Wenn die Aufklärung zur Gegenaufklärung wird

Wenn die Aufklärung zur Gegenaufklärung wird

Wenn die Aufklärung zur Gegenaufklärung wird

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

Die Wissenschaft war einmal der Motor der Aufklärung, einer geistigen Bewegung, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Europa entstand. Die Forderung der Aufklärung: Vernunft und Rationalität sollten die entscheidenden Maßstäbe sein. Nur das, was rational begründet und bewiesen werden könne, das solle maßgeblich sein. „Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ So brachte der Königsberger Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant dieses Programm auf den Punkt. Und das bedeutete: Der Kern der Wissenschaft ist der Streit darüber, welche Theorien, Erkenntnisse oder Vorgehensweisen (zum Beispiel in der Medizin) richtig sind und welche nicht. Das ist vorbei, meint unser Autor Udo Brandes. Die Wissenschaft ähnele immer mehr Kirchen: Das Denken und Streiten würden zunehmend durch Glauben und Dogmen ersetzt.

Was Wissenschaft im Idealfall sein sollte und vielleicht einmal war, das beschreibt der belgische Psychologe Mattias Desmet in seinem Buch „Die Psychologie des Totalitarismus“ (siehe dazu die Rezension auf den NachDenkSeiten hier) wie folgt:

„Wissenschaft ist dem Wesen nach Offenheit des Geistes. Die ursprüngliche wissenschaftliche Praxis, die Erfahrung, die die Grundlage der Aufklärungstradition bildete, setzte alle Vorurteile in Bezug auf die zu untersuchenden Phänomene erst einmal außer Kraft. Sie war offen für die größtmögliche Diversität von Ideen und Gedanken, Annahmen und Hypothesen. Sie kultivierte den Zweifel und erhob Unsicherheit zur Tugend.“ (S. 23)

Konnte man in den Debatten während der Coronakrise von diesem Geist etwas bemerken? Das wird man wohl kaum behaupten können. Zweifler an der Sicherheit der mRNA-Injektionen, auch wenn sie vom Fach waren, wurden als Verschwörungstheoretiker, Spinner und Fake-News-Verbreiter etc. etikettiert. Hier ein Beispiel aus dem Spiegel über den Internisten und SPD-Politiker Wolfgang Wodarg, welches sehr gut die autoritäre, obrigkeitshörige Haltung vieler Medien in der Coronakrise veranschaulicht:

„Wodarg fordert, es sollten mehr abseitige und weniger ‚Mainstream‘-Meinungen zum Coronavirus gehört werden. Das wäre wohl in seinem Sinne, aber nicht im Sinne einer guten Berichterstattung. Wenn abwegige Einzelmeinungen anerkannten Fakten scheinbar gleichberechtigt gegenübergestellt werden, entsteht ein falscher Eindruck – eine sogenannte false balance oder falsche Gewichtung. Sie zu vermeiden, ist gerade in Krisenzeiten wichtig. Es wäre für alle gefährlich, wenn die breite Masse Wodargs Ausführungen Glauben schenken und leichtfertig Schutzmaßnahmen ablegen würde. Auch, wenn sich über die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen immer streiten lässt und Chancen und Risiken genau abgewogen werden müssen.“
(Quelle: spiegel.de)

Mit anderen Worten: Die Bevölkerung ist dumm und darf sich nicht durch eigenständiges Denken eine eigene Meinung über den Sinn oder Unsinn der Coronamaßnahmen bilden. Diese Haltung der Herablassung („die breite Masse“, zu der natürlich nicht die ehrwürdigen Spiegel-Redakteure gehören) nannte der französische Soziologe Pierre Bourdieu den „Rassismus der Bourgeoisie“ – eine Einstellung, die von einem elitären, antidemokratischen Geist und einem übergriffigen Paternalismus zeugt.

„Anerkannte Fakten“ stellten sich schon oft als Unsinn heraus

Es stellt sich aber noch eine Frage: Wer entscheidet denn, was wahr oder richtig ist und was nicht? Da dürfte doch in der Wissenschaft eigentlich nur das bessere Argument zählen. Wo aber soll das herkommen, wenn alternative Theorien in der Diskussion nicht zugelassen werden?

In diesem Zusammenhang auch noch ein Hinweis auf die im Spiegel-Zitat erwähnten „anerkannten Fakten“. Es gab in der Wissenschaft schon oft „anerkannte Fakten“, die sich später als Unsinn herausstellten. Ein Beispiel wäre der Fall des Arztes Ignaz Semmelweis, den man den „Retter der Mütter“ nannte. Er erkannte, dass das früher häufig bei Frauen nach einer Geburt auftretende und oft tödlich ausgehende Kindbettfieber mit Hygienemängeln zusammenhing. Wikipedia schreibt dazu Folgendes:

„Semmelweis führte das häufigere Auftreten von Kindbettfieber in öffentlichen Kliniken im Vergleich zur privaten Entbindung auf mangelnde Hygiene bei Ärzten und Krankenhauspersonal zurück und bemühte sich, Hygienevorschriften einzuführen. Später wurde er „Retter der Mütter“ genannt. Seine Studie von 1847/48 gilt heute als erster praktischer Fall von evidenzbasierter Medizin (auf empirische Belege gestützte Heilkunde) in Österreich und als Musterbeispiel für eine methodisch korrekte Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen. Zu seinen Lebzeiten wurden seine Erkenntnisse, von ihm 1861 publiziert, nicht anerkannt und von Kollegen als ‚spekulativer Unfug‘ abgelehnt. Nur wenige Ärzte unterstützten ihn, da Hygiene als Zeitverschwendung und unvereinbar mit den damals geltenden Theorien über Krankheitsursachen angesehen wurde.“

Was schon Arthur Schopenhauer wusste

In Bezug auf die sich in unserer Gesellschaft schon vor Corona ausbreitende totalitäre Cancel Culture möchte ich noch eines hervorheben: Die Cancel Culture hat mit argumentativer Substanzlosigkeit auf Seiten ihrer Anhänger zu tun. Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat in seinem Buch „Die Kunst, Recht zu behalten. In achtunddreißig Kunstgriffen dargestellt“ diese rhetorische Methode beschrieben:

„Wenn man merkt, dass der Gegner überlegen ist und man Unrecht behalten wird, so werde man persönlich, beleidigend, grob. Das Persönlichwerden besteht darin, dass man von dem Gegenstand des Streites (weil man da verlorenes Spiel hat) abgeht auf den Streitenden und seine Person irgendwie angreift: (…) man wird also kränkend, hämisch, beleidigend, grob. (…) Diese Regel ist sehr beliebt, weil jeder zur Ausführung tauglich ist, und wird daher häufig angewandt.“ (Regel Nr. 38 im genannten Werk)

Wissenschaft ist also heute in der Gefahr, dass aus ihr, der ursprünglichen emanzipativen Aufklärungsbewegung, eine antiaufklärerische Bewegung wird. Der zu Anfang schon genannte belgische Psychologe Mattias Desmet beschreibt dies in seinem Buch „Die Psychologie des Totalitarismus“ wie folgt:

„Bei ihrer Geburt war Wissenschaft gleichbedeutend gewesen mit der Offenheit des Geistes, einer Denkweise, die alle Dogmen über Bord warf und alle Überzeugungen infrage stellte. Doch je mehr sie heranwuchs, desto mehr verkehrte sie sich in Ideologie, Überzeugung und Vorurteil. So machte die Wissenschaft eine Transformation durch, die jeder Diskurs durchmacht, wenn er dominant wird. Ursprünglich war sie ein Diskurs gewesen, mit der eine Minderheit einer Mehrheit die Stirn geboten hatte; jetzt wurde sie selbst zum Diskurs der Mehrheit. Damit eignete sie sich nun auch für Zwecke, die den ursprünglichen Zwecken entgegenstanden.“ (S. 28)

Desmet nennt als Beispiele Karriere machen, manipulieren, Produkte verkaufen, herabwürdigen, stigmatisieren oder sogar Menschen ausschließen und absondern. Er kommt zu diesem Fazit:

„Kurzum: Der wissenschaftliche Diskurs wurde, genau wie jeder dominante Diskurs, zum privilegierten Instrument von Opportunismus, Lügen, Betrug, Manipulation und Macht.“ (S. 28)

Ist das womöglich ein übertrieben negatives Bild von Wissenschaft? Wenn man sich die Fakten anschaut, wohl eher nicht. Der österreichische Standard berichtete am 3. März 2023 unter der Überschrift „Wenn Forscher fälschen“ Folgendes:

„Jährlich werden in Fachjournalen tausende medizinische Studien publiziert, die frei erfunden sind. Millionen Patienten werden so geschädigt, die Aufklärung ist oft schwierig.“
(Quelle: derstandard.at)

Eines der Beispiele, die der Standard aufführt, ist die medikamentöse Behandlung von Herzpatienten vor Operationen:

„Ein anderer Fall ist die standardmäßige Verabreichung von Betablockern vor Operationen bei Herzpatienten. Grundlage war eine Studie von 2009, die sich als teils gefälscht herausstellte. Schätzungen gehen davon aus, dass diese Praxis tausende Todesfälle verursachte.“

Mattias Desmet kommt zu dem Schluss, dass auch wissenschaftliche Aussagen weit entfernt davon seien, objektiv zustande zu kommen bzw. zu sein. Vielmehr würden auch Wissenschaftler regelmäßig Opfer ihrer eigenen Vorurteile, Überzeugungen und Ideologien. Dies sei der sogenannte Allegiance-Effekt, was konkret heißt: Forscher verhalten sich loyal zu ihrer Theorie. So seien zum Beispiel Psychoanalytiker überzeugt, dass die Psychoanalyse die beste Therapieform sei, und die Verhaltenstherapeuten glaubten dasselbe von ihrem Therapieansatz. Der Einfluss der Subjektivität bei der Konstruktion und Interpretation von Zahlen sei so stark, dass auch Wissenschaftler, deren Beruf doch die Objektivität sei, dieser zum Opfer fielen – und zwar ohne dass es ihnen bewusst sei.

Wie ist das praktisch möglich?

Aber wie ist das möglich, dass Forscher sich selbst zum Opfer fallen? Desmet meint, weil in jedem Untersuchungsverfahren zahllose Entscheidungen getroffen werden müssen, für die es keine logischen Gründe gebe. (Welches Messinstrument verwende ich? Auf welche Weise interpretiere ich die Messungen? Wie gehe ich mit fehlenden Daten um? usw.) Und in diesem Wald von Möglichkeiten würden Wissenschaftler offenbar unbewusst Optionen wählen, die dafür sorgen, dass die Studie Ergebnisse bringe, die ihnen wünschenswert erscheinen. Sein Fazit:

„Der fanatische Glaube an die Objektivität von Messungen und Zahlen, der charakteristisch ist für die mechanistische Ideologie, ist nicht nur unbegründet, sondern er ist auch gefährlich. Es entsteht eine Art wechselseitige Verstärkung zwischen subjektiven Vorurteilen und Zahlen: Je stärker die Vorurteile, desto mehr selektiert man die Zahlen, die die Vorurteile bestätigen. Und je mehr die Zahlen die Vorurteile bestätigen, desto stärker werden wiederum die Vorurteile. Auf die Coronakrise angewandt: Eine von Angst und Unbehagen durchdrungene Gesellschaft wählt aus dem Meer von Zahlen genau jene, die ihre Angst bestätigen, und diese Zahlen verstärken wiederum die Angst.“ (S. 85)

Welche Schlussfolgerungen sollte man aus all dem ziehen?

Wir dürfen Wissenschaft nicht zu einer quasi religiösen Autorität erheben und aus Wissenschaft eine Kirche machen, die wie zu Zeiten der Inquisition unumstößliche Dogmen verkündet. Stattdessen sollten wir der Wissenschaft mit der gleichen kritischen Grundhaltung begegnen, wie wir es auch bei Aussagen von Politikern, Medien, Lobbyisten, Bankern usw. tun würden – und Empfehlungen von Wissenschaftlern an die Politik nur dann Glauben schenken, wenn sie wirklich fundiert begründet sind. Aber vor allen Dingen sollten wir darauf bestehen, dass in wissenschaftlichen und politischen Debatten alle Stimmen gehört werden und nicht wie zu Zeiten der Inquisition nur die zugelassen werden, die den bestehenden Glauben stärken und nicht infrage stellen. Denn eine offene, demokratische Gesellschaft braucht den Streit und darf nur diejenigen ausschließen, die die Grundlagen der offenen, demokratischen Gesellschaft infrage stellen und nur einen Glauben, einen Lebensstil, eine bestimmte Werteausrichtung zulassen wollen.

Titelbild: Thomas Mucha/shutterstock.com

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