Plädoyer für Entspannungspolitik und Warnung vor der Eskalation

Plädoyer für Entspannungspolitik und Warnung vor der Eskalation

Plädoyer für Entspannungspolitik und Warnung vor der Eskalation

Ein Artikel von Tilo Gräser

Antworten auf die Frage, warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, gibt ein kürzlich erschienener Sammelband zum Thema Ukraine-Krieg. Darin beschäftigen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und aus verschiedenen Ländern sowie zwei ehemalige deutsche Außenpolitiker mit den Ursachen und Folgen des Krieges in und um die Ukraine. „Kein Frieden ohne Diplomatie“ ist auf dem Buchrücken zu lesen. Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen hat das Buch am Dienstag in Berlin vorgestellt. Ein Bericht von Tilo Gräser.

„Es ist wieder passiert. Wie in Kriegen zuvor gerieren sich viele Medien im russischen Krieg gegen die Ukraine nicht als Vierte Gewalt, die grundsätzlich alles infrage stellt, sondern vielfach als Kriegspartei.“ Das stellt die Kommunikationswissenschaftlerin Sabine Schiffer in ihrem Beitrag im kürzlich erschienenen Sammelband „Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ fest. Sie meinte damit nicht etwa russische Medien, sondern die der westlichen Staaten, einschließlich der Bundesrepublik.

„Stimmen, die Zweifel an der militärischen Aufrüstung der Ukraine als alleinigem Mittel gegen den russischen Angriff anmelden, werden seit Kriegsbeginn attackiert“, so Schiffer. In den etablierten Medien würden sie im Framing als Unbelehrbare vorkommen, aber nicht als Anlass zu kritischen Recherchen zur Kriegspropaganda. Die Kommunikationswissenschaftlerin attestiert auch den deutschen etablierten Medien „Feindbildpflege durch Dämonisierung und Doppelstandards“ sowie „Schuldzuweisung statt Recherche“.

Das bestätigte am Dienstag in Berlin mit Günter Verheugen ein ehemaliger hochrangiger deutscher Politiker. Er stellte gemeinsam mit den beiden Herausgebern Sandra Kostner und Stefan Luft den im Westend-Verlag erschienenen Band vor. Der ehemalige FDP- und SPD-Außenpolitiker sowie frühere EU-Kommissar wünscht sich von den Medien, „nicht einfach das zu übernehmen, was ihnen angeliefert wird“. Ihm drehe sich „immer der Magen um“, wenn er sehe, wie gezielte Informationen aus US-Geheimdiensten über US-Zeitungen wie „New York Times“ und „Washington Post“ in deutsche und europäische Medien gelangen.

Kritische Stimmen diffamiert

Verheugen schlug vor, dass solche „dubiosen Informationen“ durch einen freiwilligen Warnhinweis in den Medien gekennzeichnet werden: „Achtung! Dieser Beitrag kann Informationen enthalten, die aus dubiosen Quellen stammen. Und die können wir nicht unabhängig überprüfen.“ Er wünsche sich außerdem „mehr kritische Reflexion über das, was geschieht, und nicht die einfache Übernahme dessen, was man heute Narrativ nennt“.

Zuvor hatte der 79-Jährige aus eigenem Erleben bestätigt, dass kritische Stimmen schnell als „nützliche Idioten im Dienst von Putin oder als Handlanger russischer Interessen“ diffamiert werden. Das habe er erlebt, als er sich kritisch zur westlichen Politik im Konflikt um die Ukraine äußerte. In Berlin stellte er die Frage: „Wie wollen wir eigentlich diejenigen nennen, die bedingungslos den politischen Vorgaben und den politischen Interessen der westlichen Führungsmacht folgen?“

Der Ex-EU-Kommissar verwies auf die mehr als 810.000 Menschen, die bisher das „Manifest für Frieden“ der Gruppe um Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht unterzeichnet haben. Er habe es auch unterschrieben, auch wenn er nicht mit allen Aussagen im Manifest einverstanden sei. Aber es sei notwendig, „den Regierenden klarzumachen, dass es eine andere Meinung in diesem Lande gibt“. In vielen europäischen Ländern, auch in Deutschland, sei eine Mehrheit der Bevölkerung für Verhandlungen, um den Krieg zu beenden, zeigte sich Verheugen sicher.

Er kenne nur Menschen, die gegen diese Kriegspolitik seien, berichtete er. Doch es sei die Frage, wo außerhalb von Regierung und Bundestag jene zu finden sind, die diese Kriegstreiberei für richtig halten. „Ich kann sie nicht finden“, so Verheugen.

Vorgeschichte als Tabuthema

Doch zugleich gebe es keine notwendige Debatte hierzulande darüber, „was wir in Deutschland in diesem Krieg zu suchen haben und was wir von diesem Krieg und von seinen Ergebnissen erwarten“. Er wünsche sich, dass das vorgestellte Buch einen Anstoß dazu geben könne. Doch das Lager derjenigen in der deutschen Politik, die „Russland ruinieren“ wollen, sei in der Mehrheit und weiche der inhaltlichen Diskussion aus.

Stattdessen werde insbesondere die Vorgeschichte des Krieges tabuisiert, hob Verheugen hervor. Kein Krieg falle einfach vom Himmel oder werde von einem „einzelnen Verrückten“ geführt, stellte er klar. Aus seiner Sicht hat das aktuelle Geschehen in der Ukraine eine „sehr lange Vorgeschichte“, die vor mehr als 30 Jahren begonnen habe. Sie habe mit dem gebrochenen Versprechen an die Sowjetunion im Zusammenhang mit der deutschen Einheit angefangen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern.

„Ich weiß es aus erster Hand, dass die Zusage gemacht wurde, dass es keine Verschiebung der NATO nach Osten geben wird“, sagte Verheugen. Russland habe in den 1990er Jahren aus Schwäche „murrend und knurrend“ die dann doch erfolgte Nato-Osterweiterung akzeptiert. „Aber es war ein gebrochenes Versprechen. Damit fing der Weg an, der uns dahin geführt hat, wo wir heute sind, nämlich an Stelle gesamteuropäischer Kooperation ein tiefer Konflikt mitten in Europa, dessen Ende wir nicht absehen können.“

Lange vorbereiteter Regime Change

Der Westen habe alle roten Linien Moskaus überschritten, vor allem jene klar geäußerte zur 2008 angekündigten Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato. Die Warnung davor sei ignoriert worden, so der Ex-EU-Kommissar mit Blick auf die Folgen. Er erinnerte auch an das „Schlüsseljahr 2013/14“: „Der Maidan ist auch so eine Geschichte, die bei uns nicht hinterfragt werden darf“. Neben dortigen spontanen Demonstrationen sei das Geschehen auf dem zentralen Platz in Kiew „auch Teil einer seit längerem vorbereiteten Regime-Change-Operation“ gewesen.

Die USA seien dabei federführend gewesen, wovon nicht nur das „Fuck the EU“-Telefonat von Victoria Nuland zeuge. Aber auch einige EU-Staaten, „einschließlich Deutschland“, seien an dem Staatsstreich in Kiew im Februar 2014 beteiligt gewesen, stellte Verheugen klar. „Dieser Regime Change ist vorbereitet worden und das Maidan-Ergebnis, obwohl ein eindeutiger Verfassungsbruch in der Ukraine, ist auch sofort akzeptiert worden.“

Der ehemalige EU-Kommissar, der unter anderem für die EU-Osterweiterung zuständig war, berichtete davon, dass er den Kiewer Ex-Präsidenten Petro Poroschenko sehr gut kenne. „Ich weiß, was er im Kopf hatte.“ Das sei „nicht das, was passiert ist. Aber ich weiß auch, unter welchen Zwängen er stand.“ Verheugen fügte erklärend hinzu: „Sie haben den rechtsradikalen, nationalistischen Geist aus der Flasche gelassen und bis heute haben sie ihn nicht wieder reingekriegt.“

Überhöhung des Konfliktes

Aber danach dürfe nicht gefragt werden und darüber werde nicht gesprochen, stellte er fest. „Deshalb ist die Erzählung, der wir ausgesetzt sind, eine ganz andere: Nämlich wir befinden uns in einem titanischen Kampf des Guten gegen das Böse. Die Überhöhung dieses Konflikts zur großen, armageddonhaften Systemauseinandersetzung muss her, damit Unterstützung für dieses Unternehmen erzeugt werden kann.“

Doch in den USA werden „viel ehrlicher“ darüber gesprochen, so Verheugen, weil dort das eigene geopolitische Interesse offen benannt werde, „Russland nie wieder zu einem möglichen Rivalen werden zu lassen“. Er selbst habe zwei US-Präsidenten im Oval Office des Weißen Hauses in Washington erlebt, die ihren Besuchern aus Deutschland und der EU erklärten, „was Sache ist mit der Ukraine: Nämlich, dass das westliche Ziel darin bestehen muss, sie nicht wieder in den Einflussbereich Russlands fallen zu lassen.“

Es sei „überhaupt nicht um die Frage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand in der Ukraine“ gegangen, erinnerte sich Verheugen. „Es ging ausschließlich um die Frage: Wie kann man verhindern, dass mithilfe der Ukraine Russland wieder zu einem möglichen Systemrivalen wird?“ Er warnte Deutschland und die EU ausdrücklich davor, sich weiter in die dominierende Konfliktbereitschaft der führenden Kreise der USA hineinziehen zu lassen, auch mit Blick auf China.

„Deutschland ist Kriegspartei“

„Bis wohin wollen wir die Eskalation im Ukraine-Krieg treiben lassen?“, fragte der Ex-EU-Kommissar wie auch die Herausgeber des vorgestellten Buches. Er rechne damit, dass auch Deutschland noch Kampfjets liefern werde, nachdem in den letzten Monaten alle möglichen roten Linien überschritten wurden. Es führe kein Weg an der Erkenntnis vorbei: „Wir sind Beteiligte an diesem Krieg, nicht nur, wie Habeck gesagt hat, eine Wirtschaftskriegs-Partei. Wir sind in Wahrheit eine Kriegspartei, wesentlich stärker als seinerzeit im Kosovo.“

Deutschland sei das logistische Zentrum für die Unterstützung der Ukraine. Hier würden ukrainische Soldaten ausgebildet, Munition und Nachschub geliefert ebenso wie Geheimdiensterkenntnisse. Verheugen stellte die Frage, was damit erreicht werden soll. „Ist es unser Interesse, Russland und China zum Beispiel zu einem großen eurasischen Block zusammenzuschließen? Ist es unser Interesse, dass sich die gewaltige wirtschaftliche und demographische Macht Chinas mit der gewaltigen nuklearen Macht Russlands verbindet? Das ist wirklich furchterregend. Wir sind im Augenblick dabei, das zu schaffen.“

Mit Blick auf die Aussage von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), Russland ruinieren zu wollen, fragte der erfahrene Außenpolitiker: „Ist es unser Interesse, eine Super-Nuklearmacht im Chaos versinken zu lassen?“ Und fügte hinzu: „Glaubt jemand im Ernst, dass eine im Chaos versinkende atomare Supermacht in unserem Interesse liegt? Ich glaube das jedenfalls nicht. Unser Interesse kann es eigentlich nur sein, alles daran zu setzen, dass eine diplomatische Lösung gefunden wird, alles daran zu setzen, erst einmal den Weg zu Gesprächen überhaupt freizumachen und dann solche Gespräche zu führen.“

Frieden nur mit Russland möglich

Verheugen widersprach bei der Buchvorstellung auch vehement der These des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil, dass Sicherheit in Europa heute nur gegen Russland möglich sei. Das führe nur zu einer „unendlichen Aufrüstungsspirale“ und einem „ungehemmten Rüstungswettlauf“. Stattdessen forderte er wie die Autoren im Buch eine Rückkehr zur Entspannungspolitik ein, weil diese sich am wichtigsten Grundwert orientiere, dem Leben. Es gebe in der internationalen Politik nur eine Währung, schrieb er den heutigen deutschen Außenpolitikern ins Stammbuch: „Diese Währung heißt Vertrauenswürdigkeit.“

Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit könnten nicht hergestellt werden, wenn nicht miteinander geredet werde, stellte er klar. Methoden und Mittel der Entspannungspolitik müssten sich den neuen Verhältnissen anpassen. Aber der Grundgedanke sei immer noch derselbe: „Kooperation statt Konfrontation, Dialog statt Ausgrenzung, vernünftiger Interessenausgleich, gegenseitiger Respekt“. Für Verheugen geht es darum, die Möglichkeiten zur Kooperation offenzuhalten, weil seiner Erfahrung nach gesamteuropäische und kooperative Strukturen möglich seien. „Irgendwann wird der Krieg zu Ende sein und wir müssen einen Weg finden, wie wir dann in Europa zusammenleben.“

In dem vorgestellten Buch sind neben Beiträgen von Politikwissenschaftlern auch zwei Gespräche mit anderen ehemaligen Regierungspolitikern zu finden, mit Willy Wimmer (CDU) und Klaus von Dohnanyi (SPD). Wimmer beschreibt, wie die deutsche Politik endgültig „im Fahrwasser US-amerikanischer Interessen landete. Auf die Frage, ob es eine tragfähige Friedenslösung für die Ukraine geben kann, sagt er, diese sei nicht möglich, wenn die USA an ihren Plänen festhalten, Russland aus Europa zu verdrängen.

„Diese Verdrängung ist eine Voraussetzung dafür, dass die USA ihre Hegemoniepläne umsetzen können“, so der frühere Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium. „Den USA geht es darum, eine gesamteuropäische Zusammenarbeit, die Russland einbezieht, zu verhindern, weil das ihre Pläne durchkreuzen würde.“

Chancen für eine Lösung

Dohnanyi sieht die Ursache des Krieges in und um die Ukraine in der Frage ihrer künftigen geopolitischen Einbindung. Darin sieht er zugleich „Chancen für eine Lösung und für Frieden nicht nur in Europa“. Und erklärt: „Einen Frieden für die Ukraine und für Europa kann es nur mit Russland und nicht gegen Russland geben“. „Allen schnellfüßigen Kritikern der deutschen Russlandpolitik“ der vergangenen Jahrzehnte gibt Dohnanyi ein Zitat Willy Brandts auf den Weg: „Außenpolitik ist Generalstabsarbeit am Frieden.“ Und fügt hinzu: „Vielleicht gibt es ja noch einen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, der Frau Baerbock wenigstens diesen einen Satz mal zum Lesen gibt.“

Dem vorgestellten Buch sind viele Leser zu wünschen. Die erste Auflage, auch wenn sie nicht sonderlich hoch war, sei innerhalb von vier Wochen ausverkauft gewesen, berichtete Mitherausgeber Luft. Die Frage aus dem Publikum, warum junge Menschen das Buch lesen sollten, beantwortete er so: „Junge Leute sollten das Buch lesen, weil man, ohne die Vergangenheit zu kennen, die Zukunft nicht erleben wird“.

Für Mitherausgeberin Kostner ist es wichtig, dass Jüngere, die die Entspannungspolitik nicht kennengelernt haben, die Hintergründe des Krieges besser verstehen können. Es gehe auch darum, zu verstehen, wie Konfrontation und Dynamiken sich aufbauen und wie schwierig es ist, ab einem gewissen Punkt aus diesen Konfrontationen herauszukommen. „Entspannungspolitik ist eine Notwendigkeit, damit man in einer sehr unterschiedlichen Welt, wo es sehr unterschiedliche Interessen gibt, friedlich miteinander koexistieren kann“, fügte sie hinzu.

Titelbild: © Tilo Gräser

Sandra Kostner/Stefan Luft (Hg.): „Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“
Verlag Westend Academics 2023. 352 Seiten; ISBN: 978-3-949925-10-8; 24 Euro