Angesichts der globalen Spannungen ist es an der Zeit, die Illusion der geopolitischen Allianzen zu durchschauen. Als mich der Spiegel kürzlich fragte, ob das neue «Bündnis Sahra Wagenknecht» den Austritt aus der NATO wolle, antwortete ich: «Wir brauchen eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik, keine bedingungslose Gefolgschaft gegenüber den USA. Ein Verteidigungsbündnis ist immer defensiv. Eine Weltmacht, die in den letzten Jahren mehrere Länder völkerrechtswidrig angegriffen hat und China und Russland mit zahllosen Militärstationen und Raketen einkreist, kann kein Verteidigungsbündnis führen.» Vielleicht wäre es besser gewesen, die Fragesteller darauf hinzuweisen, dass die USA längst aus der NATO ausgetreten sind. In Art. 1 des NATO-Vertrags heißt es: «Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Weg so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.» Von Oskar Lafontaine.
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Strategischer Dilettantismus der USA
Aus dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis haben die USA in den zurückliegenden Jahrzehnten ein Militärbündnis gemacht, das zur Durchsetzung der geostrategischen Ziele der Vereinigten Staaten eingesetzt wird und jederzeit bereit ist, Gewalt anzudrohen oder anzuwenden, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.
Daher fragte Peter Scholl-Latour in seinem Buch «Russland im Zangengriff» schon 2007: «Ist es für die Europäische Union, ist es für Deutschland noch sinnvoll, der fragwürdigen Direktion der Nato untergeordnet zu bleiben und deren weltweite Strategie durch wahllose Einsätze – out of area – zu unterstützen, die von Washington vorgegeben werden und mit den eigenen Interessen nichts zu tun haben?» Und er gab eine unmissverständliche Antwort: «Der alte Kontinent kann es sich auf Dauer nicht leisten, dass ein unverzeihlicher strategischer Dilettantismus, eine Hybris sondergleichen, die tödlichen Gefahren, die es zu bannen gilt, zusätzlich anheizt und aufputscht.»
Der strategische Dilettantismus der USA, die Hybris, ein Land, das 4 Prozent der Erdbevölkerung beherbergt, könne die ganze Welt beherrschen, führte auch zum Krieg in der Ukraine.
Hören wir noch einmal Peter Scholl-Latour: «In München, im Frühjahr 2007, schlug Wladimir Putin mit der Faust auf den Tisch und nannte die Dinge beim Namen. Hatten Amerikaner und Deutsche denn wirklich geglaubt, der russische Präsident, der durch die harte Schule des KGB gegangen ist, werde passiv zuschauen, wie Washington und Brüssel eine politische Einkreisung und Isolierung seines Landes betrieben, und diese gefügig hinnehmen? Die US-Militärbasen in Zentralasien, im Kaukasus, in Polen und auf dem Balkan führen aus Sicht des Kremls eine deutliche Sprache.»
Und wie nach den dilettantischen US-Kriegen in Afghanistan, im Irak, in Syrien und in Libyen dürfen die Europäer durch die Flüchtlingsaufnahme und den zukünftigen Wiederaufbau in der Ukraine für die Folgen aufkommen. Zwar ist meine Prognose, die amerikanische Rüstungsindustrie werde schon dafür sorgen, dass der US-Kongress die 61 Milliarden Dollar für die Ukraine freigibt, eingetroffen, aber es ist von Darlehen die Rede – und dreimal darf man raten, wer für die an die Ukraine gegebenen Darlehen letztlich aufkommen muss. Von einer Entscheidung, «die uns das Leben rettet», sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, von einem «Tag der Zuversicht» die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Vielleicht ist das politische Überleben Selenskyjs für die nächste Zeit gerettet. Aber Ukrainer und Russen sterben täglich in diesem mörderischen Krieg, und angesichts dieses Desasters kann nur jemand Zuversicht empfinden, der mit Blindheit geschlagen ist.
Derweil wird in den westlichen Propagandamedien weiter für den Krieg getrommelt. Julija Nawalnaja, die Witwe des verstorbenen russischen Oppositionellen Alexei Nawalny, der die Georgier als Nagetiere bezeichnete und forderte, deren Hauptstadt Tiflis mit Cruise Missiles zu zerstören – so argumentieren Faschisten –, schließt nicht aus, dass Putin irgendwann Atomwaffen einsetzen könnte. Sie bedauert, dass Europa die von Russland ausgehenden Gefahren nicht schon viel früher erkannt habe, und wurde für ihren Kampf gegen Putin mit dem «Freiheitspreis der Medien» geehrt, der beim Ludwig-Erhard-Gipfel vor Spitzenvertretern aus Politik und Wirtschaft verliehen wird. Das erinnert an den «Friedenspreis des Deutschen Buchhandels», der 2022 dem ukrainischen Faschisten Serhij Zhadan verliehen wurde, der in den Russen Tiere und Unrat sieht und ihnen nachruft: «Brennt in der Hölle, ihr Schweine.»
Was wirklich hilft
Mittlerweile hat die Kriegspropaganda ein neues Thema entdeckt: Die Russen haben in Europa Spione. Auch Sabotageakte sind ihnen zuzutrauen. Wie anders ist doch der Westen. Der hat nirgendwo Spione, und wer der CIA Sabotageakte zutraut, ist ein Verschwörungstheoretiker. Die Rufe nach mehr Ukraine-Hilfen reißen nicht ab. Vizekanzler Robert Habeck sagt: «Wenn Putin nicht gestoppt wird, hört er nicht auf.» Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann mahnt: «Wollen wir, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt, sind alle europäischen Staaten aufgerufen, schneller und mehr zu tun.» Sich immer auf die Vereinigten Staaten zu verlassen, sei Europas geostrategischer Lage und moralischem Anspruch «nicht würdig».
Mit Letzterem hat sie recht, nur ganz anders, als sie meint. Europa muss sich selbst behaupten und in der sich bildenden neuen Weltordnung seinen eigenen Platz finden. Und der Ukraine hilft man am besten, wenn man das Morden und die Zerstörung durch einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen beendet.
Titelbild: Jannarong/shutterstock.com