Wo bleibt eigentlich die deutsche Liebe für das Völkerrecht, wenn es um den Gaza-Streifen geht?

Wo bleibt eigentlich die deutsche Liebe für das Völkerrecht, wenn es um den Gaza-Streifen geht?

Wo bleibt eigentlich die deutsche Liebe für das Völkerrecht, wenn es um den Gaza-Streifen geht?

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

„Putins völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ … dieser Terminus hat es mittlerweile zum festen Textbaustein in der deutsche Presselandschaft gebracht. Wäre man naiv, könnte man glatt denken, Deutschlands Vordenker hätten in den letzten anderthalb Jahren ihre Liebe zum Völkerrecht entdeckt. Dass dem nicht so ist, zeigt die aktuelle Berichterstattung zum Krieg in Gaza. Oder haben Sie in den letzten Tagen in deutschen Medien etwas von „Bibis völkerrechtswidriger Blockade“ oder „völkerrechtswidrigen Bombardierungen“ ziviler Einrichtungen in Gaza gehört oder gelesen? Zumindest die deutsche Politik weiß, dass ihr Blick aufs Völkerrecht ein sehr selektiver ist. Daher spricht man ja auch viel lieber von einer „regelbasierten Ordnung“, an die sich die ganze Welt halten solle. Diese „Regeln“ sind jedoch nicht mit dem Völkerrecht gleichzusetzen, sondern werden frei Schnauze vom Westen situationsabhängig ausgelegt und anderen vorgegeben. Das ist Doppelmoral vom Feinsten und offenbar stört dies zumindest hierzulande niemanden. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wenn man über Völkerrecht, Kriegsverbrechen oder die internationale Ordnung spricht, assoziiert man damit oft die Vereinten Nationen, besser bekannt unter dem Kürzel UNO. Es gibt jedoch kaum eine Organisation, über die in Deutschland derart selektiv berichtet wird, wie die UNO. Das liegt vor allem daran, dass die Vereinten Nationen eine mehr oder weniger demokratische Struktur haben, in der – wenn man mal den UN-Sicherheitsrat herauslässt – jeder Staat eine Stimme hat. Und eine Veranstaltung, bei der die Supermacht USA die gleiche Stimme wie – sagen wir – der pazifische Zwergstaat Vanuatu hat, muss natürlich jenen suspekt sein, die sich eine Weltordnung wünschen, in der die USA die Regeln bestimmen.

So ist es auch kein Zufall, dass hierzulande in der letzten Woche, wenn überhaupt, nur im Kleingedruckten berichtet wurde, was die UN zur eskalierenden Gewalt in Nahost gesagt hat.

„Es gibt bereits eindeutige Beweise dafür, dass bei der jüngsten Explosion der Gewalt in Israel und im Gazastreifen möglicherweise Kriegsverbrechen begangen wurden. Alle, die gegen das Völkerrecht verstoßen und Zivilisten ins Visier genommen haben, müssen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, so die unabhängige internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete, einschließlich Ostjerusalem und Israel, heute.

Die Kommission sammelt und bewahrt Beweise für Kriegsverbrechen, die von allen Seiten seit dem 7. Oktober 2023 begangen wurden, als die Hamas einen komplexen Angriff auf Israel startete und die israelischen Streitkräfte mit Luftangriffen im Gazastreifen antworteten.

Berichte, wonach bewaffnete Gruppen aus dem Gazastreifen Hunderte von unbewaffneten Zivilisten erschossen haben, sind abscheulich und können nicht toleriert werden. Die Entführung von Zivilisten als Geiseln und der Einsatz von Zivilisten als menschliche Schutzschilde sind Kriegsverbrechen.

Die Kommission ist zutiefst besorgt über den jüngsten Angriff Israels auf den Gazastreifen und die von Israel angekündigte vollständige Belagerung des Gazastreifens, die die Vorenthaltung von Wasser, Lebensmitteln, Strom und Treibstoff beinhaltet, was zweifellos das Leben von Zivilisten kosten wird und eine kollektive Bestrafung darstellt.

Die Kommission ist bestrebt, die juristische Rechenschaftspflicht sicherzustellen, einschließlich der individuellen strafrechtlichen Verantwortung und der Verantwortung des Kommandos. Zu diesem Zweck hat sich die Kommission verpflichtet, die aktuellen Ereignisse zu untersuchen und die Verantwortlichen für die Verstöße gegen das Völkerrecht auf allen Seiten zu ermitteln, und zwar sowohl diejenigen, die direkt internationale Verbrechen begangen haben, als auch diejenigen, die die Befehlsgewalt innehatten. Sie wird die gesammelten Informationen weiterhin mit den zuständigen Justizbehörden austauschen, insbesondere mit dem Internationalen Strafgerichtshof, wo die Anklagebehörde bereits eine Untersuchung zur Lage in Palästina seit 2021 eingeleitet hat.

Die Kommission ist zutiefst beunruhigt über die zunehmende Gewalt und die steigende Zahl der Todesopfer und unterstreicht die Dringlichkeit für die beteiligten Parteien, alle Formen der Gewalt einzustellen und den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten.

Die Kommission fordert die israelischen Sicherheitskräfte und die bewaffneten palästinensischen Gruppen auf, sich strikt an das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen zu halten.

Die Kommission fordert außerdem die bedingungslose und sichere Freilassung aller Personen, die von bewaffneten palästinensischen Gruppen als Geiseln genommen wurden. Die Geiselnahme ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht und stellt ein internationales Verbrechen dar. Personen, denen die Freiheit entzogen ist, sind vor Mord, Folter, grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und sexueller Gewalt zu schützen.

Im Einklang mit ihren früheren Feststellungen betont die Kommission, dass der einzige Weg zur Beendigung der Gewalt und zur Erreichung eines dauerhaften Friedens darin besteht, die eigentlichen Ursachen des Konflikts anzugehen, einschließlich der Beendigung der illegalen Besetzung palästinensischer Gebiete und der Anerkennung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung.

Quelle: Sonderbericht der Ständigen Faktfindungsmission der Vereinten Nationen zum Israel-Palästina-Konflikt vom 10. Oktober

Die Ständige Faktfindungskommission ist ein Organ der UN, das 2021 vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen gegründet wurde, um mögliche Kriegsverbrechen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten zu untersuchen. Geleitet wird die Kommission von der südafrikanischen Völkerrechtsexpertin Navi Pillay, die zuvor Richterin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und später Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte war. Ihr stehen der Inder Miloon Kothari und der Australier Chris Sidoti – beide sind ehemalige Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen – zur Seite. Seit der Gründung der Kommission wird diese von Israel und den USA mit aller Härte bekämpft und bereits im Februar 2022 weigerte sich Israel offiziell, mit der Kommission zusammenzuarbeiten. Den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der bereits 2021 Untersuchungen gegen alle Beteiligten am Palästinakonflikt eingeleitet hat, erkennen Israel und die USA übrigens auch nicht an.

Erst gestern legte die Kommission ihren Zwischenbericht zu den Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen vor, der den Zeitraum von Mai 2021 bis August 2023 umfasst, also kurz vor der jüngsten Eskalation. „Unser Bericht ist schmerzhaft und kommt zur rechten Zeit”, so Navi Pillay, die Vorsitzende der Kommission. „Er unterstreicht, dass der einzige Weg zur Beendigung der Gewalt und zur Erreichung eines nachhaltigen Friedens in der strikten Einhaltung des Völkerrechts in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel besteht. Dies setzt voraus, dass die eigentlichen Ursachen des Konflikts, einschließlich der Besetzung der palästinensischen Gebiete, angegangen werden und die Palästinenser ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen können”.

Der Bericht verurteilt den Abschuss von Raketen und Mörsern durch die Hamas als klare Kriegsverbrechen. Im Bericht wird aber auch festgestellt, dass die durch die israelischen Angriffe verursachten Schäden und Opfer nicht in einem angemessenen Verhältnis zum militärischen Vorteil stehen, sodass auch diese Handlungen ein Kriegsverbrechen darstellen. Darüber hinaus stellt die Kommission fest, dass die Verhinderung der Einfuhr von Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern in den Gazastreifen eine Verletzung des humanitären Völkerrechts darstellt. Der Bericht nennt auch noch weitere Kriegsverbrechen und Verstöße gegen internationale Menschenrechte durch den Staat Israel.

Seit dieser Woche setzt sich die Reihe der Kriegsverbrechen durch den Staat Israel fort. Sogar die nicht gerade als israelfeindlich bekannte Washington Post kommt zu dem klaren Urteil, dass Israels Ankündigung einer vollständigen Belagerung des Gazastreifens, die die Vorenthaltung von Wasser, Lebensmitteln, Elektrizität und Treibstoff beinhaltet, die zweifellos das Leben von Zivilisten kosten wird, eine kollektive Bestrafung darstellt, die nach Artikel 33 der Vierten Genfer Konvention verboten ist. Dort heißt es: „Keine geschützte Person darf für eine Straftat bestraft werden, die sie nicht selbst begangen hat. Kollektivstrafen und ebenso alle Maßnahmen der Einschüchterung oder des Terrorismus sind verboten.“

Auch Israels Flugblätter, in denen die Bevölkerung des nördlichen Gaza-Streifens seit dem Wochenende aufgefordert wird, das Gebiet zu räumen, bewertet die Washington Post kritisch und zitiert dabei Clive Baldwin, den leitenden Rechtsberater von Human Rights Watch. „Eine Million Menschen in Gaza zur Evakuierung aufzufordern, wenn es keinen sicheren Ort gibt, ist keine wirksame Warnung. Die Straßen liegen in Schutt und Asche, der Treibstoff ist knapp und das wichtigste Krankenhaus liegt in der Evakuierungszone. Dieser Befehl ändert nichts an Israels Verpflichtung, bei Militäroperationen niemals Zivilisten ins Visier zu nehmen und alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um deren Schaden zu minimieren.”

Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung kommt übrigens der deutsche Völkerrechtler Norman Paech, der diese Warnungen in einem Interview mit der Jungen Welt als „totale Verhöhnung des Völkerrechts“ bezeichnet.

Die UN und Human Rights Watch … ginge es nicht um israelische, sondern beispielsweise um russische Kriegsverbrechen, so wäre ihnen eine ausführliche Erwähnung in den großen deutschen Medien sicher. Doch wenn es um Israel geht, herrscht dröhnendes Schweigen. Kriegsverbrechen sind offenbar nur Kriegsverbrechen, wenn sie von „unseren Feinden“ begangen werden. Menschenrechte sind nur dann wichtig, wenn sie in die eigene außenpolitische Agenda passen. Doppelte Standards – man kennt es.

Da ist es doch bequemer, man schafft sich mit dem rhetorischen Konstrukt der „regelbasierten Ordnung“ eine verlässlichere Alternative. So kann man wenigstens selbst bestimmen, wie man diese „Ordnung“ und deren Regeln definiert und wer gegen sie verstößt. Es kann ja nicht angehen, dass über solche Fragen ein Organ wie die Vereinten Nationen mitredet, in denen auch Länder eine Stimme haben, die nicht zu unserer westlichen Wertegemeinschaft gehören und damit per se verdächtig sind, unsere „regelbasierte Ordnung“ nicht anzuerkennen. Und die Sache mit dem Völkerrecht? Die vergessen wir lieber wieder schnell und kramen sie erst dann wieder hervor, wenn man sie gegen Russland, China, Iran oder sonstige Bösewichte instrumentalisieren kann.

Titelbild: rafapress/shutterstock.com

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!