Ist die westliche Strategie in Bezug auf Russland zielführend?

Ist die westliche Strategie in Bezug auf Russland zielführend?

Ist die westliche Strategie in Bezug auf Russland zielführend?

Ein Artikel von Jacques Baud

Für den Krieg in der Ukraine zeichnet sich keine Lösung ab, das Sterben schreitet voran. Obwohl dieser Krieg täglich in den Traditionsmedien präsent ist, bleibt vieles unterbelichtet, denn seine Vorgeschichte wird lediglich unvollständig dargestellt oder sogar ignoriert. Eine zu einfache Schuldzuweisung hat sich etabliert und verringert die Chancen auf eine Verhandlungslösung. Jacques Baud hat für den Schweizer Strategischen Nachrichtendienst, die NATO und die Vereinten Nationen gearbeitet. Mit seinem Buch „Putin – Herr des Geschehens?“ liefert er auf der Grundlage von Dokumenten, die hauptsächlich von den USA, der Ukraine, der russischen Opposition und internationalen Organisationen stammen, einen sachlichen Blick auf die Realität und öffnet die Tür für eine unvoreingenommene Einschätzung des Kriegs in der Ukraine. Für Baud ist es Zeit, zurück zu den Fakten und vor allem zum Dialog zu kommen. Ein Auszug.

Die Europäer sind recht naiv, was die amerikanische Politik angeht. Am 7.3.1992 veröffentlicht die New York Times einen Entwurf der Defense Planning Guidance 1994–1998 des Pentagon, in dem die Strategie der Vereinigten Staaten nach dem Kalten Krieg skizziert wird:

Unser oberstes Ziel besteht darin, das Aufkommen eines neuen Konkurrenten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion oder anderswo zu verhindern, der eine ähnliche Bedrohung, wie einstmals die Sowjetunion, darstellt.
In Bezug auf Europa:
»Wir müssen danach streben, rein europäische Sicherheitsvereinbarungen zu vermeiden, die die NATO schwächen könnten.«

Dieses Dokument sorgt für großes Protestgeschrei, und das Verteidigungsministerium wird sich gezwungen sehen, es in seiner endgültigen Form vom 16.4.1992 abzumildern. Nichtsdestotrotz bleibt es unter dem Namen »Wolfowitz-Doktrin« bekannt und prägt weiterhin die heutige amerikanische Strategie.

Der westliche Diskurs zu Russland ist eindeutig an der amerikanischen Position und Strategie ausgerichtet. Um die amerikanische Strategie verstehen zu können, ist es notwendig, auf die RAND Corporation zu verweisen, eine im Jahr 1948 gegründete amerikanische »Denkwerkstatt« (»Think Tank«), die das Verteidigungsministerium zur atomaren Strategie und zur nationalen Sicherheit beraten soll.

Im Jahr 2019 veröffentlichte die RAND Corporation ein Dokument über die US-Strategie gegenüber Russland, dessen sechs Unterkapitel des Kapitels 4 aussagekräftige Titel tragen:

»Maßnahme 1: Versorgung der Ukraine mit tödlichen Waffen
Maßnahme 2: Verstärkung der Unterstützung für die syrischen Rebellen
Maßnahme 3: Förderung eines Regimewechsels in Weißrussland
Maßnahme 4: Ausnutzung der Spannungen im Südkaukasus
Maßnahme 5: Verringerung des russischen Einflusses in Zentralasien
Maßnahme 6: Infragestellen der russischen Präsenz in Moldawien«

Man erkennt hier alle die Themen wieder, welche die Politik der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union gegenüber Russland in den Jahren 2020–2022 bestimmt haben.

Was die Methode betrifft, wie diese Maßnahmen umgesetzt werden können, so ist sie im Jahr 2019 ebenfalls in einem weiteren Dokument der RAND Corporation ausführlich beschrieben worden. Diese Methode wurde »für die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten« entwickelt und hat zum Ziel, »Russlands Möglichkeiten zu überfordern und es aus dem Gleichgewicht zu bringen«. Es geht darum, Situationen zu schaffen, die zu sozialen und wirtschaftlichen Spannungen führen. Sie sollen Russland ständig in die Defensive drängen, und zwar an mehreren Fronten gleichzeitig, um es im Innern und Äußern zu destabilisieren und politisch zu schwächen.

Das Prinzip dieses Dokuments geht auf die – in Frankreich weit verbreitete – Legende zurück, die UdSSR sei durch ein Überstrapazieren seiner Ressourcen zerfallen. Diese Überstrapazierung sei durch Ronald Reagans Projekt »Krieg der Sterne« hervorgerufen worden.

Unter den Maßnahmen, die die RAND auf wirtschaftlichem Gebiet vorschlägt, finden sich auch Anstrengungen gegen die deutsch-russische Gasleitung wieder. Donald Trump unternahm diese Anstrengungen bis zum Ende seines Mandats, danach wurden sie von einigen Europaabgeordneten aufgegriffen:

  • Ein Ausbau der Energieerzeugung in den Vereinigten Staaten, um die russische Wirtschaft unter Druck zu setzen, sowohl seine öffentlichen Ausgaben als auch, im weiteren Sinne, seine Verteidigungsausgaben. Als ein Nebeneffekt würde so auch das weltweite Energieangebot steigen und der Weltmarktpreis sinken, somit auch die russischen Staatseinnahmen. Außerdem würde dies der amerikanischen Wirtschaft Vorteile bringen und keine multilaterale Zustimmung erfordern.
  • Das Verhängen von schärferen Handels- und Finanzsanktionen, um der russischen Wirtschaft Schaden zuzufügen.
  • Die Erhöhung der Importfähigkeit Europas für Erdgas, das nicht von Russland geliefert wird, um wirtschaftliche Spannungen in Russland zu erzeugen und Europa unabhängig von Russland zu machen.

Wir sind also sehr weit von europäischen Traditionen entfernt. Aber das Konzept der RAND geht noch weiter. Man erkennt dort das Untergraben des russischen politischen Systems: Hier finden sich sowohl die Maßnahmen zur Unterstützung Nawalnys als auch die von der NED finanzierten Projekte wieder (Abbildung 24).

Abbildung 24: Amerikanische Strategie zur Destabilisierung Russlands [Quelle: »Overextending and Unbalancing Russia«, RAND Corporation, 2019 (S. 5)]

Was bei diesem Konzept, das etwa dreißig größere Empfehlungen enthält, ins Auge springt, ist die Tatsache, dass zu keinem Zeitpunkt die Förderung der Menschenrechte oder des Rechtsstaates genannt wird. Dies ist die Bestätigung für eine Beobachtung, die bereits gemacht wurde: Die Affäre Nawalny diente als Instrument zur Unterstützung einer Politik, die nichts mit einer Verbesserung der Lage in Russland zu tun hat, sondern nur den Interessen der Vereinigten Staaten dienen soll.

Im Juni 2018 wird auf einem vom britischen Außenministerium organisierten Treffen, das Unterstützung für Einflussoperationen einwerben soll, das Ziel dieser Operationen klar formuliert: »Das Programm hat zum Ziel, den Einfluss Russlands auf seine Nachbarn zu schwächen«, ohne dass ein einziges Mal der Rechtsstaat oder die Menschenrechte Erwähnung finden.

Im Unterschied zur UdSSR, wo nur 5-9 Prozent der Bevölkerung Kommunisten waren, unterstützen heute 60-65 Prozent der Russen das Handeln Wladimir Putins. Somit war im Kalten Krieg, bei einer Bevölkerung, die das Regime erdulden musste, die Propaganda (das heißt das Anpreisen des Westens) ausreichend für eine erhoffte Destabilisierung der UdSSR. Heute ist die Situation eine ganz andere: So unvollkommen sie auch sein mag, die russische Regierung befindet sich nicht im Widerspruch zu ihrer Bevölkerung. Propaganda ist also kein ausreichender Faktor der Destabilisierung mehr: Es muss desinformiert werden. Deshalb musste der Westen zu diesem Zweck geeignete Strukturen schaffen.

Unilaterale Sanktionen – aber mit einer weltweiten Reichweite, dank der Anwendung des amerikanischen Rechts überall auf der Welt – haben zum Ziel, eine für die örtliche Bevölkerung unerträgliche Lage zu schaffen, um diese zum Aufstand zu treiben. Dieses Prinzip wird von Richard Nephew, dem ehemaligen Sanktionsbeauftragten des Außenministeriums unter Obama und heutigen Iran-Delegierten unter Joe Biden, in einem Buch mit dem Titel »Die Kunst der Sanktionen«, dessen Geist eindeutig als abstoßend bezeichnet werden kann, in aller Deutlichkeit beschrieben.

In demselben Geist erklärt der Europaabgeordnete der französischen Präsidentenpartei La République en Marche (Die Republik auf dem Weg), Bernard Guetta, im Februar 2021 auf dem Sender France 5:

»Das Lebensniveau in Russland sinkt ständig, zum Teil, aber nur zum Teil, wegen der Sanktionen, oder dank der westlichen Sanktionen […]«

Das Lebensniveau in Russland sinkt also »dank« unserer Sanktionen! Auf so etwas kann man stolz sein!

Übrigens arbeiten die französischen Politiker mit der gleichen kriminellen Software. Nachdem Frankreich von einer Junta aus Mali vertrieben wurde, die in ihrem militärischen Ansatz für den Konflikt keine Perspektive sah, reagierte es, indem es Druck auf seine Nachbarn ausübte, um die malische Wirtschaft »abzuwürgen«.

Am 1.3.2022, am Tag nach den ersten Wirtschaftssanktionen gegen Russland und dem zweifelhaften Erfolg des Angriffs auf den Rubel, stellt der Westen fest, dass die russische Wirtschaft widerstandsfähiger ist als angenommen. Und zwar so sehr, dass man sich in Deutschland zu fragen beginnt, ob nicht vorschnell gehandelt wurde. In Frankreich erklärt der Wirtschaftsminister Bruno Le Maire zu Russland:

»Wir werden einen totalen Wirtschafts- und Finanzkrieg gegen Russland führen. […] Aber das russische Volk wird dafür ebenso die Konsequenzen tragen.«

Er wird später schüchtern Abstand von einigen seiner Äußerungen nehmen, aber das Wesentliche bleibt bestehen: Das völlige Fehlen von Moral, politischer Ethik und Ehrgefühl bei unseren Politikern, die unfähig waren, die Krise im Vorhinein zu regeln, und nun versuchen, sich an der Zivilbevölkerung zu rächen.

Das Interessanteste an der von der RAND Corporation entwickelten Strategie war, dass sie die Entscheidungsträger im Weißen Haus im Vorhinein vor den Risiken warnte, die sie für die Ukraine schufen:

»[Eine solche Strategie] könnte die Ukraine, das Prestige und die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten auch erheblich schädigen. Dies könnte zu unverhältnismäßig hohen ukrainischen Verlusten, Territorialverlusten und Flüchtlingsströmen führen. Es könnte die Ukraine sogar in einen ungünstigen Frieden führen.«

Das heißt, als Anthony Blinken, Boris Johnson, Ursula von der Leyen, Bruno Le Maire oder Annalena Baerbock sich entschlossen, die Strategie der RAND Corporation gegen Russland umzusetzen, wussten sie genau, wie groß die Risiken für die Ukraine waren. Für sie ging es nicht darum, der Ukraine zu helfen, sondern Russland niederzuschlagen. Dies zeigt ihren Grad an Perversität und ihre Verachtung sowohl für Russland als auch für die Ukraine.

Inwieweit eine Offensive gegen die Ukraine die bestmögliche Lösung war, ist ein Thema für zukünftige Historiker. Das rechtfertigt aber nicht die Aufgabe unserer Werte und unserer Ehre: Überlassen wir das den anderen!

Jacques Baud: „Putin – Herr des Geschehens?“, aus dem Französischen von Philipp Otte, 320 Seiten, Westend Verlag, 10.7.2023

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