Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Michael O’Flaherty, hat in einem am 19. Juni veröffentlichten Brief an Bundesinnenminister Alexander Dobrindt seine Besorgnis über Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland zum Ausdruck gebracht. Explizit verweist er in dem Schreiben auf die behördliche Repression von Protesten gegen Israels Vorgehen in Gaza sowie eine Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs, „um legitime Kritik, auch am Staat Israel, zu unterdrücken.“ Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund wissen, ob Dobrindt die im Brief genannten Kritikpunkte hinsichtlich der behördlichen Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland teilt, und wenn ja, was er an konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Situation plant. Von Florian Warweg.
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Hintergrund
In besagtem Schreiben an den Bundesminister des Innern, veröffentlicht unter dem Titel „Der Kommissar fordert die deutschen Behörden auf, die Meinungsfreiheit und das Recht auf friedliche Versammlung im Zusammenhang mit dem Konflikt in Gaza zu wahren“, äußert der Menschenrechtskommissar des Europarates, O’Flaherty, unter anderem seine Besorgnis „über Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit von Personen, die im Zusammenhang mit dem Konflikt in Gaza protestieren, sowie über Berichte über übermäßige Gewaltanwendung durch die Polizei gegen Demonstranten, darunter auch Kinder“.
Zudem kommt der Kommissar in dem Brief zu dem Schluss, dass es in Deutschland zu Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit „bei Veranstaltungen, Symbolen oder anderen Ausdrucksformen in diesem Zusammenhang“ kommt. In diesem Rahmen erinnert er Innenminister Dobrindt daran, dass „die Mitgliedstaaten gemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und den Standards des Europarats zu Meinungsfreiheit nur wenig Spielraum haben, um politische Äußerungen oder Debatten über Fragen von öffentlichem Interesse zu beschränken“. Ebenso fordert O’Flaherty die deutschen Behörden „nachdrücklich auf, darauf zu achten, dass die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance nicht verzerrt, instrumentalisiert oder missbraucht wird, um die Meinungsfreiheit und legitime Kritik, auch am Staat Israel, zu unterdrücken“.
Abschließend fordert der Menschenrechtskommissar des Europarates die deutschen Behörden auf, alle Art von Maßnahmen zu vermeiden, „die Personen aufgrund ihrer politischen oder sonstigen Meinungen, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Migrationsstatus diskriminieren“, und betont nochmals die rechtliche Verpflichtung der Bundesregierung, freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung zu gewährleisten:
„Ich bitte Sie daher höflich, die Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung für alle zu gewährleisten und von Maßnahmen abzusehen, die Personen aufgrund ihrer politischen oder sonstigen Meinung, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Migrationsstatus diskriminieren.“
Auf diesen Brief erhielt der Menschenrechtskommissar am 23. Juni eine Antwort aus dem Bundesinnenministerium, gezeichnet jedoch nicht vom Bundesinnenminister, sondern nur von seinem Staatssekretär Bernd Krösser. Dass eine Antwort auf das offizielle Schreiben eines Menschenrechtskommissars des Europarates nicht vom Minister persönlich gezeichnet wird, ist, das haben den NachDenkSeiten mehrere Quellen, die mit protokollarischen Gepflogenheiten vertraut sind, bestätigt, eher unüblich und gilt eigentlich aus diplomatischer Fauxpas.
Die Antwort selbst zeugt von jeglichem Fehlen kritischer Selbstreflexion, sowohl was den behördlichen Umgang mit der Bundesregierung nicht genehmen Protesten als auch der entsprechenden Kritik aus Straßburg angeht:
Kritik des Menschenrechtskommissars an der Bundesregierung ist kein Einzelfall
Die Kritik des Menschenrechtskommissars ist dabei nachweislich keine isolierte Wortmeldung, wie es die Antwort von Dobrindt zumindest indirekt impliziert, ganz im Gegenteil.
So kommt unter dem Titel „Die Bedrohung der Meinungsfreiheit in Deutschland – Eines der freiesten Länder der Welt versetzt seinem eigenen Ruf einen schweren Schlag“ der Economist, eine renommierte britische Wochenzeitung, deren Artikel sich regelmäßig in den Pressemappen des Kanzleramtes finden, in einem am 16. April veröffentlichten Artikel zu dem Schluss, dass die freie Meinungsäußerung in Deutschland „zunehmend in Gefahr“ sei. Belegt wird dies anhand zahlreicher Beispiele (eine deutsche Übersetzung des Artikels ist hier einsehbar).
Auch der aktuelle Bericht von Reporter ohne Grenzen zur Pressefreiheit in Deutschland 2025 spricht von massiver Selbstzensur und strengen Sprachregelungen in den Redaktionen deutscher Leitmedien.
Unter dem Titel „Nahaufnahme Deutschland 2025: Pressefreiheit im Überblick“ berichtet die Nichtregierungsorganisation, die sich nach eigener Darstellung „für Pressefreiheit und gegen Zensur“ einsetzt, dass sich zahlreiche Journalisten in Deutschland an ROG gewandt haben und von einem „stark verengten Meinungskorridor bei der Arbeit berichteten“.
Darüber hinaus ist in dem Bericht, insbesondere in Bezug auf die Nahost-Berichterstattung, „von strengen Sprachregelungen“, „Vorgaben mit dem Ziel …“ sowie „äußerst langwierigen Kontroll- und Aushandlungsprozessen“ die Rede. In Bezug auf die Arbeit von freien Journalisten heißt es abschließend:
„Freie Journalisten berichten, dass angesichts der Unsicherheit in Redaktionen und deren Furcht, von anderen Medien des „israelbezogenen Antisemitismus“ bezichtigt zu werden, diese dazu übergingen, als heikel wahrgenommene Themen auszusparen.“
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 25. Juni 2025
Frage Warweg
Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Michael O’Flaherty, hat in einem am 19. Juni veröffentlichten Brief an Bundesinnenminister Dobrindt seine Besorgnis über eine Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland zum Ausdruck gebracht. Explizit verweist er in dem Brief auf die behördliche Repression von Protesten gegen Israels Vorgehen in Gaza. Mich würde interessieren, ob der Brief des Menschenrechtskommissars Herrn Dobrindt erreicht hat. Wenn ja, plant der Minister, auf die dort genannten Kritikpunkte einzugehen, gerade auch, was die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Deutschland angeht?
Harmsen (BMI)
Der Brief hat ihn erreicht. Ich habe mich hier im Grundsatz auch letzte Woche schon dazu geäußert. Ich kann Ihnen mittlerweile mitteilen, dass das BMI in persona unserer Staatssekretäre diesen Brief beantwortet hat, und die Antwort hat der Menschenrechtskommissar des Europarats, glaube ich, heute Vormittag oder vor Kurzem auch auf seiner Internetseite veröffentlicht. Dort können Sie die finden.
Zusatzfrage Warweg
Der Menschenrechtskommissar des Europarates fordert in dem besagten Brief den deutschen Innenminister dringend auf, darauf zu achten, dass die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken von deutschen Behörden nicht mehr – ich zitiere ganz kurz – verzerrt, instrumentalisiert oder missbräuchlich angewendet wird, um die Meinungsfreiheit und legitime Kritik auch am Staat Israel zu unterdrücken. Da würde mich noch interessieren: Teilt der Minister diese Beobachtung und Sorge des Menschenrechtskommissars denn? Wenn ja, was plant er an konkreten Schritten, um eine weitere missbräuchliche Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus durch deutsche Behörden in Zukunft zu verhindern?
Harmsen (BMI)
Ich muss Ihnen gestehen, dass ich im Detail hinsichtlich dieser Definition nicht auskunftsfähig bin. Das müsste ich nachreichen.
Harmsen (BMI)
Herr Warweg, zu Ihrer Frage in Bezug auf die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance kann ich gerne aus dem Schreiben des Staatssekretärs Bernd Krösser an den Menschenrechtskommissar des Europarats zitieren:
„Zu Ihrer Kritik an der Verwendung der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) für Antisemitismus weise ich darauf hin, dass auch nach dieser Definition die Kritik an Israel bzw. an der israelischen Regierung selbstverständlich möglich und nicht pauschal als antisemitisch anzusehen ist.
Mir liegen keine Erkenntnisse vor, dass deutsche Behörden dies anders sehen oder im Einzelfall die Definition anders nutzen.“
Damit würde ich es auch bewenden lassen.
Zusatz Warweg
Das heißt, das BMI dementiert die Einschätzung des Menschenrechtskommissars, der explizit von Verzerrung, Instrumentalisierung und missbräuchlicher Anwendung dieser Definition durch deutsche Behörden gesprochen hat. Er hat ja nicht gesagt, dass diese Definition schwierig sei, sondern, dass sie instrumentalisiert und verzehrt (sic!) werde, um seiner Meinung nach legitimem Protest gegen Israels Vorgehen in Gaza behördlich zu unterdrücken.
Harmsen (BMI)
Ich finde, das, was ich gerade aus der Antwort vorgelesen habe, ist ja sehr eindeutig.
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