waters oder über 4000 Journalisten, die 2014 eine Akkreditierung im Donbass besaßen.[2]

Dass auch ich mit Namen, Foto und Kontaktperson aus meinem Aachener Umfeld in der Rubrik »Fegefeuer« (»Tschistilische«) auf Mirotworez geführt bin, habe ich im Frühjahr 2017 von einer ukrainischen regierungskritischen Menschenrechtsorganisation erfahren.

Die auf der Mirotworez-Homepage angegebene Begründung dafür lautet : »Bewusste Verletzung der staatlichen Grenze der Ukraine zwecks Eindringens auf die durch russische Okkupanten besetzte Krim. Mehrfache bewusste Verletzung der staatlichen Grenze der Ukraine zwecks Eindringens in das durch russische terroristische Bandentruppen besetzte ukrainische Territorium im Donbass […]. Teilnahme an den Versuchen, die Annexion der autonomen Republik Krim zu legalisieren […]. Das Zentrum ›Mirotworez‹ bittet die Strafverfolgungsbehörden, die vorliegende Publikation auf der Internetseite als Anzeige über Ausführung bewusster Taten gegen die nationale Sicherheit der Ukraine, den Frieden, Sicherheit der Menschheit, Völkerrechtsordnung sowie weitere Rechtsverstöße durch diese Person zu betrachten.«

Mal abgesehen davon, dass ich noch nie auf der Krim war, bezieht sich der Eintrag auf eine Lieferung von humanitären Hilfsgütern für das Kinderkrankenhaus in Gorlowka (Donbass), die ich 2015 gemeinsam mit meinem Fraktionskollegen von der Partei Die Linke, Wolfgang Gehrcke, unternommen hatte. Der Vorwurf wiederum, »die Annexion der Krim zu legalisieren«, bezieht sich auf eine Aussage von mir, dass ich alle internationalen Versuche unterstütze, zu einem von allen Seiten anerkannten Status der Krim zu kommen, etwa durch eine Wiederholung des Referendums mit internationalen Wahlbeobachtern.

Die Einträge auf Mirotworez richten sich an die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden. Denn im Unterschied zur 78-köpfigen Liste von sogenannten »Informationsterroristen« ist Mirotworez parastaatlich, untersteht also nicht offiziell ukrainischen Behörden, an die aber wiederum appelliert wird. Laut der britischen The Times wurde Mirotworez 2014 nach einem Treffen des ukrainischen Politikers George Tuka mit einem ehemaligen Mitarbeiter des Geheimdienstes SBU mit dem Decknamen »Roman Zaitsev« gegründet. Zaitsev soll seitdem mit anderen die Seite betreiben, Tuka wurde später Gouverneur unter Präsident Poroschenko.

Die Aufmachung, die steckbriefartige Listung der Personen und die martialische Sprache müssen von den dort vermerkten Personen als Bedrohung angesehen werden. Dies betrifft natürlich zunächst Personen in der Ukraine selbst, die mit ihren persönlichen Daten wie zum Beispiel Wohnort, Telefonnummer usw. auf dieser Seite als Feinde aufscheinen. So wurden am 15. April 2015 der Abgeordnete Oleg Kalaschnikow und am 16. April 2015 der Journalist Oles Busina ermordet. Beide waren kurz zuvor in die Datenbank von Mirotworez eingetragen worden. Mehr als 1000 Personen wurden auf Grundlage ihres Eintrags in die Liste verhaftet. Nach Aussagen von George Tuka, so die britische The Times, sei der Zweck der Liste, die Ukraine zu »säubern«, die Ermordeten würde er »nicht vermissen«.

»Völlig inakzeptabel« – und folgenlos

All das bewog mich dazu, mich mit diesem Problem gründlich zu beschäftigen und als Bundestagsabgeordneter mein parlamentarisches Fragerecht gegenüber der Bundesregierung zu nutzen. So hatte ich erstmals 2017 in der Fragestunde eine Mündliche Frage an die Bundesregierung gerichtet.[3] Der damalige Staatsminister im Auswärtigen Amt Michael Roth (SPD) bezeichnete in seiner mündlichen Antwort Mirotworez mehrfach als »völlig inakzeptabel«, versicherte, bei der »Veröffentlichung persönlicher Daten« handele es sich um einen schwerwiegenden Vorfall sowie einen Verstoß gegen die internationalen Standards des Datenschutzes, und er teilte mit, dass die Bundesregierung das Problem bereits mehrmals gegenüber der ukrainischen Seite thematisiert habe. Meine Fraktionskolleginnen Kathrin Vogler und Heike Hänsel sind mit ihren Nachfragen dem Thema ebenfalls nachgegangen und haben damit die Auseinandersetzung intensiviert.

Ein relevanter Punkt, auf den Staatsminister Roth im Plenum einging und der mir gut in Erinnerung blieb, war der vermutliche Standort des Servers für die Mirotworez-Seite : Kanada. Als ich später an dem Thema arbeitete, konnte ich manche Details, unter anderem den Hinweis auf Kanada, in dem Plenarprotokoll, das das Sitzungsgeschehen wiedergeben soll, nicht finden. Eine Weile verunsichert, las ich es mehrfach und konnte an keiner Stelle Kanada finden. Vielleicht war ich damals nur übermüdet, nicht mehr aufnahmefähig und habe etwas falsch zugeordnet ? Oder habe ich mir das alles ausgedacht oder nur geträumt ? Nachdem ich mir das Video der Plenarsitzung angesehen hatte, in dem unsere Auseinandersetzung fixiert war, stellte ich fest, dass ihre Verschriftlichung mit der Videoaufnahme an mehreren Stellen tatsächlich auseinandergeht.

Offensichtlich hatte der Staatssekretär ein wichtiges Detail öffentlich gemacht und sich mit seiner Einschätzung für die Bundesregierung zu weit aus dem Fenster gelehnt, weswegen man im Nachhinein einiges zurücknehmen wollte. Diese Geschichte mündete später in einen Artikel des Vorsitzenden der West-Ost-Gesellschaft in Baden-Württemberg sowie ehemaligen Bundestagsabgeordneten Jörg Tauss,[4] der übrigens auch auf der Seite von Mirotworez genannt wird. In seinem Fall ging es um einen Krim-Besuch, den er im Rahmen der Kooperation der Halbinsel mit der Zivilgesellschaft in Deutschland gemacht hatte.[5]

Um nachzuforschen, was die Bundesregierung über Mirotworez wirklich weiß und welche Bemühungen sie gegen diese Seite unternimmt, hatte Jörg Tauss nach dem Informationsfreiheitsgesetz eine Anfrage an das Auswärtige Amt gerichtet. Leider enthielt die vom Außenministerium daraufhin gelieferte Dokumentation viele vollständig geschwärzte Seiten. Die Begründung dafür lautete zum Beispiel : Eine Offenlegung der Information gefährde die guten Beziehungen zur Ukraine.[6]

Während die Bundesregierung in ihren Antworten stets darauf verwies, dass es sich im Falle von Mirotworez nicht um eine staatliche Internetseite, sondern um eine Webseite einer ukrainischen Nichtregierungsorganisation handelt, häuften sich immer mehr Indizien dafür, dass Mirotworez mit den staatlichen Strukturen der Ukraine aufs Engste verbunden ist. Ein YouTube-Video des ukrainischen Politikers und Journalisten Anatolij Scharij wies nach, dass beispielsweise die ukrainische Grenzpolizei bei der Identitätskontrolle der Einreisenden die Datenbank von Mirotworez benutzt und aufgrund der auf dieser Seite angegebenen Informationen die Einreise verweigern oder Personen festhalten kann. Auch der ukrainische Innenminister Arsen Awakow [7] bestätigte in einem Interview, dass ihm unterstehende Ressorts Mirotworez verwenden. Ebenfalls berichteten mehrere vertrauenswürdige Medien, dass der Berater des Innenministers Anton Heraschtschenko und der stellvertretende Minister für Fragen der vorübergehend besetzten Gebiete und Gouverneur der ostukrainischen Provinz Luhansk, später stellvertretender Minister für die besetzten Gebiete, George Tuka, sich als Gründer von Mirotworez hervortaten.

All das motivierte mich, eine umfassende und detaillierte Kleine Anfrage an die Bundesregierung auszuarbeiten.[8] Die Qualität der Antwort auf diese Anfrage ist erschütternd : Es handelt sich genau um jenen Fall, in dem man durch die Fragen mehr erfahren kann als durch die Antworten. Die Reaktion verstärkte meinen Eindruck, dass der politische Wille in Deutschland, die ukrainische Regierung zur Löschung der Seite zu bringen, einfach nicht vorhanden war, während gleichzeitig die damalige Poroschenko-Regierung diese Homepage unterstützte und sogar in Schutz nahm.

Offensichtlich handelt es sich hier um eine für ukrainische Post-Majdan-Verhältnisse charakteristische Arbeitsteilung zwischen legalen staatlichen und faschistischen para-staatlichen Strukturen, die außerhalb von Legalität, Legitimität und internationalen Konventionen ungestört agieren können.[9]

Eine meiner Erwartungen gegenüber dem später neu gewählten Präsidenten Selenskij bestand darin, er möge sich für die Einhaltung der Menschenrechte in seinem Land stärker einsetzen als sein Vorgänger und in diesem Sinne auch zumindest gegen Mirotworez als böses Überbleibsel aus der Poroschenko-Zeit demonstrativ vorgehen. Zumal Elena Selenskaja selbst während des Präsidentschaftswahlkampfs ihres Ehemannes auf dieser Liste geführt wurde.[10] Wenige Monate nach Selenskijs Wahl zum Präsidenten schrieb ich ihm einen Brief, in dem ich darum bat, politische Gefangene in der Ukraine freizulassen sowie darauf hinzuwirken, dass die Internetseite Mirotworez möglichst schnell gelöscht und die strafrechtliche Relevanz für ihre Betreiber geprüft wird. Mein Brief ging am 11. Oktober 2019 auf die Post, doch eine Antwort vom ukrainischen Präsidialamt lässt bis heute auf sich warten.

Kurz darauf, im Dezember 2019, kündigte Mirotworez selbst an, die Liste vom Netz nehmen zu wollen, sodass sich meine Hoffnung auf eine Besserung unter Selenskij zu erfüllen schien. Nur wenige Stunden nach Beendigung eines Treffens im sogenannten Normandie-Format (Russland, Deutschland, Frankreich und die Ukraine) in Paris gab Mirotworez bekannt, dass die Seite, auf der Tausende Namen und Adressen von »Feinden der Ukraine« gespeichert sind, am 10. Dezember 2019 um 18 Uhr vom Netz genommen wird. »Auf Grund einiger objektiver Gegebenheiten stellen wir den Server Mirotworez, genauer gesagt die Seite myrotvorets.center und alle ihre Spiegel-Versionen ab«, hieß es in ihrer Mitteilung. »Bestimmte Nutzer« hätten aber »für eine bestimmte Zeit« noch Zugang zu den gespeicherten Daten. Wie die nicht-öffentliche Nutzung der Daten bewerkstelligt werden soll, wurde nicht bekannt gegeben.[11]

Die durchaus erfreuliche Ankündigung blieb aber ohnehin eine Luftnummer. Bereits wenige Tage danach war klar : Mirotworez bleibt online und die Liste weiterhin öffentlich für alle zugänglich. Der Zeitpunkt der Ankündigung direkt nach dem Normandie-Treffen lässt vermuten, dass auch die Bundesregierung von ukrainischer Seite mit einem falschen Versprechen zur Schließung von Mirotworez reingelegt wurde.[12]

Immer mehr Listen

Doch auch nach diesem offenbar gebrochenen Versprechen folgten seitens der Bundesregierung keine sichtbaren Konsequenzen. Ein ernsthafter Druck auf die politisch Verantwortlichen in der Ukraine war von deutscher Seite nicht zu vernehmen. Somit hat sich dieses Instrument der Einschüchterung der gesamten ukrainischen Gesellschaft, sowie missliebiger Politiker, Journalisten und Kritiker in aller Welt, offenkundig als resistent erwiesen und existiert uneingeschränkt weiter: Anfang 2023 begrüßt die Startseite von Mirotworez ihre Besucher mit dem Satz : »Russen ? Muss man töten …« und platziert demgegenüber ein Bild von Walerij Saluschnyj, dem ukrainischen Generalstabschef. Das Foto gleich darunter stellt die Gesichter von Leichen russischer Soldaten dar.

Leider ist die Internetseite Mirotworez nicht der einzige Versuch von ukrainischer Seite, durch eine öffentliche Zurschaustellung unliebsame Personen zu verunglimpfen oder einzuschüchtern. Auch hier in Deutschland wurde im Frühjahr 2022 von einer Gruppe ukrainisch-stämmiger junger Menschen eine Liste russischsprachiger Instagram- und YouTube-Blogger erstellt, die Russlands Krieg gegen die Ukraine »nicht ausreichend deutlich« kritisieren. Dabei wurden nicht nur Namen von Kriegsbefürwortern genannt, sondern auch russischstämmige Menschen erwähnt, welche sich zwar öffentlich für Frieden aussprachen, aber sich nicht vollständig und klar mit der Ukraine solidarisierten. Die Initiative ging von A. K., einer Mitarbeiterin mehrerer SPD-Bundestagsabgeordneten, aus, die zuvor in Kiew unter Präsident Poroschenko für Viktoria Sjumar, eine ukrainische Rada-Ausschussvorsitzende der nationalistischen Regierungspartei »Volksfront«, tätig war. In einer Instagram-Story schrieb K. unter anderem, dass es das Ziel der Liste sein soll, über Blogger zu informieren, die »in Zeiten des Krieges unpolitisch bleiben«, die »nicht offen gegen Putins Regime auftreten« und sogar über diejenigen, die »den Hashtag #FriedenderWelt (#MiruMir) verwendeten«, was von ihr und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern als eine unzureichende Positionierung gegenüber der Ukraine angesehen wurde.

Wegen angedrohter juristischer Schritte seitens der Betroffenen ging diese Internetseite in Deutschland nicht online. Leider haben jedoch die unsäglichen Aufrufe bereits ausgereicht, um das gesellschaftliche Klima im russischsprachigen Internet-Segment in Deutschland nachhaltig zu vergiften und um Menschen, welche auf diese Liste kommen sollten, Angst einzujagen.

Doch dabei blieb es nicht. Wie bereits erwähnt, wurde im Sommer 2022 öffentlich, dass mittlerweile auch der ukrainische Staat selbst »schwarze Listen« von vermeintlichen Verbreitern russischer Propaganda zusammenstellt und veröffentlicht. Unter den Gelisteten waren auch Personen des öffentlichen Lebens aus Deutschland wie zum Beispiel die hierzulande sehr bekannte Feministin und Emma-Gründerin Alice Schwarzer oder der Schriftsteller Wolfgang Bittner, aber auch der Vorsitzende der stärksten Regierungsfraktion (SPD) im Deutschen Bundestag, Rolf Mützenich. Mitte Juli sprach der Leiter des ukrainischen staatlichen Zentrums zur Bekämpfung von Desinformation, Andrij Schapowalow, in diesem Zusammenhang von »Informationsterroristen«, die sich als Kriegsverbrecher vor dem Gesetz zu verantworten hätten.

Dass nun eine staatliche Stelle wie das »Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation«, welches beim Nationalen Sicherheitsrat der Ukraine angesiedelt ist, etwa Rolf Mützenich mit der Begründung, er setze sich für einen Waffenstillstand ein, als prorussischen Propagandisten diffamiert und strafrechtlich bedroht, ist zweifellos eine neue Qualität der Einschüchterung.

Besonders vor dem Hintergrund, dass die Ukraine von der SPD-angeführten Bundesregierung eine beispiellose umfangreiche politische, humanitäre sowie militärische Unterstützung bekam und noch bekommt und nur wenige Tage später die SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faeser zusammen mit ihrem Kollegen, dem SPD-Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, Kiew besuchte und Vertreter der ukrainischen Regierung traf, erschien mir die Listung von Rolf Mützenich besonders dreist.[13] Offensichtlich hat die ukrainische Führung aus der Inkonsequenz Deutschlands gegenüber der Mirotworez-Internetseite gelernt, dass sie auch dieses Mal keine ernsthaften Konsequenzen zu befürchten habe.

Umgehend reichte ich dazu eine Schriftliche Frage an die Bundesregierung ein, ob und wie die Bundesregierung auf die Listung deutscher Staatsangehöriger als »Verbreiter russischer Propaganda« beim »Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation beim Nationalen Sicherheitsrat der Ukraine« reagiert, und ob diese Listung von Faeser und Heil gegenüber der ukrainischen Regierung während ihres Ukraine-Besuchs thematisiert worden war. Obwohl die Bundesregierung in ihrer Antwort [14] mitteilte, dass diese Aufstellung ihr bekannt sei, kam die Forderung, eben jene zu unterbinden, lediglich von der deutschen Botschaft in Kiew. Offenbar hatten die beiden SPD-Minister während ihrer Ukraine-Reise, die den Menschen in Deutschland vor allem durch eine fröhliche Sektglas-Szene auf dem Balkon der Residenz der deutschen Botschafterin in Kiew in Erinnerung bleiben wird, nicht vor, die gelisteten Bundesbürger, unter anderem auch den eigenen Parteigenossen Mützenich, vor einer potenziell tödlichen Bedrohung zu schützen und direkt vor Ort die Löschung der Liste zu verlangen.

Dennoch wurde das Verzeichnis nach der medialen Welle und den Anfragen im Bundestag kurz darauf von der Homepage des »Zentrums zur Bekämpfung von Desinformation« genommen. Vermutlich hat die Bundesregierung aus Angst vor einem größeren Skandal und wachsender Medienaufmerksamkeit dieses Mal nicht tatenlos zugesehen, sondern mit Nachdruck bei der ukrainischen Regierung interveniert. Kurz darauf schrieb meine Fraktionskollegin Sevim Dağdelen eine ausführliche Kleine Anfrage [15] zu diesem Thema, die allerdings wieder einmal äußerst spärlich beantwortet wurde.

Anfang November 2023 bekam die Auseinandersetzung mit der Liste des ukrainischen »Zentrums zur Bekämpfung von Desinformation« ein Nachspiel, als Rolf Mützenich beim Debattenkonvent 2022 »Sicherheit und Frieden« sein Schweigen dazu brach. In der 43. Minute der Online-Diskussion erklärte der Politiker, er sei darüber irritiert gewesen, dass die ukrainische Regierung ihn auf eine »Terrorliste« gesetzt habe, und fügte hinzu, er habe auf dieser Grundlage auch Sekundärdrohungen erhalten.

Diese Äußerung entfachte erneut einen medialen Wirbel, in dem Mützenich für seine Worte sogar angegriffen wurde. So kommentierte zum Beispiel die Bild-Zeitung seine Aussage : »SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich (63) macht Stimmung gegen die Ukraine – und verbreitet dabei Falschbehauptungen !« Währenddessen twitterte der ukrainische Bandera-Verehrer Andrij Melnyk : »Mimimi. Es gibt keine ›Terrorliste‹ der ukrainischen Regierung. Hören Sie mal auf, sich als ›unschuldiges Opfer‹ darzustellen«. Nicht die schwarzen Listen selbst wurden zum Gegenstand der Empörung, sondern die zugespitzte Kritik von Rolf Mützenich.

Inzwischen ist mir ein weiteres derartiges Verzeichnis von vermeintlichen Ukraine-Feinden bekannt geworden. Die Chesno-Bewegung (»chesno« bedeutet »ehrlich«) engagiert sich laut eigenen Angaben für den Ausbau des Parlamentarismus in der Ukraine, fördert kommunale Selbstverwaltung, setzt sich für politische Transparenz ein und führt auf ihrer Homepage unter anderem namentlich ukrainische »Verräter«. Die Organisation schreibt auf ihrer Seite, sie greife bei der Erstellung eines Profils in ihrem Verräter-Register auf Links zu vertrauenswürdigen Quellen zurück, der Eintrag selbst hänge aber von der Bewertung durch Chesno ab. Ein mir gut bekannter westukrainischer Pazifist und regierungskritischer Journalist, Ruslan Kotsaba, wird etwa als prorussischer Propagandist genannt. Unter seinem mit Blut umrahmten Foto sind seine »Untaten« aufgezählt : Zum Beispiel die Verweigerung der Mobilmachung oder die Unterzeichnung eines Briefs an US-Präsident Joe Biden mit einer Beschwerde über die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der Ukraine. Als eine im Sinne der Autoren des Eintrags wohl »vertrauenswürdige« Referenzquelle ist hier Mirotworez angegeben, wo Kotsaba bereits seit März 2016 gelistet ist. Der Kreis des Absurden schließt sich : Ein wahrer Pazifist landet im Fegefeuer des »Friedensstifters«.

Die verschiedenen schwarzen Listen sind charakteristisch für die Ukraine nach dem Majdan-Putsch. Faschistische Methoden werden staatlich integriert oder in einem Graubereich para-staatlich gehalten, ohne jedoch offiziell zu werden, sodass internationale Kritik ins Leere läuft. Die immer wieder vorgetragene Empörung westlicher Regierungen oder internationaler Organisationen bleibt ohne weitere Konsequenzen. Die so gern angeführten demokratischen Grundwerte bleiben mit westlicher Hilfe auf der Strecke.

Auszug aus dem Sammelband „Kriegsfolgen – Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“, herausgegeben von Hannes Hofbauer und Stefan Kraft, Promedia-Verlag, Wien.

Titelbild: Coverfoto Promedia-Verlag


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