Eiszeit: Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist

Eiszeit: Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist

Eiszeit: Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist

Ein Artikel von Gabriele Krone-Schmalz

Welche Politik sollten wir unter den aktuellen Bedingungen gegenüber Russland verfolgen? Eigentlich müsste über diese Frage offen gestritten werden. Stattdessen werden diejenigen, die Friedensverhandlungen mit Russland fordern, als Putin-Versteher diffamiert und ausgegrenzt. Und das, obwohl es um die wichtigste Frage überhaupt geht: das friedliche Zusammenleben. Gabriele Krone-Schmalz legt eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe ihres Buches Eiszeit vor. Seit Kriegsbeginn 2022 stellt sich für viele nicht mehr die Frage, ob man, wie im Untertitel dieses Buchs, von einer Dämonisierung Russlands reden kann. Denn was kann verbrecherischer sein, als ein Land zu überfallen? Aber stimmt das so? Wer sich mit der jüngeren Geschichte auseinandersetzt, kommt nicht umhin, sich zu fragen, wer hier agiert und wer reagiert. Die NachDenkSeiten präsentieren hier einen Auszug aus dem Buch.

Zurück zum Thema denkbare Ausstiegsstrategien. Wie könnten die aussehen? Für die Krim und die östlichen Gebiete der Ukraine wird es in absehbarer Zeit keine Lösung geben, die sowohl von ukrainischer als auch von russischer Seite akzeptiert werden wird. Beide Seiten haben sich mit Maximalforderungen blockiert. Die Vorstellung, Russland habe sich diese Gebiete rechtswidrig angeeignet, also müsse es sich auch vollständig aus diesen Gebieten zurückziehen, bevor Verhandlungen überhaupt in Betracht kommen, mag nach Gerechtigkeit für die Ukraine klingen, ist aber naiv und unrealistisch. Das wissen auch die Entscheidungsträger in Washington und westlichen europäischen Hauptstädten. Es wird nichts anderes übrig bleiben, als diese territorialen Fragen, so gut es geht, für eine gewisse Zeit auszuklammern und Übergangslösungen zu finden, für die es Beispiele aus der jüngeren Geschichte gibt.

Eine ernst gemeinte Ausstiegsstrategie hat es mit zwei entscheidenden Gegebenheiten zu tun. Zum einen ist der Krieg in der Ukraine keine ausschließlich ukrainisch-russische Angelegenheit, sondern ein weiterer Stellvertreterkrieg zwischen Russland einerseits und dem politischen Westen in Gestalt der NATO beziehungsweise den USA und der EU andererseits. Der brasilianische Präsident Lula da Silva hat sich dazu folgendermaßen geäußert: „Russland trägt die alleinige Verantwortung für den Ausbruch des Krieges, aber mittlerweile sind die USA und Europa verantwortlich für die Förderung eines Stellvertreterkrieges.” Zum anderen: So lange eine der beiden Seiten davon ausgeht, den Krieg militärisch gewinnen zu können – was immer das in der konkreten Ausgestaltung bedeuten mag –, ist die Bereitschaft zu verhandeln gering. Mittlerweile hat der Krieg allerdings eine Phase erreicht, die an Stellungskriege vergangener Zeiten erinnert, verbunden mit dem zynischen Begriff „Abnutzungskrieg”.

Auf dieser Grundlage sind mindestens drei parallele Aktivitäten notwendig, um den Teufelskreis zu durchbrechen: Vermittlung von außen zwischen den beiden direkten Kontrahenten Russland und Ukraine, internationale Zusammenkünfte angelehnt an die Schlussakte von Helsinki 1975 beziehungsweise eine Aufwertung der OSZE und schließlich Abrüstungsverhandlungen, nachdem nahezu sämtliche Errungenschaften der Entspannungspolitik auf diesem Gebiet eliminiert wurden, meist auf Betreiben der USA. Das alles muss jemand initiieren, und es irritiert mich als Europäerin sehr, dass wahrnehmbare Aktivitäten in dieser Hinsicht im Wesentlichen von China, den afrikanischen Staaten und dem sogenannten globalen Süden ausgehen. Es irritiert mich umso mehr, als dieser Krieg in Europa stattfindet und in erster Linie Europa betrifft. Es müsste also im ureigenen Interesse der Europäer liegen, diesen Krieg zu beenden und endlich an einer verlässlichen Sicherheitsarchitektur zu bauen, die augenscheinlich Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wesentlich leichter hätte errichtet werden können als jetzt. Es nützt nichts, dem hinterherzutrauern. Wenn ich allerdings an die Ergebnisse der Politik von Michail Gorbatschow denke, die eine belastbare Grundlage für den Bau eines europäischen Hauses abgegeben hätten, dann habe ich das dringende Bedürfnis, mich bei ihm entschuldigen zu wollen. Es ist sehr schnell in Vergessenheit geraten, wie hoch das Risiko war, das der damalige sowjetische Staatspräsident Gorbatschow für sein Land und nicht zuletzt für seine Familie eingegangen ist, um diese Grundlage zu ermöglichen.

Es ist ja nicht so, als gäbe es keine durchdachten Vorschläge, wie man den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beenden kann. Ende August 2023 ist in Zeitgeschichte im Fokus, einer Schweizer Zeitschrift, ein Artikel erschienen, für den die Professoren Peter Brandt, Hajo Funke und Horst Teltschik sowie General a. D. Harald Kujat verantwortlich zeichnen. Das übergeordnete Motto liest sich so: „Legitime Selbstverteidigung und das Streben nach einem gerechten und dauerhaften Frieden sind kein Widerspruch.” Der ausführliche und mit Quellen belegte Artikel beschreibt, warum keine Seite diesen Krieg militärisch gewinnen kann. Die einzelnen Schritte der Ausstiegsstrategie werden sehr konkret in drei Phasen beschrieben: Waffenstillstand, Friedensverhandlungen, eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung.

„Der Krieg hätte verhindert werden können”, heißt es an einer Stelle, „hätte der Westen einen neutralen Status der Ukraine akzeptiert (wozu Selenskyj anfangs durchaus bereit war), auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichtet und das Minsk-II-Abkommen für Minderheitenrechte der russischsprachigen Bevölkerung durchgesetzt. Der Krieg hätte Anfang April 2022 beendet werden können, hätte der Westen den Abschluss der Istanbul-Verhandlungen zugelassen. Es liegt nun erneut und möglicherweise letztmalig in der Verantwortung des ‚kollektiven Westens’ und insbesondere der USA, den Kurs in Richtung Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu setzen.”

Es wird Zeit, dass auch der Letzte begreift, wie wichtig es ist, den Punkt nicht zu verpassen, an dem es kein Zurück mehr gibt, weil die Dinge eine Eigendynamik entwickeln, die sich politisch nicht mehr einfangen lassen. Angesichts der militärischen Möglichkeiten und der vollgestopften Nukleararsenale kann das nur im Desaster enden. Im Vergleich dazu dürfte sich selbst die drohende Klimakatastrophe wie ein Spaziergang ausnehmen. Die damit verbundenen Probleme haben sich dann nämlich erledigt.

Meines Erachtens haben diejenigen Recht, die sagen, es darf nicht allein der ukrainischen Regierung überlassen werden, darüber zu entscheiden, wie es weitergeht. Denn in der EU wird recht einhellig die Position vertreten, es sei unangemessen, die Ukraine zu Verhandlungen zu drängen, das sei allein die Sache dieses souveränen Staates. Diese nach außen kommunizierte Haltung der EU ignoriert dabei die Rolle der USA. Diese wiederum wird nicht unwesentlich vom beginnenden Wahlkampf bestimmt und ist mit Blick auf das Engagement in der Ukraine alles andere als berechenbar. So oder so – es hängt viel von diesen Entscheidungen ab und es droht eine Situation, in der die Risiken nicht mehr beherrschbar sind. Und noch einmal: Das alles spielt sich in Europa ab, in unmittelbarer Nachbarschaft unseres eigenen Landes. Auch Aussagen wie die folgende von Alfred de Zayas, US-amerikanischer Völkerrechtler und ehemaliger UN-Beamter im Menschenrechtsrat, zuständig für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung, verdienen Gehör: „Sowohl Amerikaner wie auch Europäer haben kein Recht, das Überleben des Planeten wegen einer innereuropäischen Querele aufs Spiel zu setzen. Für den durchschnittlichen Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner ist es völlig unerheblich, ob die Krim zu Russland oder zur Ukraine gehört. Darüber dürfe sich niemals ein Atomkrieg entfachen.”

All die Anstrengungen, die unternommen werden, um funktionierende politische Lösungen zu erarbeiten – meist in den sogenannten Massenmedien nicht zu finden und im Politikbetrieb in der sogenannten Mitte auch nicht – haben natürlich nur eine Chance, wenn der politische Wille da ist. Dazu gehört die Bereitschaft, aus diesem Teufelskreis von Hass und Vergeltung auszubrechen. Danach sieht es im Moment nicht aus. Da empfiehlt sich ein Blick auf andere Länder. Nach Jahrzehnten der Apartheidpolitik in Südafrika, die mit unvorstellbaren Grausamkeiten verbunden war, hat dieses Land mithilfe einer Versöhnungskommission einen Neuanfang geschafft. In Spanien war es ein „Pakt des Vergessens”, um nach den Verbrechen der Franco-Diktatur neu anfangen zu können. Im Februar/März 2020 gab es tatsächlich auch in der Ukraine Diskussionen um eine solche Versöhnungsplattform, in der „Kontinental-Ukrainer” und die Ukrainer im Donbas aufeinander zugehen sollten. Ideengeber war damals ein freiberuflich tätiger Berater des Sekretärs des Nationalrates für die Sicherheit und Verteidigung mit Namen Serhij Sywocho. Diese Initiative wurde allerdings sogleich als prorussisch diffamiert und verhindert.

Ich würde mir wünschen, dass junge Menschen, die mit ihrem Engagement im Kampf gegen den Klimawandel Gesellschaften weltweit aufgerüttelt haben, das Thema Frieden entdecken und sich dafür mit der gleichen Kraft einsetzen. Über die Meinungen, wie man das am besten macht, darf und muss gestritten werden.

Von der allseits anerkannten Publizistin Hannah Arendt stammt die weise Erkenntnis, dass die Pluralität der Meinungen der Motor der Demokratie ist. Dem ist nichts hinzuzufügen.


Gabriele Krone-Schmalz: „Eiszeit: Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“, Frankfurt am Main, Oktober 2023

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